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Verbannungs-/Lagerhaftbericht von Iwan GRAULE (Sohn von Iwan)

Iwans Familie (Deutsche aus Ingermanland) lebte in der Kolonie NOWOSARATOWK, Kreis PARGOLOWSK (heute WSEWOLOSCHSK), Gebiet LENINGRAD.

Die Kolonie befand sich am rechten Ufer der Newa und gehörte in den Einzugsbereich der Stadt. Ihr gegenüber, am linken Ufer, stand in den 20er Jahren die Siedlung Rybatskij, wo sich heute der Rybatskij-Prospekt erstreckt.

Der Vater arbeitete in der Buchhaltung der Kolchose "Roter Pflüger". Sie holten ihn Ende 1932 (laut Archiv-Auskunft am 7.3.33) und brachten ihn nach KRESTY. Er wurde durch gemeinsamen Beschluß der "Trojka, der uneingeschränkt bevoll-mächtigten Vertretung der OGPU ( = Vereinigten Staatlichen Politischen Verwaltung) des Leningrader Wehrkreises vom 13.4.33 nach den §§58-7, 10 und 11 zu 5 Jahren verurteilt.

Anfang April 1933 wurde Margarita zu einer Zusammenkunft gerufen, aber als sie ankam, stellte sich heraus, daß Iwan sich bereits auf dem Arrestanten-Transport befand. Die Verhafteten waren an der Station OBUCHOWSKAJA-TOWARNAJA verladen worden, wo sie noch einige Tage stehenblieben. Es gelang der Familie Iwan Iwanowitsch dort in der Menge ausfindig zu machen und ihn wiederzusehen.

Der Bruder der Mutter, Andrej Andrejewitsch Bitsch (geb. etwa 1890) war Mitglied in der WKP/b (Allrussische Kommunistische Partei der Bolschewiken) und leitete den Maschinen- und Traktorenpark in NOWOSARATOWK. Davor war er Arbeiter im Putilow-Werk; "in diesen Kreis" gelangte er zusammen mit einer Gruppe von 25.000 Arbeitern (das war eine besondere Aktion, bei der man Leute aufs Land schickte, damit sie mit ihrer proletarischen Weltanschauung die kleinbürgerlichen Ansichten der dortigen Bauern brechen sollten). Er war ebenfalls Mitglied in der Gebiets-"Troijka", und einmal berichtete er der Schwester über Anweisungen von oben: daß nämlich eine ganze Anzahl von Feinden verhaftet werden sollte. Nachdem sie diese Anweisungen erhalten hatte, setzte sich die Troijka zusammen und nahm eine Auslese der "zu nominierenden Kandidaten" vor.

Ungefähr 1934 wurde auch er verhaftet. Gleichzeitig ergriffen sie auch Peter STROH (geb. etwa 1886), Vorsitzender der Kolchose "Roter Pflüger". Sie gaben ihm 3 Jahre gemäß §58.

Etwa im April 1935 wurde die Familie GRAULE im Rahmen des sogenannten "Kirow-Massenstroms" (= "große Säuberungsaktion" nach Ermordung des Politbüro-Mitglieds Kirow im Jahre 1934) deportiert. Vier Tage vor der Deportation holten sie Margarita und Alexander von zuhause weg und brachten sie ins Untersuchungs-gefängnis nach KOLPINO. Zwar wurden sie nach 2 Tagen entlassen, aber zwei Tage später hielt erneut ein Fuhrwerk vor dem Haus, sie wurden aufgeladen und mit Begleitposten zur Güterverladung am Moskauer Bahnhof gebracht. Dorthin fuhren sie auch den Bruder aus dem Untersuchungsgefängnis und verfrachteten dann die gesamte Familie in einen zweifach angetriebenen Kälberwaggon mit zweigeschossigen, durchgehenden Pritschen. Unterwegs durften sie nirgends aussteigen. Essen bekamen sie an den Bahnstationen. Die Wachmannschaft fuhr auf den Bremsplatt-formen. Außer Deutschen befanden sich auch Finnen und Russen unter den Gefangenen.

