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Verbannungs- / Lagerhaftbericht von Luisa Eduardowna Geterich (Heterich?)

Geboren 1928 im Gebiet Saratow, Bezirk Marxstadt, Dorf Goperberg.

Vater: Eduard Karlowitsch Geterich, arbeitete als Brigadier in der Kolchose.
Mutter: Luisa Fjodorowna Schnaider. Arbeitete in der Kolchose, züchtete Seidenspinnerraupen (fütterte die Larven des Seidenspinners, führte Buch über die sortierten Puppen und legte sie in verschiedene Zuchtkästen).

Das Dorf war groß, es gab ein Kirche, eine große Schule und viele Bewohner. Dort lebten ausschließlich Deutsche, nur die Lehrerin war Russin. Die russische Sprache wurde erst ab der 4. Klasse unterrichtet; im Dorf sprach man Deutsch. Sogar die Aushängeschilder in den Geschäften waren alle auf Deutsch. Sie hat die deutsche Kultur versucht zu bewahren – vor allem ihre Lieder und ihre Küche. Aber trotz allem gab es unter den Bewohnern auch Orthodoxe, und es gab sogar eine orthodoxe Kirche.

In der Familie waren 4 Kinder: Luisa, die Älteste, Bruder Hermann (Gennadij), geb. 1931, Schwester Marusja, geb. 1933, und das jüngste Schwesterchen Anna; sie war gerade erst einen Monat alt, als die Familie deportiert wurde. Im Dorf gab es zahlreiche Gärten und Melonenfelder – und jeder hatte seine eigene Wirtschaft. Die Familie besaß eine Kuh, Ziegen und Schweine; im Garten bauten sie Kartoffeln, Zwiebeln, Wasser- und Honigmelonen sowie Gurken an. Sie lebten im Überfluß.

Ihr Haus war aus Ziegelsteinen (oder ungebrannten Lehmziegeln) gebaut, die sie selber hergestellt hatten; der Vater hatte das Haus gebaut. Er hatte 3 Brüder, und als Luisa noch klein war, lebte diese ganze große Familie mit bei den Großeltern im Hause. Damals war das so üblich, und sie lebten in großer Eintracht miteinander. Die Großeltern waren die Familienoberhäupter. Die anderen halfen ihnen. Ihr eigenes Haus bauten sie, als die Kinder heranwuchsen. Als Luisa in die 4. Klasse ging, wurde die Familie deportiert. Von anderen Leuten erfuhren sie, dass ein Ukas wegen ihrer Deportation verabschiedet worden war (es gingen derartige Gerüchte um). Anfangs glaubten die Eltern nicht, was sie da gehört hatten, denn die Leute hatten schon zwei Wochen lang davon geredet, aber dann bestellte man sie schließlich zum Dorfsowjet. Sie waren in großer Sorge.

Im Verlauf zweier Wochen wurden die Familien verladen und abtransportiert. Die Menschen waren in Panik: einige bereiteten sich sorgfältig auf die Abreise vor, andere nicht.. Sie kochten und brieten, trockneten Brot – dann packten sie ihre Siebensachen für die Reise zusammen. Der Bruder durfte nur ganz wenig mitnehmen, er mußte praktisch alles zuhause zurücklassen. Als sie bereits in den Fahrzeugen saßen, kamen die Ziege und Kuh Manja angelaufen. Das war eine gruselige Szene: das Vieh brüllte, die Hunde winselten. Der Vater bat darum, noch ein letztes Mal die Kuh melken zu dürfen; er tat es, und die ganze Milch versickerte direkt im Sand. Sie nahmen nur wenig Dinge mit (ausschließlich Kleidung). Einigen jungen Leuten wurden Listen über ihren Viehbestand ausgehändigt, und man versprach ihnen, dass sie die Tiere bei Ankunft am neuen Bestimmungsort zurückbekommen würden. In Sibirien erhielten sie eine Kuh.

Sie fuhren zusammen mit den Eltern fort, während die Großeltern mit dem jüngsten Sohn schon früher abtransportierten worden waren. Die Fahrt fand mit verschiedenen Transportmitteln statt: die einen fuhren auf zweirädrigen Pferdekarren, andere wurden auf Lastwagen verladen. Mit einem LKW fuhren jeweils drei Familien; es gab noch nicht einmal genügend Platz, um das Gepäck zu verstauen. Die Menschen hatten Koffer, Säcke, ein wenig Bettwäsche mitgenommen. Zunächst brachte man sie nach Marxstadt. Dort wurden die Sondersiedler auf Lastkähne umgeladen und nach Engels gebracht. Zwei Tage waren sie auf dem Wasser unterwegs. Schlafen mußten sie an Deck, jeder da, wo er für sich ein Plätzchen fand. Hinter uns saß eine Frau mit einem Säugling auf dem Arm. Als die Frau einschlief, fiel das Kind über Bord. Es gingen Gerüchte, dass man alle auf halber Strecke versenken wollte – niemand wußte etwas genaues.

