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Verbannungs- / Lagerhaftbericht von Ella Gottliebowna Gromowa

Geboren 1941.

Anfangs lebte Ella Gottliebowna in der Ortschaft Furmanowo, Bezirk Engels, Gebiet Saratow. Dort lebte ausschließlich deutsche Bevölkerung, man hörte kein einziges Wort in irgendeiner anderen Sprache.

Die Mutter hieß Frieda Petrowna Schefer (Schäfer). Sie arbeitete bis zur Umsiedlung in einer Sowchose, züchtete verschiedene Gemüsearten auf einem Melonenfeld. Der Name des Vaters war Gottlieb Nikolajewitsch Schefer (Schäfer); auch er arbeitete in der Sowchose. Als der Bruder vier Jahr alt war, befiel ihn eine unheilbare Krankheit. Die Mutter ging ins Krankenhaus, um ihn zu besuchen, aber sie steckte sich an. Beide starben 1944, als Ella Gottliebowna gerade zwei Jahre alt war. Damals war Frieda Petrowna erst dreißig Jahre alt. Auch der Vater starb 1944 - in der Trudarmee.

Die Familie war 1941 verschleppt worden, als Ella Gottliebowna zwei Monate alt war. An den Umzug kann sie sich nicht erinenrn, aber einiges weiß sie aus den Worten der Großmutter. Mehr als fünfundzwanzig Kilo Gepäck durften sie nicht mitnehmen; zum Packen gab man ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit. Unter anderem nahmen sie ein Spinnrad mit, dass bis heute erhalten geblieben ist. Der Umzug in Güterwaggons dauerte mehrere Monate; schließlich erreichten sie den Pirowsker Bezirk, das Dorf Troiza, wo sie bei der Familie Uskowych untergebracht wurden. In dieser Ortschaft gab es eine ganze Straße, in der nur Deutsche wohnten. Nach Ella Gottliebownas Erinnerungen war diese Straße sauber und mit viel grün bewachsen. Nach dem Umzug wurde ihnen für den Besitz, den sie am Wohnort hatten zurücklassen müssen, kein Schadensersatz geleistet. Es gab Dokumente bezüglich der Rückgabe des Besitzes, die auf den Namen des Vaters ausgestellt worden waren, aber die Großmutter erwartete von ihnen nichts und warf sie weg.

Die Großmutter mütterlicherseits ersetzte E.G. die verstorbene Mutter. E.G. kann sich noch daran erinnern, wie sie zusammen mit Großmutter und Tante lebte. Die erwachsenen Frauen arbeiteten auf den Felder, wo sie mitunter auch wochenlang lebten. In solchen Tagen kochte E.G. irgendetwas und befaßte sich mit Aufgaben im Haushalt. In Troiza traten nur die alten, sehr betagten Leute den Deutschen mit Verachtung gegenüber. Aber ihre Altersgenossen beleidigten die angekommenen Deutschen nie. In diesem Dorf zahlten alle Bewohner Steuern: in Form von Eiern und Butter. Eine der Frauen, die in diesem Dorf lebte, konnte die Szeiern nicht zahlen, weil sie keine vernünftige Wirtschaft besaß. Sie kam dafür mehrfach ins Gefängnis.

E.Gs Großmutter war stets ganz in Schwarz gekleidet, in Trauerkleidung, und das hatte mehrere Gründe. Erstens, und das war der Hauptgrund, hatte sie viele Verwandte verloren, darunter auch beide Ehemänner. Außerdem dachte die Großmutter auch immer wieder an das gediegene, zweigeschossige Haus und die große Hofwirtschaft zurück, die sie in Furmanowa hatten zurücklassen müssen. Dort hatten sie einen großen Garten und sogar Kühe besessen.

1951 kam der Ukas heraus, dass die Deutschen in ihre Heimat zurückkehren dürften (AB – hier handelt es sich um einen Irrtum. 1956 wurden sie aus dem Status der Sonderansiedlung freigelassen, aber in die Heimat durften sie nicht zurückkehren). Viele fuhren damals fort. Aber bei E.G. ist nichts daraus geworden, denn in der Familie gab es nur Frauen, und so sind alle geblieben.

Nachdem E.G. vier Klassen in der Grundschule absolviert hatte, kam sie in die Internatsschule nach Welikowo, an der sowohl russische als auch deutsche Kinder unterrichtet wurden. Wie schon in Furmanowo, so gab es auch hier im Internat von Seiten der Altersgenossen keine verächtlichen Bemerkungen und keine Beleidigungen gegenüber den Deutschen, keiner beschimpte E.G. mit „Deutsche“ oder „Faschistin“. In diesem Dorf befand sich ein Laden, in dem sie Lehrbücher, Schulhefte und Löschblätter kaufen konnten.

In ihrer Kindheit hatte E.G. eine Freundin namens Sina; sie war die Tochter eines Kaufmannsehepaars und elf Jahre alt. Es war eine sehr gute, gutmütige und verständnisvolle Familie, und sie verhielten sich E.G. gegenüber so, als wäre es ihre eigene Tochter. Sie streichelten ihr über den Kopf, trugen sie auf den Armen ins Badehaus, wuschen sie selbst, gaben ihr zu essen und zu trinken.

Während der Schulzeit und auch sonst war E.G. ein sehr lebhaftesund schlagfertiges Mädchen, das auch gern Unfug machte. So hängte Ella beispielsweise, zusammen mit anderen Mädchen, häufig Glöckchen an den Fenstern der Häuser auf, und wenn dann der Wiond etwas stärker wehte, dann zog das Klingeln der Glöckchen die Aufmerksamkeit der in der Nähe befindlichen Leute an.