Die Verschleppten wurden im Kreis PACHTAARALSK, Gebiet JUSHNO-KASACHSTANSK (heute TSCHIMKENSK) ausgeladen und in die Siedlung SLAWJANKA gebracht, wo sich die Abteilung OKTOBER der Sowchose "PACHTAARAL" befand. Zusammen mit ihnen kamen dorthin auch die Familie

A.. BITSCH: die Ehefrau Margarita BITSCH (geb. ca. 1890) und die Tochter Anna BITSCH (geb. ca. 1924), sowie die Familie Peter STROH: Ehefrau, Tochter und Sohn - Peter STROH (geb. ca. 1912).

Die Einwohnerschaft von SLAWJANKA bestand ausschließlich aus Verbannten: aus dem Wolgagebiet, der Ukraine, dem Gebiet LENINGRAD (einschließlich vieler Esten und Finnen). Im Jahre 1935 brachte man Tschetschenen und 1936 einige hundert Koreaner.

Auch die Lehrer der Siedlungsschule waren Verbannte. Mathematik unterrichtete der Dozent des Instituts in WOROSCHILOWSK-USSURIJSK, der Koreaner Wassilij Petro-witsch NI, Chemie und Biologie - Jewgenija Michailowna KARPOWA, Absolventin der Sorbonne (= Pariser Universität). Ihr Ehemann, der Direktor der Zuchtstation KARPOW, wurde während des Krieges arrestiert. Chemie unterrichtete auch der Verbannte SMIRNOW. Den Geographie-Unterricht leitete ein Kandidat der Geographie-Wissenschaften, der bis zur Verbannung auf einem ozeanographischen Forschungsschiff zur See gefahren war. Direktor der Schule war der Bruder des Volkskommissars für innere Angelegenheiten der Ukraine, Fjodor Matwejewitsch BALITZKI (geb. etwa 1890).

Im Jahre 1936 trafen bei den Familien (fast gleichzeitig) aus den Lagern I. GRAULE, P. STROH und A. BITSCH ein, wobei sie anläßlich ihrer Entlassung einen Paß erhalten hatten. Jedoch wurden ihnen diese Pässe sogleich von der Sonderkommandantur in PACHTAARAL wieder fortgenommen. Obwohl auch A. BITSCH seinen Paß nicht behalten hatte, fuhr er sofort ins LENINGRADER Gebiet. 1937 wurde er in MALA WISCHERA (heute Gebiet NOWGOROD) verhaftet.

Iwan (er wurde am 5.02.36 entlassen) erzählte, daß er im BAMLAG (Lager für den Bau der Baikal-Amur-Magistrale), in SWOBODNIJ, gesessen hätte. Die Lager-Abteilungen nannten sich "Phalangen" (= Bezeichnung für die unterste Lagerebene) und bestanden aus 25 - 50000 Gefangenen, die den zweiten Schienenstrang der Transsib bauten. Alle Arbeiten wurden von bekannten Ingenieuren geleitet - ebenfalls Häftlinge. Nach SWOBODNIJ kam JAGODA (= Heinrich, Chef der GUITL, der Hauptverwaltung der Arbeits- und Besserungslager) und rief alle Leiter zusammen. Anläßlich der Besprechung erklärte er: "Eine derartige Arbeit kann niemand ausführen, höchstens Häftlinge."

Die Sowchose "Pachtaaral" war auf einem freien Platz organisiert worden und war ausschließlich für die Arbeit von Verbannten gedacht. Direktor der Sowchose war zu jener Zeit ORLOW. Er ernannte Iwan Iwanowitsch zum Buchhalter im Zentralkontor der Sowchose.

In den Jahren 1937-38 gab es in der Sowchose wenige Verhaftungen, zumindest in SLAWJANKA. Von den Schullehrern verhafteten sie lediglich einen Kasachen, der die Geschichte der KPdSU lehrte (wobei er scheinbar gerade kein Verbannter war). 1937 wurde der Chef-Ökonom der Sowchose, Kader-Offizier der Zarenarmee, KERBEL, verhaftet (geb. etwa 1885).

Aber am 18.07.41 wurde I.I. GRAULE (der Vater) verhaftet und am 10.10.41 in der Stadt Juschno vom Kasachstansker Gebietsgericht zu 10 Jahren sowie dem Entzug aller politischen und individuellen Rechte für die Dauer von 5 - nach §§58-10, 11 verurteilt. Nach der Gerichtsverhandlung brachte man ihn ins KARLAG (= großes Lager für Landwirtschaft und Kohlebergbau sowie Gewinnung von Buntmetallen in Kasachstan), und am 22.07.42 starb er im "Zentral-Lazarett" in DOLINKA an Ruhr.