Von Engels ging es weiter auf Güterwaggons; der Boden war noch nicht einmal mit Stroh ausgelegt. Sie schliefen, eng nebeneinander liegend, direkt auf dem kalten Bretterboden. Pro Waggon lag in jeder Ecke eine Familie und in der Mitte jeweils acht; insgesamt mußten sich etwa 50 Personen einen Waggon teilen. Nachdem der Zug auf ein Abstellgleis geleitet worden war, holten sie die Toten aus den Waggons und die Menschen konnten ein wenig essen (Suppe und Brei).

Schließlich trafen sie im Gebiet Nowosibirsk , Susinsker Bezirk, in der Stadt Tschulym ein; dort stand ein großer Getreidespeicher. Anfangs lebten sie in Baracken; ihre Sachen mußten sie auf der Straße lassen (2-3 Nächte); dann kamen Leute aus der Kolchose und suchten sich Arbeiter aus den Reihen der Unsrigen aus. Alle Familien wurden weggeholt. Wir kamen zuerst bei anderen Leuten unter, und die Arbeit, die wir verrichten mußten, entsprach nicht unseren beruflichen Fähigkeiten. Wir wurden nach Sinelnikowo vermittelt. Wir wohnten bei einem Ehepaar in einem kleinen Zimmer von 4 x 5 Quadratmetern, in dem ein russischer Ofen stand; die Wirtsleute selbst wohnten in einem weiter entfernten liegenden Zimmer.

Das Haus war klein, es gab einen Keller. Fast alle Alltagsgegenstände (Geschirr, Besteck, Hackmesser u.a.) gab uns der Hauswirt – er war ein sehr guter Mensch. Es herrschte bereits tiefster Herbst und weil es nichts zu essen gab, gruben Luisa und ihr Bruder auf den Kolchosfeldern die in der Erde verbliebenen Kartoffeln aus; am Abend kamen dann Vater und Mutter und holten sie ab. So vergingen 2 Tage. Am 3. Tag kamen ein paar Ortsansässige, wahrscheinlich vom Dorfsowjet, und nahmen uns die Kartoffeln fort. Zu der Zeit arbeiteten die Eltern in der Kolchose – sie droschen Getreide und halfen bei den Erntearbeiten. Und Schwesterchen Marusja saß zuhause mit der kleinen Anna. Luisa und der Bruder waren auf den Feldern unterwegs, um Ähren zu sammeln, die nach der Ernte zurückgeblieben waren. Zusammen mit dem, was die Eltern erarbeiteten, wurden ihnen Tagesarbeitseinheiten angerechnet, und dafür erhielten sie etwas Weizen und Roggen.

Luisa begann im Alter von 14 Jahren zu arbeiten. Dafür bekam sie pro Tag 200 Gramm Brot. Sie und ihr Bruder gingen in den Wald, um Brennholz zu beschaffen. Als sie noch an der Wolga gewohnt hatten, hatten sie keine Filzstiefel besessen. Sie umwickelten ihre Füße mit alten Lappen und gingen damit zur Arbeit – es gab häufig Fälle von Erfrierungen. In einer Zimmerecke bauten sie sich ein Zelt; sie schliefen in den Kleidungsstücken, die sie tagtäglich auf dem Leib trugen. Luisa beförderte den ganzen Tag mit einem Ochsen Wasser für die Traktoren. Einmal passierte folgendes: es war ein trüber Tag, sie transportierte Wasser und war dabei ein wenig eingenickt. Plötzlich schlug sich der Ochse wegen der vielen blutsaugenden Bremsen in die Büsche, und so sehr Luisa sich auch abmühte, sie bekam das Tier nicht wieder auf die Straße gezerrt. Inzwischen hatte man sie aus den Augen verloren und so kam der Brigadier zurück, um sie zu suchen. Als er Luisa entdeckte, begann er zunächst zu schimpfen, aber dann half er ihr, den Ochsen aus dem Busch zu ziehen.

