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Jakob Genrichowitsch Pister

Geboren am 1. August 1926 im Kanton Krasnij Jar, Ortschaft Alt-Urbach, Gebiet Saratow. Als er von seinem Dorf erzählt, ist er plötzlich wie umgewandelt – aus seinen Worten hört man Stolz heraus: „Mein Dorf war sehr groß, es zählte ungefähr 510 Häuser, aber die Bevölkerungszahl sank im Jahre 1933 rapide, denn es herrschte eine Hungersnot; die Dorfbewohner zerstörten ihre Häuser und zogen in die Stadt Engels. Das Dorf hatte breite Straßen und es war in zwei Kolchosen aufgeteilt – eine obere und eine untere…“. Jakob Genrichowitschs Eltern, Vater Heinrich Genrichowitsch (geboren am 24. November 1884) und Mutter Sofia Iwanowna (geboren 1891) unterhielten eine Hofwirtschaft; sie war nicht so groß – es gab dort eine Kuh, ein Kälbchen, ein paar Schafe, Zicklein und Ferkel. Geld bekamen sie von der Kolchose nicht, obwohl sie dort sogenannte Tagewerke verdienten, aber in der Regel wurden diese nach einer gewissen Zeit vergütet: etwa ein Jahr später, wenn alle Tagesarbeitseinheiten der Familie zusammen gekommen waren, wurde Getreide ausgegeben. Jedes Jahr teilte die Kolchose den Arbeitern ein Stückchen Land zu, und auf diese Weise bauten sie selber ein wenig an und konnten anschließend ernten. Jakob Genrichowitsch erzählt, dass die Familie hinter dem Dorf einen kleinen Garten bewirtschaftete, in dem Obstbäume standen – Birnen-, Pflaumen-, Kirsch- und Apfelbäume.

Die Familie lebte in einem Haus mit drei Zimmern (Wohnzimmer, Küche und Schlafraum). Jakob hatte noch einen kleinen Bruder namens Heinrich (geboren 1928). Die Familie war lutherischen Glaubens, deswegen gingen sie häufig in die Kirche. Im Dorf Alt-Urbach gab es zwei Kirchen – ein Winter- und eine Sommerkirche. Die Sommerkirche befand sich in einem Garten; dort fanden die Gottesdienste bei warmem Sommerwetter statt. „… als man uns verbot an Gott zu glauben, stellte die Kirche in unserem Dorf ihren Betrieb ein, ich sah, wie sie das Holzkreuz vom Kirchendach absägten, wie es zu Boden fiel …“. Im weiteren Verlauf wurde in der ehemaligen Kirche der Klub eingerichtet, wo sich abends die Jugend zum Tanz versammelte, und an den freien Tage gab es dort abends Kinovorführungen. Im Dorf wurde ausschließlich Deutsch gesprochen, denn hier lebten nur Deutsche, und in der Schule galt Russisch als Fremdsprache. Jakob Genrichowitsch erinnert sich, dass der Russischunterricht fröhlich und lautstark verlief, denn er wurde von der jungen russischen Lehrerin Simonowa geleitet, während die anderen Stunden von Männern erteilt wurden; bei ihnen ging es in puncto Disziplin sehr streng zu. Die Schule bestand lediglich aus einem Stockwerk, aber sie war groß und geräumig.

