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Emma Kondratewna Marsal

Emma Kondratewna Marsal (geb. 1930) wurde im Gebiet Saratow geboren, in dem Dorf Krym. Über ihr Dorf spricht Emma Kondratewna mit großem Stolz: denn es war eine große Ortschaft, in dem es eine Kirche, eine Schule und sogar ein Institut gab. Die Bevölkerung dort setzte sich ausschließlich aus Deutschen, deswegen konnten sie auch kein Russisch. Die Straßennamen und Aufschriften auf den Geschäften waren alle auf Deutsch. Der Vater, Konrad Kondratowitsch Engelhard übte den Zimmermannsberuf aus, und die Mutter, Amalie Kondratewna Ramich, arbeitete in der Molkerei, wo sie Speiseeis herstellte. Außer Emma gab es keine weiteren Kinder in der Familie; sie waren alle im Säuglingsalter gestorben. E.K. erinnert sich, dass sie Weihnachten und zum neuen Jahr mit großer Ungeduld auf den Tannenbaum, die Feiertage, die Geschenke wartete. Das Tannenbäumchen wurde stets mit selbstgebastelten Spielsachen geschmückt. Und als Geschenke bekam man kleine Bastsäckchen mit Konfekt. Das Lernen in der Schule machte dem Mädchen viel Freude; selbst jetzt, wenn sie an jene Tage zurückdenkt, bedauert E.K. es, dass sie lediglich drei Schulklassen absolvierte. Zur Schule ging sie in einem Kleid mit weißem Kragen. Emma wurde auch in die Reihen der Oktoberkinder und der Pionier aufgenommen; sie trug stolz ihr Pionier-Halstuch und das Abzeichen. Während sie sich an die Schule zurück erinnert, spricht sie davon, dass an der Wand die Porträts Lenins und Stalins hingen, dass in den Pausen niemand die Ordnung verletzte und die Mädchen während der Zeit Lieder sangen.

Zum Spielen war nach der Schule für gewöhnlich keine Zeit; wenn die Kinder aus der Schule gekommen waren und ihre Hausaufgaben gemacht hatten, halfen sie den Eltern, „mal hast du den Boden gewischt, mal das Mittagessen gekocht oder dich ums Vieh gekümmert“. Die kleinen Jungs spielten zumeist auf der Straße „Gorodki“ (Der Grundgedanke des Spiels ist es, fünf Holzklötzchen (Gorodki, „Städtchen“), die zu bestimmten Figuren aufgebaut werden, mit einem Wurfstock (Bita) aus einer bestimmten Entfernung (Kon, Polukon) von ihrem Platz (Gorod, „Stadt“) aus dem abgegrenzten Spielfeld zu schlagen. Ziel ist es, hierfür möglichst wenig Versuche zu benötigen; Anm. d. Übers.). Das Haus der Engelhards war zwar nicht groß, aber es bestand doch immerhin aus Kinderzimmer, elterlichem Schlafzimmer, Wohnraum und Sommerküche. Am meisten spürte man die häusliche Wärme und Behaglichkeit, wenn die Eltern abends von der Arbeit kamen und die kleine Familie vollzählig beisammen saß. Emmas Mutter, Amalie Kondratewna, scheute die Arbeit nicht; sie besaßen eine kleine Hofwirtschaft mit einer Kuh und einem Zicklein. Am Haus befand sich ein kleiner Gemüsegarten, in dem sie Kartoffeln anbauten.

So gleichmäßig und friedlich lebte die Mehrheit der deutschen Familien, und da bildete auch die Familie Engelhard keine Ausnahme. Schade nur, dass dieses familiäre Wohlergehen nicht lange währte; es kam das Jahr 1941. E.K. erinnert sich, wie man ihnen Ende August auf dem Dorfplatz per Lautsprecher ihre geplante Deportation verkündete. In aller Eile fingen sie an zu packen. Bis heute bedauert sie es, dass sie die Familienfotos nicht mitgenommen haben – vielleicht liegen sie heute noch auf dem Dachboden ihres Hau8ses in der Holzkiste, die der Vater hastig aus Holzleisten zusammenzimmerte, in der Hoffnung, dass der Krieg zu Ende gehen würde und sie in die heimatlichen Gefilde zurück kehren könnten. Das Vieh brachten sie in die Kolchose, zum letzten Mal sahen die Engelhards ihr Haus, zum allerletzten Mal schlossen sie die Haustür und sperrten sie mit dem Vorhängeschloss zu. Niemandem gelang es noch länger hier zu bleiben. Nur ein einziges Mal fuhr eine Bekannte von ihnen wieder dorthin, und nachdem sie zurückgekehrt war, meinte sie, dass neben dem Haus der Engelhards nun neue Hausherren, Inguschen, wohnten, und das Haus selber überhaupt nicht mehr existierte.