Die Dörfler waren der Ansicht, dass die Deutschen Verräter und Faschisten wären, dass ihnen Hörner auf dem Kopf wüchsen ... Der Vater wurde zur Trudarmee nach Tula mobilisiert und arbeitete dort im Schacht (A.B. Nach Tula? Dort war die Front. Und welche Schaftanlagen gab es in Tula?). Bereits im Frühjahr warf man sie aus ihrer Unterkunft hinaus; wir mußten in eine alte Scheune umziehen, wo wir auch überwinterten. Im folgenden Sommer wurden wir mit ein paar anderen Familien in der Bäckerei einquartiert (6-7 Familien). Die Bäckerei bestand aus 2 Zimmern, in dem einen lebten drei Familien, in dem anderen vier. Abwechseln wurden die Kanonenöfen geheizt, jeder bereitete einzeln sein Essen zu. Aber im Winter konnte man dort nicht leben; 1943 bauten wir uns eine Erdhütte aus Erdschollen und -klumpen, die fest zusammengepreßt wurden, fast wie eine Ziegelmauer; das Dach wurde aus Schilfrohr angefertigt und mit Erde vollgeschüttet, damit es drinnen wärmer war. Bei uns wohnte auch eine Kuh, die man uns zurückgegeben hatte.

Die vier Kinder schliefen eng aneinander gedrängt: wenn eines von ihnen sich auf die andere Seite drehen wollte, mußten die anderen sich ebenfalls umdrehen. Sie schliefen auf Stroh und deckten sich mit Lumpen zu.

Sie lebten einträchtig miteinander, freuten sich, wenn sie wieder zusammenkamen, denn tagsüber war jeder für sich.

Sie alten Tjurju (kalte Suppe aus Brot, Zwiebeln in Kwass oder Wasser; Anm. d. Übers.). Im Frühling, sobald der Schnee getaut war, gingen sie in ihren Garten und gruben die im Herbst nicht eingesammelten Kartoffeln aus. Sie aßen Türkenbundlilien und verschiedene Kräuter. Sie legten sich auf den Boden und aßen Wegerich; die Pflanzen waren noch ganz klein, aber sie wollten so gern essen. Trotz dieser Ernährung wurden sie nicht krank.

Die Geburten fanden zuhause statt. Wenn die Mutter ein Kind bekam, wurde die Krankenschwester gerufen. Vorher hatte es keine Krankenschwester gegeben; das war dann besonders schwierig.

Einmal im Monat mußten sie sich in der Sonderkommandantur melden und registrieren lassen. Es war ihnen verboten, ins Nachbardorf zu gehen. Die Kommandantur befand sich in Tschulym.Der Kommandant kam selbst zu ihnen ins Dorf. Alle mußten sich registrieren lassen – auch die Kinder (A.B.: bezüglich der Kinder ist dies eher unwahrscheinlich. Muß geprüft werden!). Der Kommandant war ein ganz gewöhnlicher Mensch, keine Bestie – er machte einfach seine Arbeit. Es kam vor, dass jemand sich aus dem Dorf entfernte; dafür bekam er eine 3- bis 5-tägige Haftstrafe aufgebrummt; danach wurde er wieder entlassen.

1947 erlaubten sie uns, nach Tschulym umzuziehen. Das war nur deswegen möglich, weil der Vater gestorben war. Er war drei Jahre in der Trudarmee und kam 1944 nach Hause. Sie entließen ihn aufgrund von Krankheit (er hatte Probleme mit den Lungen) für acht Monate. Im Herbst kam er nach Hause, und im Frühling starb er. Er liegt in Sinelnikowo begraben. Die Mutter erstand Butter; sie fuhr zum Markt und tauschte sie dort gegen ein paar Kleidungsstücke ein. Im Zug lernten sie einen Mann kennen, dessen Ehefrau während der Deportation gestorben war; und er hatte eine Tochter, die im gleichen Alter war wir Luisa. Er lebte in Tschulym, kam danach aber zu ihnen. Später heiratete die Mutter ihn, und er holte sie zu sich nach Hause. Insgesamt hatten sie dann sechs Kinder (er selbst hatte 2).

Zusammen mit ihrer ältesten Tochter fand sie eine Arbeit bei der Eisenbahn. 1947 gab es heftige Schneestürme und sie mußten den Schnee forträumen. Der Stiefvater hieß Aleksander Porn (A.B.: Horn?). Er konnte nicht besonders gut lesen und schreiben und arbeitete als Altwarenhändler: er sammelte Lumpen, Knochen u.a. und war in der Kolchose tätig. Er lebte drei oder vier Jahre mit der Mutter zusammen; dann ließen sie sich scheiden Er fuhr nach Kriwoschtscheka und nahm seine Kinder mit.

Die Familie blieb in Tschulym. Bis zum Frühjahr arbeiteten sie bei der Eisenbahn. Dann wurden sie fest angestellt (A.B.: ?), arbeiteten aber später wieder bei der Eisenbahn.

