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Verbannungs-/ Lagerhaft-Bericht von Martha Christoforowna Filippowa

Geboren 1922 im Gebiet Odessa, in dem Dorf Manucho, als Tochter eines gewöhnlichen Kolchosbauern.

Die Großeltern unterhielten eine Manufaktur und waren sehr reiche Leute. M. Cs Vorfahren waren aus Deutschland in die Ukraine gekommen, wo sie sich irgendwann einlebten. M.Cs Familie wurde nicht nur einmal von politischen Repressionen durch den Staat heimgesucht. Der Großvater wurde 1931 entkulakisiert. Alles nahmen sie aus dem Haus mit, sogar die Haarnadeln und den Kamm der Schwester. Soweit M.C. sich erinnern kann, kamen sie nachts und ohne Vorwarnung, um die Enteignungsaktion durchzuführen. Auch die vier Söhne des Großvaters wurden verhaftet und abtransportiert, ungeachtet der Tatsache, daß einer von ihnen an Epilepsie litt. Von den Brüdern kehrte lediglich M.Cs Vater nach Hause zurück. Die anderen wurden in die rauheste Stadt Sibiriens verschleppt – nach Norilsk, und über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Nach 33 Jahren begannen sie buchstäblich wieder ein neues Leben. Die Repressionswelle des Jahres 1937 berührte ihre Familie zum Glück nicht.

Obwohl sie nur 5 Schulklassen besuchte, konnte sie drei Sprachen: Deutsch, Ukrainisch und Russisch. Sie hatten eine gesunde Hofwirtschaft. M.C. kann sich daran erinnern, daß sie neun Kühe, Weinberge, eine Dreschmaschine, eine große Menge Mais- und Sonnenblumensaat sowie ein Melonenfeld besaßen.. Und vor dem Krieg hatte der Vater sogar noch einen Weinberg angelegt. Ohne die fünfte Schulklasse beendet zu haben, war M. C. nun gezwungen, den Eltern bei der Arbeit auf den Feldern zu helfen. Volle Kornkästen und gut gefüllte Weinkeller, Wohlstand in der Familie – das ist das Resultat der von den Erwachsenen und den Kindern dieser Familie geleisteten Arbeit.

M.C. erinnert sich noch an den zweiten Kriegstag: sie lebte und arbeitete im Bezirkszentrum, der Stadt Groslow (Gryslow). Von einem jähen Luftzug, einer Detonation, klirrten plötzlich die Scheiben, Türen gingen von allein auf, und dann, gegen zehn Uhr morgens, brachten sie vier tote Flieger. Und um 12 oder 13 Uhr herum kam das Volk herbeigeströmt, um sie zu sehen.

Der 9. Mai 1945 war ein klarer, sonniger Tag; die Truppen marschierten, die Sirenen heulten, alles war am Kochen und Brodeln. Zu dieser Zeit befand M.C. sich in Deutschland und arbeitete dort bei einer „Frau“. Ende 1944 / Anfang 1945 hatten sie sie gewaltsam nach Deutschland abtransportiert. Die Frau besaß eine sehr lange Scheune, an der zwei Reihen Kühe standen. Sie und die anderen Mädchen arbeiteten bei der Gemüseernte und zogen unter strenger Aufsicht Futterrüben. Und wenn sie nur einen Augenblick stehenblieben oder langsamer wurden – schon gab es einen Hieb mit der Peitsche. Obwohl sie so viele Kühe hatte, gab die Frau ihnen bloß einen halben Liter entrahmter Milch; ihre Unterkunft befand sich auf dem Dachboden, bezahlt wurden sie für ihre Arbeit nicht. „Ich verstehe überhaupt nicht, wieso wir nicht vor Hunger gestorben sind“, - wunderte sich M. C. Da der Frontstreifen ganz in der Nähe verlief, schlugen mehrfach Geschosse ins Dach ein. Es war schrecklich unheimlich. In Deutschland lebten sie ungefähr zwei jahre.