Sie nahmen damals alles mit, was sie irgendwie einpacken konnten, es gab keine Normen, keine Mengenbegrenzungen – sie durften alles mitnehmen, was sich in dem Fuhrwerk unterbringen ließ. Zunächst wurden sie über die Wolga gebracht, dann wurden sie auf kalte „Kälber-Waggons“ verfrachtet, wo sie auf dem Boden auf Stroh schlafen mussten. Unterwegs gab man ihnen nichts zu essen; sie nahmen das zu sich, was sie an den Bahnstationen kaufen konnten und was sie von zu Hause mitgebracht hatten. Die Fahrt dauerte etwa einen Monat, und in den ersten Tagen des Oktober trafen die Reisenden auf Sibirien – Krasnojarsk. Die Straße war bereits mit einer Eisschicht bedeckt, die Wege waren nicht schlammig und schmutzig, und die Familie wurde auf Fuhrwerken befördert, und so war von der Bahnstation eine ganze Wagen-Kolonne aufgebrochen, die immer kleiner wurde, je näher man an Jenisejsk heran kam.

Familie Engelhard wurde in das Dorf Malobjelaja geschickt. Unterwegs war es kalt, und E.K. erinnert sich, dass sie in sämtliche warmen Sachen dick eingehüllt waren, die sie mitgebracht hatten. So fuhren sie ins Dorf ein, bis zu den Augen vermummt, und die Ortsansässigen, die Kinder, schauten verwundert auf die neuen Siedler, als ob es Menschen von einem anderen Planeten wären. Man brachte sie in einem kleinen Häuschen am äußersten Rande des Dorfes zusammen mit einer weiteren Familie unter. Dieser Winter war ganz besonders schwierig. Und wenn sie nicht all die Sachen gehabt hätten, die sie aus der Heimat mitgebracht hatten und die sie nun gegen Kartoffeln oder Steckrüben eintauschen konnten, dann hätten sie es nicht bis zum Frühjahr geschafft. Das Brot, das an jeden ausgegeben wurde (350 g), reichte nicht. Aber im Frühling wuchs der Bärlauch; er wurde normalerweise in einem großen Kessel gekocht und erhielt dann von der Konsistenz her Ähnlichkeit mit Mus. Das Klima war ganz anders, es gab keine geeignete Kleidung; deswegen gingen die Kinder im Winter auch nicht auf die Straße. Amalie Kondratewna nähte ihrem Ehemann wattierte Filzstiefel. Im Frühjahr bekamen sie ein kleines Stück Land zugeteilt, um dort Kartoffeln anzupflanzen, nur Saatgut gab es nicht. Amalie Kondratewna ließ sich als Arbeiterin anstellen, grub Gemüsegärten um, und erhielt dafür Saatkartoffeln; sogar die Schalen pflanzten sie an.