Noch vor der Verhaftung des Vaters ließ die Kommandantur Iwan GRAULE (den Sohn) zum Studium nach Swerdlowsk gehen, aber im Oktober 1940 wurde er aufgrund seines Alters in die Rote Armee einberufen. Er diente unter Blagoweschenskij im 237. mobilen Schützenregiment, in der 69. Division der Rotbanner-Fernost-Armee. In der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1941 wurde das Regiment verladen und an die Front verbracht. Sie wurden an der Station Bologoje ausgeladen, von wo das Regiment seinen Weg nach Süden fortsetzte und nach 10 Tagen, am 10.07.41 ins erste Gefecht im Kreis Jartzewo, Gebiet Smolensk (im Dreieck Jartzewo-Wjasma-Elnja) geriet. In dieser Zeit wurde die Division bereits anders genannt, nämlich 107. Panzer-Division.

Im September zog sich das Regiment in den Kreis RSCHEW zurück. Dort wurde Iwan im Kampf verwundet und lag im Feld-Hospital. Im Oktober, als sie ihn entließen, erging der Befehl: die Deutschen werden abkommandiert "zur Verfügung des Moskauer Wehrkreises". Als Iwan, zusammen mit seinem Regimentskameraden Bauer (aus Donbass) in Moskau ankam, meldeten sie sich beim "Durchgangspunkt" in der Internationalnaja 3 (einem eingeschossigen Gebäude). Dort gab es einen Eßsaal, wo die Registrierten gemäß Armee-Normen etwas zu essen bekamen, aber Wohnstätten existierten dort nicht. Sie mußten auf dem Bahnhof übernachten. Am nächsten Tag gingen sie zu zweit durch Moskau und waren im Sokolniki-Park, wo die Fliegerabwehr-Batterie lag. Die Flaksoldaten bewirteten sie und holten Erkundigungen über die Lage an der Front ein.

Ungefähr nach einer Woche übergab man ihnen einen Buchstaben (Letter) nach Gorkij (es handelte sich hierbei um ein Buchstaben-System, mit dessen Hilfe die "Entscheidung", das Urteil, eines außergerichtlichen Organs formuliert wurde). Sie fuhren in einem Personenzug, und in Gorkij fanden sie eine Schule, wo der Truppenteil, zu dem sie sollten, untergekommen war. In dieser Gruppe waren etwa 1000 Männer, nur Deutsche. Niemand begriff, weshalb man sie dort zusammenrief. Es gab eigentlich keine Veranlassung. Interessenten aus der Truppe gingen auf Bitten der städtischen Machtorgane arbeiten. Am Durchgangspunkt wurde allen gemäß Armeenormen zu essen gegeben.

Ende November oder Anfang Dezember 1941 wurden einige 100 Deutsche mit dem Personenzug nach Kamensk-Uralskij, Gebiet Swerdlowsk, geschafft. Dort gab man ihnen Unterkunft in einem Gemüsespeicher, wo es sehr kalt war: eine derart große Unterkunft konnte der Eisenofen nicht beheizen. Sie erhielten Essen nach militärischen Normen, arbeiteten auf der Baustelle des TEZ (= Wärmekraft- und Fernheizwerkes). Das war so etwas wie ein Bau-Bataillon: sie behielten ihre Kompagnie und die Züge mitsamt ihren Kommandeuren.

In den Arbeitslagern in Kamensk-Uralskij befanden sich insgesamt mehr als 15000 Menschen. Ein Teil von ihnen arbeitete nicht, denn die Zahl der Arbeitsplätze auf den Baustellen war eingeschränkt worden. Außer deutschen und anderen "Kriegsbauarbeitern" gab es dort einige tausend Polen - ein formierter Teil der polnischen Armee (die Armee von Anders). Anfang 1942 fuhren die Polen nach Mittel-Asien ab.

Das Leben in den ungeeigneten, kalten Unterkünften, bei derart rauhen winterlichen Bedingungen, führte zu Krankheiten und einer beträchtlichen Sterblichkeit. Im Frühjahr 1942, als der Schnee schmolz, wurden die nur unzureichend begrabenen Leichen zum Auslöser für eine Typhus-Epidemie. Wegen des Typhus kam der Baubetrieb zum Erliegen, und alle Deutschen wurden in kleinen Gruppen (zu 25-50 Leuten) in Siedlungen und Dörfer verschickt.