Im Internat wurde E.G. zuerst Pionierin, später Komsomolzin. Die Großmutter wollte nicht, dass sie der Komsomol-Organisation beitrat, weil sie dies in erster Linie mit Soja Kosmodemjanskaja in Verbindung brachte, die ihr Leben für die Heimat gegeben hatte. Und die Großmutter fürchtete nun, dass ihre einzige Enkelin, die eine Vollwaise war, dasselbe tun könnte. So trat E.G. heimlich dem Komsomol bei.

1953 starb Stalin. Im Internat fiel der Unterricht aus, Lehrer und Schüler weinten während der Trauerversammlung, auf der man ihnen vom Tode Mitteilung machte. Von den E.G. bekannten Leuten weinte nur die Großmutter nicht. Sie drehte sich einfach um und ging fort, als Emma ihr die Nachricht mitteilte. E.G. vermutet, dass die Großmutter selbst nach Stalins Tod große Angst hatte, in der Familie bestimmte Themen anzusprechen. Alle „weinten heimlich“.

Zu jener Zeit kam eine interessante Mode auf: die Mädchen trugen Kleider mit „Lampion“-Ärmeln und Keilröcke.

Mit vierzehn Jahren verließ sie das Internat und ging in die Kolchose, um dort als Kälberhirtin zu arbeiten. Dort arbeiteten hauptsächlich Deutsche; die Russen wollten nicht arbeiten. Lohn wurde bereits in Form von Geld ausbezahlt, aber E.G. bekam das Geld nie selber ausgehändigt, sondern die Großmutter. In der Kolchose wurde von vier Uhr morgens bis neun Uhr abends gearbeitet. Zum Mittagessen gingen sie ins Nachbardorf, denn das war nicht so weit entfernt. Nicht selten wurden Bestarbeiter ausgezeichnet.

Nachdem sie fünf ahre gearbeitet hatte, verschwand E.G. in den Jenisejsker Bezirk, um dort in der Waldwirtschaft zu arbeiten und Schnee zu schaufeln. Warme Kleidung wurde nicht ausgeteilt, die mußte man sich für das verdiente Geld selber kaufen. Sie blieb dort nicht lange.

Anschließend fuhr sie nach Abakan, um eine Aubildung zur Bäckerin zu machen. Später fand sie Arbeit in einer Bäckerei in Worsk. Zwanzig Jahre war sie als Leiterin der Bäckerei tätig. Das Dorf begann zu verfallen, es gab keine Schulen, an denen man die Kinder hätte unterrichten können, und so waren sie gezwungen, nach Nowokargino umzuziehen.

Eine der deutlichsten Erinnerungen aus der Kindheit war das Schicksal einer Nachbarin namens Schura. Sie war heftig verliebt in den Deutschen Witja, der ihre Zuneigung erwiderte. Aber Witkas Mutter war gegen diese Ehe. Beide Mütter beschlossen, dass Schura lieber an einen anderen Burschen vergeben werden sollte. Sie fuhren ins Nachbardorf und machten einen anderen Ehemann für sie ausfindig. Während der Hochzeit bat Schura darum Witja zu holen, um sich von ihm zu verabschieden. Witja packte seine Koffer und beschimpfte seine Mutter mit beleidigenden, scharfen Worten; er sagte ihr, dass sie ihn niemals wiedersehen würde und verschwand ... für fünfzehn Jahre. In dieser Zeit heiratete er und kehrte später zurück. Schura fand sich irgendwann mit der Situation ab, zumal sie einen sehr guten Ehemann und auch Kinder hatte.

Die zweite Erinenrung war ein Portrait der Mutter. Eigentlich erfuhr E.G. erst um Alter von neun Jahren, dass die Großmutter gar nicht ihre Mutter war, aber sie nannte sie trotzdem bis zum Schluß „Mama“. Sie weiß noch dass sie immer weinte, wenn sie vor dem Bildnis der Mutter stand, mitunter ohne zu wissen warum. Sie meint, dass es stimmt, wenn die Leute sagen, dass Waisenkinder von irgendjemandem beschützt werden, sie hatte immer das Gefühl, dass jemand in ihrer Nähe war.

Sie weiß auch noch, wie einmal ein Mann in die Heimat zurückfahren wollte, um nachzuschauen, was dort aus den zurückgelassenen Häusern geworden war. Ohne die Behörden um Erlaubnis zu fragen fuhr er ab; dafür wäre er später um ein Haar ins Gefängnis gekommen. Als er in der ehemaligen Heimat eintarf sah er, dass in den Häusern, in denen bis zur Deportation Deutsche gewohnt hatten, nun Russen lebten – auch in seinem Haus. Als die Russen den Mann sahen, traten sie mit der Flinte in der Hand auf die Straße hinaus.

Das Schicksal der Tante ist uns ebenfalls bekannt. Nachdem ihre gesamte Familie in den Pirowsker Bezirk verschleppt worden war, begegnete die Tante dort ihrem zukünftigen Ehemann Fedor. Seine Familie lebte in Moskau, er selber war auch gebürtiger Moskauer. In der Folge, als Fedor zusammen mit Wlassow in den Pirowkser Bezirk deportiert worden war, sagte seine Familie sich von ihm los.

E.G. Großmutter starb im Alter von neunzig Jahren. Bis an ihr Lebensende hat sie sich an ihre deutsche Muttersprache erinnert. E.G. ist nicht überzeugt, hälgt es jedoch für möglich, dass sich gegen Stalin Groll hegte, weil er alle ins Verderben stürzte, Russen wie Deutsche, und weil er für das schlechte Leben gesorgt hat, das das Schicksal ihr bereitete.

Die befragung erfolgte durch Maria Pitschujewa und Irina Saranowa

(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“)
Fünfte Expedition für Geschichte und Menschenrechte, Nowokargino 2008


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