E.Ks Mutter arbeitete als Melkerin, der Vater in der Anfangszeit auf einem Vieh-Hof, aber schon sehr bald schickte man ihn als Zimmermann in das Dorf Jalan. Dorthin zog dann auch die ganze Familie um. Man teilte ihnen ein Häuschen mit zwei Zimmern zu, aber lange wohnten sie dort nicht. 1943 starb Konrad Kondratewitsch: die unzureichende Ernährung und die schwere körperliche Arbeit zeigten ihre Auswirkungen. Amalie Kondratewna arbeitete in der Bäckerei. Im Alter von 14 Jahren organisierten sie für Emma Kondratewna eine Arbeit im Kontor, wo sie die Fußböden wischen musste, und das war ein großes Glück. Mit 17 Jahren machte E.K. sich auf den Weg nach Woltschij Bor (Wolfswäldchen; Anm. d. Übers.) zur Holzbeschaffung (das liegt etwa drei Kilometer von Jalan entfernt). Dort blieb sie zwei Jahre. In Woltschij Bor waren nicht nur Deportierte tätig, sondern auch Kriegsgefangene. E.A. war Markiererin, und es gehörte zu ihren Pflichten, an der Stirnseite der Stämme in römischen Ziffern die Qualität, den Baum-Umfang usw. zu vermerken; einmal am Tag bekamen sie als Mittagessen eine warme Mahlzeit. Sie wohnten in etwa 20 Meter langen Baracken, und es gab eine Männer- und eine Frauen-Baracke. Und als sie ihre eigenen Familien gründete, lebten die jungen Familien in der Männer-Baracke, fehlende Pritschen wurden dazugestellt und man grenzte sich mit Hilfe von Vorhängen von den anderen ab. Es wurde auch warme Kleidung ausgegeben: wattierte Jacken , Hosen und Filzstiefel. Durchnässte Kleidung trockneten sie in einem speziell dafür bereitgestellten Raum- der Feuerwehr-Station. Aber sie arbeiteten nicht nur, sie verstanden es auch zu feiern. An den freien Tagen fanden im Klub Tanzveranstaltungen statt, man tanzte unter er musikalischen Begleitung von Lukjanzews Harmonika und sang lustige Vierzeiler. Einmal in zwei Monaten kam eine Kino-Vorführung dorthin. Es gab hier viele junge Leute, und deswegen kamen die Mädchen aus den nahegelegenen Dörfern, um in Woltschij Bor Zwiebeln, Knoblauch und anderes zu verkaufen, was natürlich ein Anlass zum Kennenlernen war: schließlich konnte man die jungen Burschen in den Dörfern nach dem Kriege an den Fingern abzählen. Jedes Mädchen will doch, egal zu welcher Zeit es lebt, attraktiv sein und gefallen. Emma Kondratewna trug Kleider aus Sackleinwand, die mit Lärchenrinde verziert waren; dank dieser Rinde erhielt das Leinen eine helle, bordeauxrote Farbe. Genauso verwendeten sie auch Permanganat-Kali zum Einfärben. Dort in Woltschij Bor begegnete E.K. ihrem Schicksal – ihrem zukünftigen Mann Iwan Olosoiwitsch (Aloisowitsch) Marsal. Er war Deutscher aus Odessa, Kriegsgefangener, denn er lebte auf besetztem Territorium. Nach dem Sieg brachte man ihn in die Stadt Krasnojarsk, wo er ein Jahr lang im Gefängnis saß. Danach transportierten sie ihn zur Holzbeschaffung nach Woltschij Bor. Zu seinen Pflichten gehörte die Holzabfuhr mit Hilfe von Pferden. E.K. Erzählt, dass sie auch unbedingt einen Mann ihrer Nationalität heiraten wollte, wenngleich viele russische Burschen ein Auge auf sie warfen; trotzdem war sie ganz fest entschlossen – nur ein Deutscher. Iwan Aloisowitsch bewirtete seine zukünftige Ehefrau mit kleinen, getrockneten Aprikosen, die er dort in Woltschik Bor, kaufte, wo es ein kleines Lädchen gab, das mit Brot, Fleischkonserven, Pasteten handelte. Die Hochzeit war ganz schlicht. I.A. war es gelungen irgendwo einen Liter Schnaps aufzufinden, und außerdem dünsteten sie Kartoffeln mit Fleisch. In der Baracke wurde für die junge Familie ein Eckchen mit Vorhängen abgeteilt und auf dem hölzernen Liegebett legte man ein paar Bretter dazu. Über sie kann man sagen: sie lebten in ärmlichen Verhältnissen, aber sie waren glücklich. Aus dem Militärmantel ihres Mannes nähte E.K. sich ein Jackett. So lebten sie bis zum Frühjahr 1950, als man ihre Familie nach Ust-Kem schickte. E.K. bekam drei Kinder; sie zog sie groß und hat heute Enkel und Urenkel. Das Leben ging erfolgreich aus, und das heißt – man hat nicht umsonst gelebt.

 

O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken


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