Iwan und noch 15 Leute kamen zum Waldpunkt für mechanische Arbeiten nach Malinowka, im Rayon Berjosowskij (etwa 25 km von Swerdlowsk entfernt). Dort brachte man sie in einem Bauernhaus unter und hielt sie zwei Wochen unter Quarantäne. Während dieser Zeit befahl man Ihnen allen die Sternchen abzunehmen und erklärte, daß man sie "als aus dem Dienst Entlassene ansah".

Nach der Quarantänezeit begannen sie im Waldpunkt für mechanische Tätigkeiten zu arbeiten: Iwan Iwanowitsch als Vorarbeiter auf dem Bau, andere als Traktoristen beim Abtransport von Holz, usw. Man zahlte ihnen dort einen Lohn.

Im Herbst 1942 schickte man Iwan aus Malinowka zu Erntearbeiten in den Kreis Turinsk. Im November wurde er wieder zurückbeordert. Er kam in Malinowka an, erhielt Lohn und eine Brotkarte. Und danach tauchte ein Milizionär auf, rief alle Deutschen zusammen und brachte sie zur Station BOGOSLOWSK, zum Karpinsker Kohletagebau-Gebiet.

In KARPINSK sahen sie eine echte Zone (vorher waren dort Gefangene): mit Stacheldraht-zaun, Wachtürmen, wo Wachposten mit Maschinengewehren standen - freilich ohne Schäferhunde. In diese Zone gerieten auch sie. All das nannte sich "Trudarmee". Dort befanden sich Deutsche, darunter auch einige im Kommandeursrang. Der Rangälteste von ihnen war ein Oberstleutnant-Stabsarzt.

Andere Männer-Zonen gab es in KARPINSK nicht, aber dort arbeiteten deutsche Frauen, die ebenfalls unter der Aufsicht von Wachmannschaften standen. Offensichtlich existierte dort auch ein "Trudarmee"-Lager für Frauen.

In der (Sicherheits-) Zone standen Baracken mit dreistöckigen Pritschen-Schlafkojen.

Iwan Iwanowitsch wurde zum Bau-Vorarbeiter ernannt. Er ging ohne Bewachung zur Arbeit, wohnte in der "Baracke für ingenieurtechnische Mitarbeiter", in einem Raum für 12 Männer. Später, im Sommer 1943, hat er auf Anraten eines Bekannten darum gebeten, ihn als Vorarbeiter einer Zehnerschaft im Steinbruch einzusetzen, denn die Bergarbeiter erhielten eine größere Ration, und so versetzte man ihn dorthin.

Am 13.07.43, abends, kam der Kommandant (Leutnant) zu Iwan in die Baracke und zeigte ihm den Haftbefehl:"Packen Sie Ihre Sachen!" Er brachte Iwan nach KARPINSK in das hölzerne Gebäude des Untersuchungsgefängnisses und sperrte ihn ihn eine völlig überfüllte Zelle mit durchgehenden, zweistöckigen Pritschen. Dort saßen hauptsächlich Leute, die wegen groben Unfugs verhaftet worden waren.

In dieser Zelle verbrachte Iwan etwa einen Monat, ohne Spaziergang und ohne Bad. 5 oder 6 Male jagten sie ihn nachts zum Verhör. Es stellte sich heraus, daß man ihn denunziert hatte, wegen "Verleumdung der Roten Armee" (er hatte erzählt, wie die Läuse die Soldaten gequält hatten).

