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Bericht von Olga Maksimowna Liepinsch

Im Schicksal von Olga Maksimowna Liepinsch sind mehrere Nationalitäten miteinander verflochten: die deutsche, ukrainische und lettische. Sie selber wurde im Gebiet Saratow im Dorf Gnadenfeld in der Familie von Maksim Maksimowitsch und Maria Alexandrowna Reptschenko geboren. Die Eltern waren gleichaltrig, sie wurden beide 1915 geboren. Der Vater war Ukrainer, und seine Familie ließ sich an der Wolga in der Nachbarschaft einiger deutscher Dörfer niederö; in einem dieser Dörfer lebte seine zukünftige Ehefrau Maria. Die Mutter sprach überhaupt kein Russisch, dafür konnte der Vater, Soldat von Beruf, gut Deutsch. In dem deutschen Dorf Gnadenfeld arbeitete er als Direktor der Käsefabrik. Die Mutter konnte lesen und schreiben und „studierte sogar Lehrerin“. 1936 wurde das erste Kind geboren – Olga Maksimowna. Bis zum Kriegsausbruch erblickten insgesamt drei Kinder das Licht der Welt.

Mit Beginn des Großen Vaterländischen Krieges riefen sie den Vater sofort zur Armee ein, und die Mutter blieb mit den Kindern allein. Bald darauf machte sie sich auf den Weg zu ihren Verwandten. Allerdings lebte sie mit ihnen nicht lange zusammen – einen Monat später begann man mit der Aussiedlung der Deutschen. Die Schwester der Mutter wurde mit ihren drei Kindern nach Sibirien verschleppt. Aber Maria Alexandrowna, Ehefrau eines Soldaten, der nicht der deutschen Nationalität angehörte, und ihre drei Kinder ließen sie in Ruhe. „Als sie die Deutschen abtransportierten, blieben wir ganz allein im Dorf zurück. Das Dorf – wie leer gefegt. In den Häusern stand alles noch so da, denn die Deutschen konnten auf der langen Fahrt nur wenige Sachen mitnehmen“ – so haben sich die Herbsttage des Jahres 1941 ins Gedächtnis der kleinen Olga eingeprägt. Die Mutter und ihre kleinen Kinder waren gezwungen, sich in das Dorf zu begeben, in dem die Schwiegereltern lebten, wo die Familie dann auch den Krieg überlebte. Maria Alexandrowna wohnte in einem kleinen Haus; sie hielt eine Kuh. 1942 erhielt die Mutter die Nachricht, dass ihr Mann verschollen sei. Die Mutter schrieb später ans Rote Kreuz und andere Organisationen und versuchte ihn ausfindig zu machen, doch all ihre Bemühungen blieben erfolglos.

1948 beschloss die Mutter zu ihrer Schwester Emma Alexandrowna nach Sibirien zu fahren. Ihr Entschluss verwunderte die Verwandten des Vaters sehr. Sie versuchten ihr das Vorhaben auszureden, denn sie waren der Meinung, dass sie dort keine Hilfe bekommen würde. Allerdings tat es der Schwiegermutter um ihre deutsche Schwiegertochter nicht sonderlich leid, sie hatte die Wahl ihres Sohnes von Anfang an nicht gutgeheißen. Jedenfalls wurde der Wunsch zu den Verwandten zu fahren nur noch verstärkt. Außerdem war die Schwester Analphabetin, und so war es ihr nicht möglich gewesen Einzelheiten über das Leben in Sibirien mitzuteilen. 1948 traf Maria Alexandrowna mit den Kindern bei der Schwester in der Ortschaft Roschdestwenskoje, Kasatschinsker Bezirk, Region Krasnojarsk, ein. Als die Mutter später einen Dauerausweis an ihrem neuen Wohnort erhielt, stellte man sie als Deutsche unter die Meldepflicht bei der Sonderkommandantur. Jetzt sagt Olga Maksimowna , dass in ihrem Leben nach der Ankunft in Sibirien frappierende Veränderungen eintraten: „wir haben den Krieg an der Wolga leichter ertragen, als das, was wir hier nach Kriegsende durchmachen mussten“. Es stellte sich heraus, dass die Schwester ganz allein drei Kinder großgezogen hatte, weil der Ehemann noch 1942 in die „Arbeitsarmee“ mobilisiert worden war. Zu sechst lebten sie in einer Erd-Hütte. Ein Häuschen konnten sie sich erst Ende der 1940er Jahre bauen. Sie überlebten, weil Tante Emma die kleine Hütte verputzte, weil sie gut warme Schals stricken und Spitzen häkeln konnte und bei den Ortsansässigen Bestellungen dafür entgegen nahm.
In die Ortschaft Roschdestwenskoje gerieten nicht wenige deutsche Familien, wobei die meisten von ihnen aus demselben deutschen Dorf umgesiedelt worden waren und sich deswegen viele schon vor der Umsiedlung gekannt hatten. Somit war das einzige Plus an dem Umzug die Tatsache, dass die Mutter in ein ihr bekanntes, komplementäres Milieu geriet. Zu der Zeit sprach sie schon ganz gut Russisch, allerdings nicht ganz akzentfrei. Die Mutter fing an in der Kolchose zu arbeiten.