M.C. verhält sich äußerst skeptisch gegenüber ihrer Nationalität. Sie hält sich für eine Russin, weil sie in Rußland aufgewachsen ist. Und die „echten“ Deutschen verhielten sich ihnen gegenüber schlecht, nannten sie „Russenschweine“, und als M.C. gefragt wird, ob sie nicht nach Deutschland will, wo ihre Geschwister leben, lehnt sie das entschieden ab. Ich habe Kinder, Enkel. Und in dieses Deutschland will ich nicht, dort habe ich damals lange genug gelebt“. Sie sollten alle zusammen bis nach Deutschland verschleppt werden, aber ihre Mutter und deren anderen Töchter wurden dann in Polen zurückgelassen; nur sie und ihre Freundin Walja Kurz wurden nach Deutschland weitergeschickt. Nach der Befreiung Polens durch sowjetische Truppen, wurden Mutter und Schwestern erneut Opfer von Repressionen, in deren Verlauf man sie nach Karaganda in Mittel-Asien deportierte.

Als wir gefragt wurden, wer nach Hause möchte, zeigten sich viele vor lauter Freude sogleich einverstanden. Man ließ uns auf Lastkraftwagen steigen und brachte uns nach Bulgarien, aber ganz genau weiß sie das nicht mehr. Jedenfalls lebten sie dort etwa einen Monat. Wahrscheinlich wurden in der Zeit alle möglichen Dokumente ausgestellt. Sie hatten schrecklichen Hunger. Nachts durchwühlten sie in aller Heimlichkeit die Felder auf der Suche nach liegen gebliebenen Kartoffeln. Nach Hause, in die Heimat, transportierte man sie in Viehwaggons. Unter unmenschlichen Bedingungen. In einem Waggon waren sowohl Männer, als auch Frauen und Kinder untergebracht. Der Zug hielt nur sehr selten, und ihre Notdurft mußten sie vor aller Augen entrichten – in einen Eimer. M.C. kann sich noch daran erinnern, wie eine Frau unterwegs ein Kind bekam, mitten im Waggon. Sie schliefen ungeordnet nebeneinander direkt auf dem Boden. Irgendwie sieht sie in ihrer Erinnerung auch noch einen Hering – solche Fische waren damals Bestandteil ihrer Verpflegung. Frauen hatten es besonders schwer. M.C. weiß noch, wie sie einmal in der kasachischen Steppe übernachten mußten, und genau dort, in einem Schafstall, bekam eine andere Frau auch ein Kind. M.C. hat noch heute ihren durchdringenden Schrei im Ohr – das Flehen um Hilfe und Mitleid. Anfang Oktober brachte man sie nach Krasnojarsk, und Oktober in Sibirien – das bedeutet Schnee und Frost, ein Klima, das die Südländer nicht kannten. Und genau so erging es auch M.C. Man transportierte sie nach Krasnojarsk, zur Bahnstation, und schickte sie gleich am ersten Tag zum Abladen von Kohlewaggons. M.C. weiß noch, daß sie damals hohe Überschuhe mit Absätzen trug, und als sie versuchte, über einen Baumstamm zu springen, da fielen sie auseinander, sie stürzte und verletzte sich ganz erheblich am Arm. In Krasnojarsk blieben sie ungefähr zwei Monate und lebten dort in einer Baracke: Männer, Frauen, Kinder und alte Leute schliefen auf zweigeschossigen Pritschen. Dann wurden sie alle ins Gemeinschaftsbad gebracht und mit heißem Dampf „von den Läusen befreit“. Aufgrund ihrer Handverletzung konnte sie nicht arbeiten. Auf dem Dampfer „Maria Uljanowa“ (einem Raddampfer) setzte sie ihren Weg bis nach Kargino fort. Es war eine sehr schwierige Fahrt; die Frachträume waren völlig überfüllt.. Die Hitze, das dichte Gedränge, die stickige Luft. Unterwegs, so erzählt M.C. starb ein Deutscher (trotz ihrer 86 Jahre weiß M.C. noch, daß er mit Nachnamen Schechterle hieß). Er wurde bei der Ankunft in Kargino bestattet. Als man sie zum 5. Streckenabschnitt brachte (vermutlich ist das ein Revier, das sich in 5 km Entfernung von Kargino befand), wurden zwei Boote abkommandiert, die von Finnen gelenkt wurden, um einen Teil der Verbannten weiter flußabwärts bis nach Turuchansk zu schicken. Nach dem Ablegen vom Ufer kenterten die Boote und alle ertranken.