Aus KARPINSK schickte man ihn ins Gefängnis nach KRASNOTURINSK. In der großen Zelle, ebenfalls mit durchgehenden Pritschen, saßen ca. 200 Menschen ein, alle §58er. Auch hier gabe es keinen Spaziergang und kein Bad. Zum Verhör hetzten sie ihn nicht mehr, nur einmal wurde er zum Prokuror gerufen. Hier saß Iwan etwa vier Monate ein, und zu Beginn des Winters riefen sie ihn und noch einige Männer aus der Zelle zum Abtransport auf und brachten sie ins IWDELLAG (= großer Lager-Komplex im Ural für Landwirtschaft, den Abbau von Kohle sowie die Gewinnung von Buntmetallen). Der Transport wurde mit der Eisenbahn durchgeführt, an der Station OSINOWAJA wurden sie ausgeladen (das ist die dritte Station von SAMA aus Rich-tung Norden gesehen). Iwan und noch etwa 40 weitere Männer aus dem Transport kamen zum 4ten Lagerpunkt des 2ten Einzellagerpunktes (OLP = separater Arbeitslager-Subsektor) des IWDELLAG, 4 km von der Station entfernt. Das war kein Lagerpunkt für Arbeiter, sondern ein Quarantäne- und Invaliden-Lagerpunkt, wo vorwiegend "Erledigte" (die bereits "in den letzten Zügen lagen") einsaßen. Der Lagerpunkt war groß, nur für Männer. Vorwiegend saßen dort §58er. Der Leiter des Lagerpunktes war Unter-Leutnant SURKOW. Leiter des gesamten IWDELLAG war zu jener Zeit BORISOW.

Jene, die mit dem Transport aus KRASNOTURINSK angekommen waren, wurden in einzelne Brigaden zusammengefaßt, und Iwan wurde zum Brigadier ernannt. Die Brigade säuberte die Taiga von Reisig. Für Normerfüllung gab es 750 gr Brot und als Prämie "eine warme Mahlzeit, Piroggen oder Kascha (Brei).

Der Lagerarzt (ein Jude, der wegen des §58 einsaß) drückte es so aus:"Um zu überleben muß man sich bewegen!"

Im Lagerpunkt erfuhr Iwan seine Frist: 10 Jahre wegen §58-10, aufgrund des Beschlusses der "Sondersitzung" vom 5.01.44.

Einmal, zu Beginn des Sommers 1944, während des Wachaufzuges ließ SURKOW Iwan aus der Reihe treten und begann zu brüllen:

Du Schuft! Weshalb willst du abhauen?" Iwan konnte überhaupt nichts begreifen. Dann stellte es sich heraus, daß es aus der Brigade eine Denunziation gegeben hatte.Der Leiter schickte ihn in die BUR (= Baracke mit verschärftem Regime). Nach etwa zwei Wochen rief ihn der stellvertretende Leiter des Lagerpunktes, SCHENKER (ein Jude), zu sich und fragte:"Wofür sitzt du?" "Ich weiß es nicht." - "Hat man es dir nicht gesagt?" - "Nein." - "Du brauchst nicht mehr in diese Baracke mit dem verschärften Regime zurückgehen." "Und was soll ich machen?" - fragte Iwan.- "Geh zum Kommandanten, sag, daß du ihm helfen wirst".

Der Kommandant setzte Iwan dafür ein, die Aufträge für Wirtschaftsarbeiten innerhalb der Zone zu erledigen (Reparaturen, Aufräumen, usw.). Und nach 2 oder 3 Monaten, im August 1944 schickte man ihn zu monatlichen Kursen für Normensachbearbeiter ins IWDEL-Lager, zum 9. OLP (= Lagerstützpunkt).

Auf den Lehrgängen traf Iwan Deutsche aus der Trudarmee an der Station POLUNOTSCHNAJA (nördlich von IWDEL), wo sich eine Mangan-Erzgrube befand.

Alle Fächer der Lehrgänge wurden von verbannten Deutschen unterrichtet. Nach den Kursen brachte man Iwan ins 2. OLP zurück, aber jetzt schon zum 2. Lagerpunkt, - etwa 7 km von der Eisenbahnlinie entfernt. Dort arbeitete er als Normsachbearbeiter und wohnte in der "ATP-Baracke" (= Baracke für verwaltungs-technisches Personal), in einem Raum mit 16 anderen. Und gerade in dieser Zeit ernannte man eben jenen SURKOW (vom 4. Lagerpunkt) zum Leiter des 2. Lagerpunktes.

In dieser Zone befanden sich etwa 800 Häftlinge. Dort gab es eine Frauen- sowie eine "Diebes"-Baracke. In der Zone war ein sogenannter "Psychopunkt" für seelisch Kranke abgegrenzt. Er wurde geleitet vom Chef-Psychiater des Kreml WORONOW (geb. etwa 1890). Er saß wegen des §58. Im Sommer 1945 starb er in seinem Arbeitszimmer an einem Blitzschlag. In der Zone befand sich auch ein Ambulatorium. Vom Lagerpunkt wurden sie zum Holzfällen getrieben.