1950 zog die Familie nach Kasatschinskojeum, wo Olga Maksimowna die fünfte Klasse besuchte. Dort kaufte die Familie ein Häuschen von dem Geld, das die Verwandten des Vaters ihnen geschickt hatten. Die Mutterarbeitete als Leiterin des Melkstalls. Vom Kriegskommissariat bekam sie eine gute Rente wegen des nicht aus dem Krieg zurückgekehrten Vaters. Sie hielten eine Kuh, Geflügel und anderes Vieh.
Nachdem Olga Maksimowna 1953 die achte Klasse beendet hatte, beschloss sie das Technikum zu besuchen. Allerdings erhielt sie weder einen Ausweis, noch die Erlaubnis, den Ort zum weiterführenden Studium verlassen zu dürfen, sondern wurde vielmehr als Deutsche unter die Aufsicht der Sonderkommandantur gestellt, wo sie sich jeden Monat einmal melden und registrieren lassen musste.

Anfang der 1950er Jahre wurden nach Kasatschinskoe, wie auch in andere Bezirke der Krasnojarsker Region, Verbannte gebracht. Einer von ihnen, ein ehemaliger Staatsanwalt aus Leningrad, half dem Mädchen einen Brief an L.P. Berija zu verfassen, damit der sich mit der ihr widerfahrenen Ungerechtigkeit befasste. Der Brief wurde aus Krasnojarsk abgesendet. Einige Monate später rief man die Neuntklässlerin Olga ins Lehrerzimmer, wo sie ihren Brief sah und ihren Urteilsspruch erhielt – sie sollte einen Ausweis bekommen, und das bedeutete die Möglichkeit zum Studium den Ort verlassen zu dürfen. Ab 1956 begab sich die Mutter nicht mehr zur „Registrierung“ in die Sonderkommandantur.

In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre klärte sich eine weitere dramatische Seite in der Geschichte der Familie auf. 1937 war der Onkel der Mutter an der Wolga verhaftet worden, der als Zimmermann arbeitete. Seitdem hatte man von ihm nichts mehr gehört. Und erst zwanzig Jahre später kam die Nachricht, dass er sich sieben Jahre, bis 1945, im Saratower Gefängnis befunden hätte, wo er schließlich verstorben war.
Die Mutter der von uns Befragten war sehr religiös gewesen – Lutheranerin, doch sie hatte ihre Kinder nie zur Religion herangezogen, schon deswegen nicht, weil ihr Ehemann in Parteikreisen verkehrte. Erst im reifen Alter, in den 1990er Jahren, las sie die Bibel. Die Möglichkeit religiöse Gebräuche zu verwirklichen, hatte es bei den Lutheranern früher nicht gegeben. Und in der postsowjetischen Zeit hielt Maria Alexandrowna Religion für eine individuelle Angelegenheit; den orthodoxen Gottesdienst nahm sie persönlich nicht an.

Wie viele deutsche Frauen, hielt Maria Alexandrowna, als sie in Sibirien lebte, der deutschen Küche die Treue – sie buk Strudel, kochte Galuschki (dicke, weiche Nudeln; Anm. d. Übers.) und andere Gerichte. In Kasatschinskoje kamen die Deutschen oft bei ihr zusammen, sprachen und sangen in der Muttersprache. Olga Maksimowna kann kein Deutsch, aber in ihrer Kindheit hat die Mutter angefangen, ihr die gotische Schrift beizubringen. Allerdings ging ihr mit der Zeit auch diese Fertigkeit verloren.