Als der Vater aus der Trudarmee nach Hause kam, besaß er ein rosafarbenes Hemd, dessen Rückseite vom Schweiß ganz verbrannt war; er brachte einen grünen Rucksack mit. Aus dem Hemd nähten sie eine kurze Frauenjacke, aus dem Rucksack einen Rock. Alle beneideten sie darum. Die Jacke hatte sogar kurze Ärmel.

Sie gingen auch tanzen. Strümpfe gab es nicht. Aus Pferdehaar stellten sie eine Art Überschuhe her und bohrten Löcher hinein, an denen sie die „Schuhe“ dann mit Bindfäden zusammenbanden- Morgens, wenn sie durch den Tau gingen, wurden sie weich und viel zu groß, und man konnte damit nur schlurfen, aber zum Abend hin waren sie durchgetrocknet und saßen dann paßgenau am Fuß, wie kleine Pantöffelchen. Am Abend gingen sie damit zum Tanz. Dort waren viele junge Leute. Auf der Balalajka wurden Volkstänze gespielt.

Mit der Zeit lernten sie Russisch sprechen. Die Grenzen verschmolzen – wer Russe und wer Deutscher war, das konnte man mitunter nicht auf Anhieb feststellen.

Luisa hatte volles, langes Haar. Es wog recht schwer auf ihrem Kopf. Die Haare wurden abgeschnitten, damit es leichter für sie wurde. Im Sommer war es heiß, und die Haare wurden in der Regel um die Hälfte gekürzt. Anfangs, nachdem sie gerade erst angekommen waren, hatten sie Läuse; sie wurden mit Alkali ausgerottet. Seife gab es nicht. Man wusch sich mit Asche (sie wurde durch ein Sieb geseiht. Wäsche (Büstenhalter) gab es nicht. Sie trugen (selbstgenähte) Unterhosen. Die Beine waren nackt. Abends wuschen sie die Füße, dann gingen sie ins Gebüsch und wuschen die Füße mit ihrem Urin ab. Und die Hände und das Gesicht rieben sie sich auch ein. Es brannte erst, aber dann konnte man gut einschlafen. Und wenn man sich nicht einrieb, war das Einschlafen unmöglich: die Haut war schuppig, man mußte kratzen – bis aufs Blut.

In Tschulym fing sie an Geld zu verdienen. Sie war für die Eisenbahn tätig und bekam 50-60 Rubel. Prämien gab es nicht. Alle wurden gleich behandelt.

Ihr zukünftiger Ehemann arbeitete in Preobreschenka; die Kolchose schickte ihn fort,um eine Ausbildung zum Traktoristen zu absolvieren. An der Maschinen- und Traktoren-Station (dort wurden Traktoren und andere Fahrzeuge repariert), gab es eine rote Ecke; dorthin gingen sie. Das war etwa 2,5 km entfernt. Dort trafen sie sich also, tanzten zu den Klängen der Balalajka Walzer und Polka. Bevor sie heiratete, war sie mit einem Deutschen befreundet gewesen. Er wurde zur Armee geholt (A.B.: stop! Zu der Zeit wurden Deutsche noch nicht in die Armee einberufen – aus dem weiteren Text wird ersichtlich, dass er auch gar kein Deutscher war). Bis zur Ankunft zuhause blieben noch vier Monate – und alle überredeten sie, den Deutschen zu heiraten, weil er doch einer von ihnen war. Sie war folgsam; sie hörte auf, dem Burschen in der Armeezu schreiben, und als er von dort zurückkehrte, war sie bereits verheiratet.

Es gab die sogenannten „Wolfs“-Pässe, ohne Foto (A.B.: vielleicht waren das Sondersiedler-Bescheinigungen?). Warum man sie so nannte, weiß sie nicht. Sie fing ein neues Leben mit ihrem Ehemann an, wenngleich ihre Ehe gar nicht registriert war; es gab kein Standesamt, wo sie sich hätten trauen lassen können (A.B.: wirklich?). Sie behielt ihren Nachnamen und er seinen. 1952 wurde ihr Sohn geboren; er wurde auf den Nachnamen des Vaters eingetragen; auch alle anderen Kindern erhielten den Nachnamen des Vaters – Riemer. Bis 1956 mußten sie sich noch regelmäßig in der Kommandantur melden und registrieren lassen.

Die Befragung erfolgte durch Olga Kruschinskaja, Tatjana Dschiojewa, Alsa Achmadejewa

(AB - Anmerkungen von Aleksej Babij, “Memorial“ Krasnojarsk)


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