Das 2. OLP bestand aus 5 Lagerpunkten. In diesen Zonen gab es weder ein Radio noch Zeitungen. Es gab auch kein Kino, keine Laienkunst. Es gab im allgemeinen auch keine KWTsch (= Kultur- und Erziehungsstellen). Nur manchmal kam aus dem IWDEL die sogenannte "Agitbrigade" (ca. 30 Leute) und gab ein Konzert.

Am 9.05.45 verkündete man beim Wachaufzug, daß der Krieg zuende sei. Anders hätte es auch niemand in Erfahrung gebracht.

Im Herbst 1945 entließ man Iwan aus der Bewachung und versetzte ihn als Normsach-bearbeiter zum 1. Lagerpunkt, in die Zentralzone des 2. OLP. Hier befanden sich etwa 1000 Häftlinge (darunter auch Frauen). Sie arbeiteten in der Holzverladung und am Bau von Loren (zum Abtransport von Holz bis zur Eisenbahn).

Leiter des 2. OLP war der Ober-Leutnant SCHALAMOW. Als sein Stellvertreter in der Produktion arbeitete ein verbannter Deutscher aus der Autonomen Republik der Wolga-deutschen, Iwan Jakowlewitsch SCHEFER (geb. etwa 1905), Mitglied der WKP/B (= Allrussische Kommunistische Partei der Bolschewiken).

Alle Buchhalter im 1. Lagerpunkt waren Deutsche, verurteilt nach §58, nur ein einziger Hauptbuchhalter war freier Angestellter (nicht inhaftiert). Den Medpunkt ( = die medi-zinische Abteilung) leitete ebenfalls ein deutscher Arzt aus dem Wolgagebiet. Oberarzt des OLP war die Ehefrau eines der Offiziere. Eine stationäre medizinische Einrichtung gab es im OLP nicht.

Iwan arbeitete für gewöhnlich in allen Lagerpunkten des 2. OLP und kannte alle Normsach-bearbeiter. Am Ende seiner Arbeit im 2. OLP wurde er ranghöchster Normsachbearbeiter.

Im dritten (Holzfäller-) Lagerpunkt arbeitete als Normsachbearbeiter ein Schullehrer für Mathematik, Roman GUT (geb. etwa 1915), ein Deutscher. Er hatte eine Haftfrist von 10 Jahren gemäß §58. Er konnte gut Klavier und Akkordeon spielen.

Als die Offiziere aus Deutschland viele Musikinstrumente herausschafften, legten die Häftlinge Geld zusammen und kauften ihm ein Akkordeon.

1948 wurde Iwan zum 14. OLP versetzt, welches in der Siedlung PONJALA untergebracht war, am Fluß Loswa. Das OLP bestand aus 4 Lagerpunkten und befand sich 15 km von der Eisenbahnlinie entfernt. Das gefällte Holz fuhr man mit der Schmalspurbahn zum Fluß und flößte es ab.

Der Leiter des OLP war der Stationsleutnant KOSYREW. 1950 wurde SCHALAMOW (vom 2. OLP) als Leiter hierher versetzt. 1953 versetzte man ihn ins 9. OLP, jedoch nicht als Leiter, sondern als Stellvertreter.

Der 1. Lagerpunkt, der zentrale, befand sich 1 Kilometer vom Fluß entfernt. Dort waren mehr als 1000 Häftlinge. Sie wurden zum Abladen des Holzes (von den Schmalspurbahnen) und zum Abflößen angetrieben.

Der 2. Lagerpunkt war eine Frauenzone. Dort befanden sich etwa 300 Gefangene. Sie bauten und reparierten die Schmalspurbahnen.

Im 3. und 4. Lagerpunkt befanden sich rund 1000 Häftlinge. Sie arbeiteten in der Holzbeschaffung und bei der Verladung des Holzes.

Im Bestand des 14. OLP gab es keinen Invaliden-Lagerpunkt. Wie auch im 2. OLP, gab es hier keine KWTsch (= Kultur- und Erziehungsstellen).

1950 begannen die Neuorganisationen. Die §58er wurden in andere Lager gebracht, aber die Polithäftlinge wurden in jedem OLP an einem Lagerpunkt gesammelt.