1955 heiratete Olga Maksimowna Aiwar Albertowitsch Liepinsch. Seine Familie war 1941, am Vorabend des Krieges aus Lettland verschleppt worden. Aiwars Eltern hatten dort einen Gutshof in dem kleinen Örtchen Skapuschi. Die Familie besaß eine Menge Ländereien und Vieh. Hauptsächlich kümmerte sich die Mutter um die große Wirtschaft, ihr half ein Lohnarbeiter. Doch im Mai 1941 wurde bei ihnen alles konfisziert und sie nach Sibirien geschickt. In die Verbannung gerieten Aiwars Großmutter, seine Mutter Eleonora Janowna sowie zwei Kinder. Der Vater wurde irgendwo auf einem lettischen Bahnhof verhaftet. Erst mehrere Jahre später erfuhr die Familie von anderen verbannten Letten, die bei der Deportation mit Albert Liepinsch zusammen gewesen waren, wie sein Schicksal verlaufen war noch im Jahre 1941 war er in einem der Lager des GULAG im Gebiet Kirow verstorben.

Eleonora Janownas Mutter war die einzige in der Familie, die Russisch konnte (sie hatte irgendwann einmal in Leningrad gelebt). Alle anderen verstanden die russische Sprache nicht und erlernten sie erst an ihrem neuen Wohnort. 1955 sprach Olga Maksimownas Schwiegermutter gut Russisch. Sie nahm ihre Schwiegertochter wohlwollend auf. Nach Meinung der von uns Befragten gab es damals in Sibirien dermaßen viele Nationalitäten, dass Mischehen zu einer ganz gewöhnlichen Angelegenheit wurden. Eleonora Janowna war eine fleißige Frau, die gut mit Menschen umgehen konnte. Sie strickte hübsche Fausthandschuhe mit nationalen lettischen Ornamenten.

1948 verließen Aiwars Großmutter und sein jüngster Bruder Sibirien und reisten in die Heimat aus. Sie ließen sich in Lettland nieder und lebten dort bis zum Ende ihrer Tage. Aber Eleonora Janowna lehnte diese Idee ab, sogar als sie endlich wieder die Möglichkeit gehabt hätte dorthin zu fahren. Sie erklärte das damit, dass ihr bewusstes Leben sich hier, in Kasatschinskoje, abgespielt hatte, dass viele Leute sie kannten und respektierten.

Schon in den 1970er Jahren trafen Aiwar Albertowitsch und Olga Maksimowna in Lettland ein. Es stellte sich heraus, dass auf ihrem Gutshof in der Folgezeit das Vieh von einer Kolchose übernommen worden war. Auch Aiwar Albertowitsch hatte nicht den Wunsch, in die Heimat zurückzukehren, denn schließlich waren in Sibirien seine Kinder geboren und aufgewachsen, und es gab auch schon Enkel.

Während seines Lebens in Kasatschinskoje verlor Aiwar Albertowitsch nach und nach die Kenntnisse in der Muttersprache. Er absolvierte Schule und Technikum, arbeitete viele Jahre bei der mobilen mechanisierten Abteilung als Mechaniker. Die Kollegen begegneten ihm mit Respekt. Olga Maksimowna sagt, dass den Letten eine gewisse Intelligenz angeboren ist, und das zeigte sich im Verhalten ihres Ehemannes, der ein ruhiger, höflicher, ordentlicher Mann war, der Konflikten aus dem Weg ging.

Die Eheleute lebten fünfzig Jahre zusammen. Seit sechs Jahren ist Aiwar Albertowitsch nun schon tot, aber Olga Maksimowna bewahrt die gute Erinnerung an ihn und das schwierige Leben im internationalen Sibirien, wo unterschiedliche Nationalitäten gelernt haben, miteinander zu leben.
Interview: Jelena Sberowskaja

(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft ) Neunte Expedition des Krasnjarsker "Memorial“ und des Pädagogischen College in Jenisseisk, Worokowka-Kasatschinskoje-Roschdestwenskoje 2014 .

 

 


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