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Verbannungs-/Lagerhaftbericht von Egon Friedrichowitsch Husser

Egon HUSSER, geb. 1919, Deutscher, stammte aus dem Dorf OLGINO, im Kreis GORNOSTAJEWSK, Gebiet CHERSON, 40 km von Kachowka entfernt. In den zwanziger Jahren zählte das Dorf ungefähr 150 Höfe. Es war ein rein deutsches Dorf, evangelisch-lutherisch. 1929 wurde die Familie von der Staatsmacht ausgeplündert, und der gesamte Hofbetrieb wurde ihnen fortgenommen. Die Familie war gezwungen in das Gebiet um Dnjepropetrowsk zu fahren, in die Stadt HALBSTADT (dann Prischib). Später zog ein Teil der Familie in das Städtchen WERCHNEJE im Kreis LISSITSCHANSK (heute Gebiet LUGANSK) um. Dort arbeitete Egons Bruder, Oskar HUSSER (1906-1959), im Bergwerk als Buchhalter und wurde 1935 von der OGPU (Vereingte Staatliche Politische Verwaltung) verhaftet. Man schrieb ihm den Satz "Japan wird sowieso die Ukraine besetzen" zu und gab ihm 5 Jahre gemäß § 58-10 (subversive Agitation zur Schwächung der Sowjetmacht). Er kam nach BUCHTA NAGAJEWA und saß dort bis 1948 - 13 Jahre anstatt 5.

Der andere Bruder, Kurt HUSSER (geb. 1909-?), arbeitete in der Ziegelei in dem Dorf LJUBOMIROWKA, Kreis WYSOKOPOL (das war ein deutscher Kreis), im Gebiet DNJEPROPETROWSK. 1938 wurde er von den Sowjets verhaftet und zu 3 Jahren verurteilt. Er legte eine Berufungsbeschwerde ein und erhielt 5 Jahre anstatt 3. Er wurde nach KOLYMA gebracht und kam im Konzentrationslager um. Erst kürzlich wurde er rehabilitiert.

Egon beendete 1938 die Feldscher-Schule sowie Kurse zum Apothekenhelfer und nahm seine Arbeit in der Apotheke in der Stadt WERCHNEJE auf.

Im September 1941 verhaftete man ihn, steckte ihn ins Kreis-Untersuchungsgefängnis von Lissitschansk und hetzte ihn zu Verhören. Bei ihm zuhause veranstaltete man eine Haus-suchung. Nach drei Tagen brachte man ihn zum Kreismilitärkomitee und dann, zusammen mit anderen "Arbeitsarmee-Mobilisierten" von LISSITSCHANSK nach WOROSCHILO-GRAD. Dort steckte man sie in Waggons und fuhr in den Ural zur Siedlung WERCHNJE-TURINSK im Gebiet SWERDLOWSK. Innerhalb weniger Tage wurde auch seine Familie deportiert.

Im Ural wurden die etwa 3000 hergefahrenen "Trudarmisten" in die Zone gebracht, die vom Lager übriggeblieben war. In den Baracken waren durchgehende Zwei-Etagen-Pritschen, gekennzeichnet als "Schlafplatz": pro Mann 49 cm. Daneben befand sich noch eine leere Zone. Dorthin brachten die Kommunisten im Januar 1941 Wolgadeutsche.

Egon begann als Apotheker in der Zone zu arbeiten, aber den größten Teil der Häftlings-"Trudarmisten" schickte man zum Holzfällen.

Es wurde gestattet, daß diejenigen, die bereits mit ihren Kräften am Ende waren und doch bald sterben würden, aktiert (freigeschrieben) und zu ihren Familien geschickt wurden, d. h. an die Verbannungsorte. (Eine besondere medizinische Kommission bescheinigte dabei die Unmöglichkeit, den betreffenden Gefangenen aufgrund seiner schlechten Gesundheitsver-fassung und der Aussichtslosigkeit seiner Gesundung für die Arbeit weiter zu verwenden).