Im 14. OLP war das der 4. Lagerpunkt, und andere §§ gab es dort nicht. Genau zu dieser Zeit teilten sie die Frauen ab, ebenfalls auf einzelne Lagerpunkte in jedem OLP.

Iwan Iwanowitsch fand sich für den 4. Lagerpunkt eingetragen, lebte aber weiterhin im 1. Lagerpunkt. Jeden Monat wurde ihm eine rechtskräftige "Abkommandierung" ausgestellt, damit er eine rechtliche Grundlage für seinen Verbleib im 1. Lagerpunkt hatte. In den Eßsaal ging er nicht: ihm war ein Attest "Trockenration" ausgeschrieben worden (das Essen wurde zur Verfügung gestellt und von den Gefangenen selbst gekocht); sie bestand aus geräuchertem Fisch, Butter, Würsten. Die Ration wurde in der Zentralstelle ausgegeben, die von einem Deutschen geleitet wurde, einem Lehrer aus Tscheljabinsk. Im 4. Lagerpunkt arbeitete der Normsachbearbeiter KOUBA, ein Polithäftling aus der Ukraine.

Manchmal fuhr Iwan auf Anforderung ins IWDEL-Lager und traf dort mit Häftlingen aus anderen OLPs zusammen.

Etwa 4 km vom IWDEL entfernt befand sich das 7. OLP für Dorfwirtschaft, hauptsächlich mit Frauen. Unter seinen Gefangenen waren viele Litauer.

Der Deutsche GRAULE (geb. etwa 1915), ein entfernter Verwandter von Iwan, der bis zum Krieg die geologische Fakultät der Leningrader Universität absolviert hatte, saß im 7. OLP ein und arbeitete dort als Landvermesser.

Etwa 5 km vom IWDEL entfernt, bei der Holzfabrik, befand sich der 8. OLP.

Der 9.OLP, der zentrale Lagerpunkt, lag genau im IWDEL. Nördlich vom IWDEL waren die Katorga-Lager (= Lager mit verschärftem Regime) angeordnet. Dort trugen die Häftlinge eine Nummer auf dem Knie und dem Rücken.

Im 9. OLP saß der nach §58 verurteilte Deutsche LERNER. Er wurde Anfang 1953 freigelassen. Er blieb im IWDEL und arbeitete als freiwilliger Lohnarbeiter in der OTS (= Abteilung für Arbeit und Löhne) der Lagerverwaltung.

1953 war LJUTANOW stellvertretender Leiter des IWDELLAG.

Man rechnete Iwan etwa vier Monate an, und am 7.3.53 wurde er freigelassen, allerdings ließ man ihn nicht laufen, sondern schickte ihn in die Verbannung nach KRASNOJARSK (nicht als politischer Häftling, sondern weil er Deutscher war). An diesem Tage wußten die Gefangenen noch nichts vom Tod des "Führers". Erst auf dem Wege vom IWDEL nach SWERDLOWSK sahen die Häftlinge des Arrestantentransportes beim Blick aus ihrem Stolypin-Waggon (= für den Transport von Strafgefangenen eingerichtete Eisenbahnwaggons, unter Innenminister Stolypin (1862-1910) eingeführt ) schwarze Fahnen an den Stationen. Sie begannen die Begleitposten zu fragen, und jene sagten ihnen, was geschehen war.

Da Iwan Iwanowitsch zusammen mit "freigelassenen" Häftlingen fuhr, saß er etwa eine Woche lang mit ihnen zusammen in einer großen Zelle in der 1. Etage des KRASNOJARSKER Gefängnisses. Danach kam der Kommandant ins Gefängnis, wählte 10-15 Männer aus und brachte sie zum 1. Ziegeleiwerk.

Iwan arbeitete in dieser 1. Ziegelei bis zum Ende seiner Verbannung, bis 1956. 1960 erhielt er seine Rehabilitation. Das oberste Gericht der UdSSR überprüfte die "Akte" am 21.01.60.

I. I. GRAULE (der Vater) wurde im Jahre 1965 posthum, d.h. nach seinem Tode, vom Leningrader Gebietsgericht rehabilitiert (für das erste Urteil) und 1992 vom Tschimkensker Gebietsprokurator (für die zweite Verurteilung).

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