Am 15. Oktober wurden sie am Ufer (in Schirokij Log) abgesetzt, wo sie unter freiem Himmel übernachten mußten. Und als sie gegen Morgen erwachten, war ihre ganze Kleidung mit Rauhreif bedeckt. M.C. wurde sie auf die Insel Tschuusow geschickt, die in der Angara gelegen ist. Obwohl es bereits Spätherbst war, zwang man sie dort Hafer zu ernten. M.C. ist eine sehr fleißige Frau; sie war äußerst verwundert darüber, daß um 12 Uhr mittags immer noch niemand mit der Arbeit begonnen hatte, und die Tschaldonen, wie sie die Ortsbewohner nannte, auf Bänken saßen und rauchten, als man normalerweise schon längst hätte arbeiten sollen. Später brachte man sie zu einer anderen Insel auf der Angara – nach Sosnowyj. Auf dieser Insel übernachteten sie in einem Abstellraum (in dem Pferdegeschirre und verschiedenes Zubehör gelagert wurden). Am Morgen erwachte M.S. von einem merkwürdigen Schimpfen und Schreien. In ihrem ganzen Leben hat sie, nach ihren eigenen Worten, noch nie etwas Schrecklicheres gesehen: da kam ein Mann, groß und kräftig, vollgehängt mit Waffen – einem Messer und einer Axt, und schimpfte sie alle ganz fürchterlich aus.

M.C. wußte auch noch, wie die Angarabewohner angelaufen kamen, um das Volk vom Schwarzen Meer anzuschauen, um festzustellen, ob sie auch tatsächlich schwarz aussahen oder nicht. Nach den Worten von M.C. waren sie „Wilde“, die noch nie ein Flugzeug einen Zug oder sonst irgendetwas aus der Zivilisation gesehen hatten. Auf dieser Insel befanden sich, etwas weiter flußabwärts, zwei Baracken (eine für Männer und eine für Frauen), anstelle von Licht gab es Holzspäne; dort herrschten sehr schwierige Bedingungen: es war kalt und die Menschen hatten Hunger. Aus Reissäcken nähten die Frauen „Schkery“, so eine Art Hosen. M.C. fällte zusammen mit anderen Frauen Bäume und zersägte sie mit einer unheimlich langen Zweigriff-Säge der Marke „Kraska“ zu Brennholz. Die Sägen wurden häufig stumpf; dann schmierten sie die Zähnchen mit Dieseltreibstoff ein, damit sie besser durch das Holz glitten. Einmal stürzte direkt über M.Cs Kopf ein von ihr selbst gefällter Baum zur Erde; sie blieb wie ein Wunder am Leben. Sie wuschen sich in einem Baderaum, in dem es keinen Abzug für den heißen Dampf gab. Sogar unter solchen Bedingungen, bemerkt M.C., änderten sie nichts an ihrer Akkuratheit und Rechtschaffenheit. Oft hungerten sie.

M.C. weiß noch, wie sie mitten in der Nacht aufs Feld gingen, um dort verschimmelte Ähren zu sammeln. Die Kinder einer Frau, die solche Ähren gegessen hatten, erlitten eine schwere Vergiftung und starben, und die unglückliche Mutter verlor den Verstand. Als wäre es gerade erst gewesen, erinnert sich M.C., daß diese Frau auf dem Boden kauerte und hin- und her schaukelte, und ihre Haare hingen ihr ins Gesicht und fielen ihr über die Knie. Sie wurden an Ort und Stelle begraben, gleich nebenan, ohne irgendwelche Grabkreuze. Auf der Suche nach Lebensmitteln überquerten sie häufig die Angara (Kulakowo, Podkamennaja), um dort Sachen gegen Eßbares zu tauschen; so tauschten sie einmal ein Kleid oder einen Rock mit Jäckchen gegen einen Eimer Kartoffeln um. „Man muß dazu sagen“, meinte M.C., „daß sich die Angara-Bewohner nicht eben durch Großzügigkeit hervortaten. Sie hatten immer fiel Fisch da, aber unser warfen sie bloß die Innereien vor die Füße. Wir wuschen, kochten und aßen sie“. Zwei Jahre später schickten sie M.C. und andere in die Ortschaft Bajkal (in der Nähe von Lesosibirsk gelegen). Auch dort lebten sie in Baracken, unter den gleichen Bedingungenwie zuvor. Sie gelangten mit Flößen dorthin; es war Frühling und der Fluß war mit einer bröckelnden Eisschicht bedeckt. Es war schrecklich, aber wo sollte man sonst hin? Kurz darauf erkrankte M.C. an Malaria, sie hatte sehr hohes Fieber, wandte sich jedoch lange Zeit nicht ans Krankenhaus. Die Hausherrin dachte schon sie würde sterben und schickte deshalb häufig ihre Tochter los, um nachzusehen, ob „die Tante noch lebt“. M.C. ging es immer schlechter; irgendwie half das Nachbarmädchen ihnen zum Krankenhaus zu gelangen. Dazu mußte sie mehrere Kilometer zurücklegen, war gezwungen, oft stehenzubleiben, denn die hohe Temperatur riß sie buchstäblich von den Füßen.