Mit diesem Stempel begann die Leiterin der Sanitätsabteilung die Feldscher zu entlassen, zusammen mit den Freigeschriebenen: "Falls man euch fragen sollte, - ihr seid ärztliche Begleitung". Im Februar 1942 entließ sie ebenfalls Egon, und er fuhr zur Familie in den Kreis PRIISCHIMSK, Gebiet PETROPAWLOWSK (Kasachstan), wohin seine Verwandten deportiert worden waren.

Am 31. März 1942 wurde er erneut "trudmobilisiert", und man brachte ihn von PETROPAWLOWSK nach TSCHELJABINSK, in die Tscheljabinsker Metallfabrik - TscheljabMetallurgStroj (TMS), d.h. ins Tscheljabinsker Metallurgiekombinat.

In der "Trudarmee"-Zone arbeitete Egon im TMS seinem Beruf entsprechend im Aufnahmeraum der Krankenstation. Zu ihm brachte man vollkommen Entkräftete, die zusammenbrachen und nicht mehr aufstehen konnten. Er verabreichte ihnen 20 cc 40%ige Glukose und fragte anschließend: "Möchtest du essen?" Wer "ja" antworten konnte, wurde für gewöhnlich gerettet, aber jene, die keine Antwort gaben - waren verloren.

Im Herbst 1942 begann die Operativ-Abteilung (Sicherheitsbüro) mit der Jagd auf "Volksfeinde". Der Sicherheitsbeamte KOLJESNIKOW rief Egon heraus und erzwang seine "Aussagen" über den Leiter des Aufnahmeraumes EISHORN. Von Egon ließ sich nichts herauszwingen, aber Ende Oktober oder Anfang November 1942 wurde EISHORN trotzdem verhaftet. Etwa gleichzeitig mit ihm wurde auch Sigmund LUDWIG (geb. etwa 1918) verhaftet, der bis zur Deportation im 5. Semester am Moskauer Institut für Medizin studiert hatte. LUDWIG erhielt eine Haftzeit von 10 Jahren und saß im NORILLAG ein. Dort arbeitete er als Leiter der Haut- und venerologischen Abteilung im Zentralkrankenhaus.

Aufgrund zahlreicher Hinweise läßt sich schließen, daß der Sicherheitsbeamte KOLJESNIKOW Egon nicht in Ruhe ließ. Das sahen auch Kranke, und einer von ihnen gab ihm den Rat: "Unterschreib, damit sie dich bloß nicht schlagen". Egon wurde am 8. Dezember 1942 verhaftet. Er erinnerte sich an den Rat und unterschrieb nach drei Tagen die "Aussage" wegen "antisowjetischer Agitation", die der Untersuchungsführer der Operativ-Abteilung, Major SELICHOW, erfunden hatte.

Anschließend brachte man ihn aus der Zone ins TSCHELJABINSKER Gefängnis.

Egon Friedrichowitsch kam in eine etwa 15 qm große Zelle, die mit mehr als 40 Häftlingen vollgestopft war. Sie schliefen auf dem nackten Fußboden in vier Reihen; der einzige Einrichtungsgegenstand war ein an der Tür stehender Latrineneimer. Unter den Gefangenen waren Deutsche und Letten. Einer der Letten war Arzt, ein anderer - Flieger.

Im Februar 1943 wurde Egon in ein anderes Gefängnis gebracht, nach SLATOUST. In der Zelle, von der gleichen Größe wie die in Tscheljabinsk, gab es auch keine Pritschen. Dort waren 20-25 Häftlinge untergebracht.

In dieser Zelle saß der Grieche Nikolaj Christoforowitsch Baltadschi (geb. 1919) ein, ebenfalls 1942 in der "Trudarmee" im Tscheljabinsker Metallkombinat (TSM) verhaftet. Vorher war er in der 8. Bau-Armee gewesen und vor der "Trudmobilisierung" hatte er im 3. Semester des physikalisch-mathematischen Pädagogik-Instituts in DONEZK studiert. Er wurde nach § 58-10 zu 10 Jahren verurteilt.