So lebte die Familie Pister ruhig und geregelt bis August 1941. Und dann begann alles mit einem in der Zeitung „Nachricht“ veröffentlichten Artikel vom 24. August, dessen Inhalt kurz zusammengefasst besagte, dass sich auf dem Territorium der Republik tausende Diversanten versteckt hielten. Mit dem 28. August begann die stufenweise Aussiedlung der Familien. Vor der Abfahrt schlachteten sie die Ferkel, brieten das Fleisch ringsherum an und übergossen es mit Fett; sie packten Kleidung zusammen, verpackten Mehl… Die Familie Pister wurde am 11. September 1941 in Güterwaggons von der Bahnstation Besymjanka abtransportiert. Jakob Genrichowitsch erinnert sich, dass es in den Waggons so wenig Platz gab, dass nicht einmal ein Apfel hätte zu Boden fallen können, man konnte sich nirgends zum Schlafenniederlegen; sie saßen, eng aneinandergeschmiegt, auf Pritschen. Es gelang, den kranken Alten ein winziges Plätzchen zu überlassen, damit wenigstens sie sich ein wenig niederlegen konnten. Es war eine lange Reise: etwa einen Monat waren sie bis nach Krasnojarsk unterwegs; dort ließ man sie auf einen Lastkahn umsteigen. Ihre Sachen mussten sie an Deck lassen, sie selber wurden im Frachtraum untergebracht. In der Ortschaft Galanino hieß man sie Anfang Oktober aussteigen. Es war schon kalt, Schnee fiel. Einige Tage verbrachten die Wolgabewohner in einer Scheune, während sie auf ihre Verteilung warteten. Die Scheune war halb verfallen, es gab keinen Ofen, und um nicht zu erfrieren, sammelten sie am Ufer des Jenisej Kohle und entfachten Lagerfeuer. Einige Zeit später schickte man die Familie Pister in die Ortschaft Belskoje im Pirowsker Bezirk. J.Gs Eltern fanden Arbeit in der Maschinen- und Traktorenstation. Untergebracht wurden sie in einem Haus, das ganz am Rande des Dorfes stand; es verfügte über ein Zimmer (etwa 20 qm groß), aber drei Familien mussten es sich teilen. Es gab keine Brotmarken, stattdessen lagen in den Läden Listen, in denen genau aufgeführt war, wer wie viel Brot zu bekommen hatte: für nicht arbeitende Familienmitglieder gab es anfangs keine Essensnorm – mal waren es 250 Gramm, mal 200, kleine erhielten 300 Gramm, Arbeiter 500. Es kam auch vor, dass überhaupt kein Brot ausgeteilt wurde, dass in den Listen überhaupt nichts erwähnt war.

Im Winter 1942 schickten sie den halbwüchsigen, 16 Jahre alten, Jakob in die Arbeitsarmee; er geriet nach Bogoruslan. Zuerst wurden sie in einem Dorf unweit der Stadt untergebracht, nachdem man sie, in Abhängigkeit vom verfügbaren Wohnraum, bei verschiedenen Hauswirten einquartiert hatte. J.G. kam zu einer Großmutter, die mit ihrem sechsjährigen Enkel zusammenlebte. Ein Bett gab es nicht, er schlief dort in einer Kiste. Es gab auch keine Kantine, deshalb gab man Trockenrationen aus; er aß alles innerhalb von drei Tagen auf, dabei hätte sie für einen ganzen Monat reichen sollen. Für gewöhnlich wurden 1200 Gramm Graupen und 1600 Gramm Fleisch ausgegeben; er erhielt stattdessen Hering und 400 Gramm Fett (manchmal auch ein Stück Käse); Brot bekamen sie jeden Tag am Kiosk, und zwar 600 Gramm, in der Regel zwischen 18 und 19 Uhr abends. Aber während er mit diesem Brot auf dem Heimweg war, brach er ganz unbewusst ein Stückchen nach dem anderen davon ab, bis er alles aufgegessen hatte. Manchmal wurde das Brot zu knapp abgewogen. Nach einiger Zeit verlegten sie J.G. nach Bogoruslan, in eine einstöckige Neubau-Baracke – drinnen standen Doppelpritschen, in einer Ecke gab es einen „Kanonenofen“, der eher einem Eisenfass ähnelte. Er heizte sehr schlecht, so dass man nicht den ganzen Raum damit erwärmen konnte; den Platz um den Ofen herum bekamen diejenigen, die sich am besten durchsetzen konnten. Bettwäsche war nicht vorhanden, die Leute schliefen in ihrer Kleidung, die Mütze diente als Kopfkissen, und wenn es ganz besonders kalt war, setzten sie die Mütze auf den Kopf. Sie bekamen zweimal zu essen: am Morgen vor der Arbeit und abends nach der Arbeit. Das Essen war immer dasselbe – Wasserbrühe. J.G. erinnerte sich, dass man gelegentlich in der Flüssigkeit ein Stückchen Kartoffel entdecken konnte; außerdem bekamen sie 600 Gramm Brot. Aber auch hier war es wieder so – wenn du den Koch ganz gut kanntest, konnte es sein, dass sie mit der Schöpfkelle ein wenig tiefer in den Kessel hineingingen, wenn nicht – dann hattest du nur Flüssigkeit in deiner Schüssel. Sie arbeiteten von 6 Uhr morgens bis 19 Uhr abends. In der Stadt Bogoruslan entwickelte sich die Erdöl-Industrie, und deswegen hoben die Arbeiter im Sommer Baugruben für die Erdölförderung aus; mit Schubkarren fuhren sie das Erdreich ab. Und im Winter fällten sie Bäume (Linden, Pappeln, Espen) von je 2 – 2,5 Metern Länge. Für gewöhnlich gingen sie entlang der Trasse, wo bei sie die Bäume aus eigener Kraft auf ihren Schultern schleppten. Aber es waren nicht nur Männer, die in den Trudarmeen schufteten, auch Frauen wurden eingezogen. J.G. erzählt, dass die Frauen im Frühjahr die letztjährigen Kartoffeln vom Boden aufsammelten und anschließend daraus Fladen buken; im allgemeinen verkauften sie diese für 5 Rubel – wenn sie noch heiß waren, schmeckten sie ganz vorzüglich. Im November 1943 erkrankte J.G. und wurde aufgrund seines Gesundheitszustands aus der Arbeitsarmee entlassen. Und wieder folgte eine Fahrt in „Kälber“-Waggons. Bis nach Krasnojarsk waren sie 12 Tage unterwegs, zu essen bekamen sie in der Zeit nichts. Er ernährte sich ausschließlich von Ölkuchen, die auf der benachbarten Waggon-Plattform transportiert wurden. Von der Stadt Krasnojarsk aus musste er mit dem Schiff bis zum Dorf Galanino fahren, aber die Fahrkarte sollte 39 Rubel kosten, und er hatte doch kein Geld. Da begann J.G. Almosen zu sammeln; bis zum Abend hatte er 29 Rubel beisammen, es fehlten nur noch 10. Er begab sich auf einen Hof, aber dort war niemand; er wollte schon wieder umkehren … Da kommt ihm ein Mädchen von vielleicht 19 Jahren entgegen und fragt ihn, was er dort sucht. Irgendwie erklärte Jakob Genrichowitch seine
Notsituation. Da nahm das Mädchen plötzlich aus seinem Portemonnaie 10 Rubel und gab sie ihm. Jetzt, da er sich an die Geschichte zurückerinnert, sagt er, dass er ihr heute auch aus jeder beliebigen Not heraushelfen würde, wenn er nur wüsste, wer sie war. So helfen sich häufig Menschen untereinander, die sich überhaupt nicht kennen, und sie prägen sich in den Film des Lebens als klarer, heller Fleck ein. Nachdem er in Galanino angekommen war, ging er sofort weiter ins Dorf Bjelskoje.