M.C. weiß noch, daß sie 25 Rubel in ihrer Jackentasche hatte, und sie bat die Sanitätsschwester darum, ihr ein Stückchen Salzhering zu kaufen; die aber brachte ihr lediglich den Kopf – was sollte sie damit wohl anfangen? Höchstens Fischsuppe ... (Und an dieser Stelle besinnt sich M.C. auch darauf, daß man ihnen zum damaligen Zeitpunkt wohl schon einen Lohn zahlte. Woher hätte sie sonst das Geld gehabt?).

Aber bald darauf kehrte sie wieder zum 5. Streckenabschnitt zurück, und das Leben begann langsam zurechtzukommen Nun stellte man ihnen bereits ein Stückchen Gemeindeland zur Verfügung, sie bekamen eine Kuh, M.C. wurd zur Dorfältesten erklärt, aber Nachsicht übte niemand mit ihnen. Zur ihren Verpflichtungen gehörte es, die Behörden über alle Ansichten und Meinungen, die ihr innerhalb des Sonderkontingents zu Ohren kamen (wer wohin gefahren war, wer geboren oder gestorben war und wer geheiratet hatte). Während sie sich an die Vergangenheit erinnert, merkt M.C. noch an, daß sie sich gar nicht so lange unter Kommandantur befanden, aber die Bewohner von Bajkal unterstanden ihr insgesamt 17 Jahre.

Dort begegnete sie ihrem zukünftigen Mann, der ebenfalls aus einer Repressierten-Familie stammte: seine Eltern waren in den Jahren 1931-1933 entkulakisiert und nach Sibirien geschickt worden („ ... ohne große Liebe ... so wie alle ...“). Es gab keine Hochzeit, keine Kleider, nichts, sie ließen ihre Ehe einfach in Kargino registrieren. M.C. Bekam drei Töchter.

1961 erält sie einen Ausweis und fährt zu Mutter und Schwestern nach Mittel-Asien, welche sie auf irgendeine unglaubliche Weise in Sibitien hatten ausfindig machen können. M.C. wird nie vergessen, wie sie eines Tages, an einem klaren, sonnigen Maitag, von ihrer älteren Schwester einen Brief erhielt. Sie verließ die Baracke und weinte bitterlich, während sie ihn immer wieder las. Die Bedingungen, unter denen ihre Verwandten lebten, waren ebenfalls sehr schwierig; wenn sie in Sibirien häufig an Malaria erkrankten, so litten sie in Mittel-Asien an Typhus. Sie hausten in Erdhütten. M.Cs Mutter wäre um ein Haar gestorben; mit ihr lebten vier Töchter und zwei Söhne. Sie waren in der Kohleförderung tätig.

Sie erinnert sich, wie sie durch die noch im Bau befindliche Siedlung ging und die Kinder in die Schule laufen sah, und wie sie sie danach gefragt hatte, ob sie nicht eine Katja Oljardyns kennen würden. Die Kinder erwiesen sich als ihre Klassenkameradin und brachten sie direkt zum Haus. M.C. weiß das nicht mehr, aber jedenfalls war der Vater schon da, und die Familie wurde für kurze Zeit wiedervereinigt.

Die Befragung wurde von Irina Saranow und Maria Pitschujewa durchgeführt.

(AB – Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“)
Fünfte Expedition für Geschichte und Menschenrechte, Nowokargino 2008


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