Im Mai oder Juni 1943 gelangte er zusammen mit Egon zurück ins TSM, - zuerst zur Erledigung allgemeiner Kolonnen-Arbeiten, dann als Normsachbearbeiter. 1945 brachte man ihn vom TMS ins Tscheljabinsker Werk "Kaliber". 1957 hörte Egon zufällig dessen Familiennamen in einer Radiosendung über Tscheljabinsk und machte ihn über die Adreß-Auskunftsstelle ausfindig. Später arbeite er als Bau-Ingenieur im Tscheljabinsker Stadt-Exekutivkomitee. Jetzt ist er Rentner und wohnt in Tscheljabinsk.

In eben dieser Zelle saß auch der polnische Jude Fjodor Grigorijewitsch TEICHGOLD (geb. etwa 1919), verhaftet 1942, Haftdauer 10 Jahre. Eine Mitbewohnerin "brachte ihn ins Gefängnis", als er sie gegen eine Jüngere eingetauscht hatte: sie schrieb eine Anzeige, als ob er ihr "versprochen hätte, mit ihr fortzugehen, um ihr das wahre Leben zu zeigen".

Vom Gefängnis in SLATOUST kam auch er ins TMS und arbeitete dort in der Zone als Fuhrmann - er transportierte Holz. Heute wohnt er in Tscheljabinsk.

Als man ihn verhaftet hatte, machte sich sein jüngerer Bruder, Michael Friedrichowitsch TEICHGOLD auf, um ihn zu suchen. Am 3. Tag führte die Spur zum NKWD (Volks-kommissariat des Innern). Von dort brachte man ihn bereits mit Konvoi-Begleitung fort und er erhielt drei Jahre. 1944 entließ man ihn und mobilisierte ihn in die polnische Armee (die pro-sowjetische Armee Berlings). Er lebt auch noch und wohnt in den USA.

Im Mai oder Juni 1943 brachte man etwa 120 Häftlinge von SLATOUST ins TMS, und zwar in genau dieselbe Zone, wo Egon bis zur Verhaftung in der "Trudarmee" war. Und nun hatte man die Deutschen bereits von dort weggebracht und die übliche Lagerzone errichtet - die 1. Lagerabteilung des Tscheljabinsker Metallkombinats. Als man die Gefangenen aus SLATOUST in die Zone brachte, befanden sich dort schon 120-130 Häftlinge, und in der Folgezeit erreichte die Zahl der Häftlinge in der 1. Lager-Abteilung 4000. Unter ihnen waren auch "Bytowiki" (kleine, nicht-politische Alltagsgauner). Die tägliche Brotration betrug für allgemeine Arbeiten 800 gr, für Dienstpersonal lediglich 400 gr.

Hier traf Egon eine Frau, die er aus der Zeit kannte, als er in WERCHNEJE lebte. Sie arbeitete als freie Angestellte im TMS und verhalf ihm zu einer Stelle als Sanitäter in der Krankenstation. Im Juli oder August 1943 rief man Egon und zeigte ihm einen Fetzen Papier mit seinem "Urteil": laut Beschluß des OSO (Sonderkollegium) 10 Jahre wegen § 58-10. Im Sommer 1945 trennten sie die Zone ab und errichteten daneben eine Frauenzone - die 2. Lagerabteilung des Tscheljabinsker Metallkombinats. Egon wurde dorthin in die Kranken-station versetzt. Später versetzte man ihn ans Zentral-Krankenhaus des Tscheljabinsk-MetallurgStroj.

Im Sommer 1946 wurde Egon aufgrund eines Spezialauftrages in die 2. Lagerabteilung nach KYSCHTYMA (Gebiet TSCHELJABINSK) gebracht, welche die Bezeichnung TSCHELJA-BINSK-40 trug. In der Lagerabteilung waren 3-4000 Häftlinge, unter ihnen viele "Bytowiki" (harmlose Alltagsgauner). In den Baracken - doppelstöckige Pritschen mit durchgehenden Bretterreihen. Egon hat noch ein Foto von sich aus der 2. Lagerabteilung bewahren können. Die Gefangenen wurden zum Holzfällen geschickt und zum Aufbau einer "sozialistischen Stadt".

1947 wurde Egon versetzt, ebenfalls wegen berufsbezogener Spezialaufgaben, und zwar in die geheime 8. Lagerabteilung jenes Lagers in KYSCHTYMA, in dessen Zone sich dreitausend Häftlinge befanden. Fast alle von ihnen saßen aufgrund des § 58. Sie wurden zu unterirdischen Bauprojekten geschickt, wahrscheinlich handelt es sich um Atomobjekte. Aus dieser Zeit stammt das Gruppenfoto mit den Häftlingsärzten, das Egon aufbewahrt hat. Darauf ist in der oberen Reihe als 2. von links Egon selbst zu sehen, der 3. von rechts ist der Feldscher KOSLOW. Der 2. von links in der unteren Reihe ist der Arzt Nikolaj Semjono-witsch BANTSCHUGOW (geb. etwa 1916), er hatte eine Haftfrist von 10 Jahren, und nach dem Gefangenentransport ins NORILLag arbeitete er dort im Zentral-Krankenhaus, später in DUDINKA. Er wurde 1951 freigelassen. Der 4. von links in der unteren Reihe ist der Arzt OBOLJENZEW (geb. etwa 1890), und der 5. der Feldscher NOWIKOW (dessen Spezial-gebiet Veterinärmedizin war).

Im Juni 1948 wurden alle, die aufgrund des § 58 in der 8. Lagerabteilung einsaßen, in Kälberwaggons getrieben und nach KRASNOJARSK gebracht; an der Station JENISSEJ lud man sie aus, und innerhalb weniger Tage wurden sie mit Lastkähnen ins NORILLag transportiert. Am 7. Juni 1948 kam der Häftlingstransport in NORILSK an. In ihm befanden sich alle Mediziner aus der 8. Lagerabteilung von Kyschtyma.

Der gesamte Transport wurde 21 Tage lang in der 2. Lagerabteilung in Quarantäne gehalten.

Während dieser Zeit sortierte die Registrierungs- und Verteilungsstelle die Norilsker "Neuan-siedler" nach ihren fachlichen Spezialgebieten aus. Und da zeigte es sich, daß man von den Ärzten 500 Rubel nahm, um sie bei einer Arbeit einzusetzen, die ihren fachlichen Fähigkeiten entsprach. Die Mediziner empörten sich darüber und schrieben eine Beschwerde an die medizinische Einheit im Norillag; danach hörten die übermäßigen Geldabgaben auf, und die Mediziner erhielten Aufgaben in medizinischen Stellungen zugeteilt. Egon Friedrichowitsch kam in die Norilsker Apotheken-Versorgungsstelle.

Mit ihm arbeitete dort Wassilij Fjodorowitsch GRITSENKO (KULMAN, geb. 1917). Er lebt in Krasnojarsk, Pr. Krasnojarskij Rabotschi, 57a, Wohnung 39.

Nach der Apotheken-Versorgungsstelle wurde Egon in die Regime-Zone nach SUB-GORE versetzt, um dort die Apotheke zu leiten; dort saßen ausschließlich Kriminelle. In dieser Zeit wurden alle § 58-er, mit Ausnahme derer, die "lediglich" aufgrund des Absatzes 10 verurteilt worden waren, in die Zonen des GORLag geschickt. In der 11. Lagerabteilung des GORLag saß der Bruder des Akademikers Bogoljubow, Wladimir Nikolajewitsch BOGOLJUBOW.

Man rechnete Egon ein halbes Jahr an und entließ ihn im Juli 1951. Er blieb in NORILSK als freier Angestellter, nicht als Verbannter, sondern als Deutscher in der "Sondersiedlung", und mußte sich zweimal im Monat in der Kommandantur melden. Die Kommandantur wurde Anfang 1956 aufgehoben und in demselben Jahr erhielt er seine Rehabilitation.

 10.03.91, aufgezeichnet von W.S. Birger, Krasnojarsk, Gesellschaft "Memorial"

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