„Das Leben in Bjelskoje wurde immer schwieriger. Es gab dort nichts zu essen, nirgends konnte man etwas verkaufen. Im ersten Frühjahr, als sie uns ein Stückchen Land zuteilten, nahmen wir es nicht an, weil wir dachten, wir würden wieder nach Hause fahren, und später hatten wir dann kein Glück mehr noch eine Scholle Boden abzubekommen“. Die Menschen waren schlecht, grausam: als sie uns gerade erst gebracht hatten, kam sie angerannt und gafften uns an, als wären wir wundersame Seltenheiten, und sie brüllten herum, dass uns Hörner wüchsen. Als das Leben dann ganz unerträglich wurde (im Dezember 1943), packte die Familie Pister ihre kümmerlichen Habseligkeiten – eine Axt und ein gusseisernes Töpfchen – auf einen Handschlitten und floh in die Stadt Jenisejsk.

In Jenisejsk ließen sie sich in der ersten Zeit in einer Baracke bei Bekannten nieder. Lange Zeit war es ihnen nicht möglich eine Arbeit zu finden, denn sie besaßen keine Papiere. Und so musste die Mutter zurück nach Bjelskoje, um bei der ihr bekannten Sekretärin eine Bescheinigung vom Dorfrat zu holen (dieser Frau Lisa hatten sie oft im Haus geholfen). Die Bescheinigung wurde zwar ausgestellt, doch lediglich auf den Namen des Familien-Oberhauptes, aber sie benötigte sie für alle. Nur dem Familienvater, Heinrich Genrichowitsch, gelang es einen Arbeitsplatz zu finden, während Jakob sich erneut auf den Weg machen musste, um für sich eine Bescheinigung zu beschaffen. Sie fanden Arbeit in der Holzfabrik. 1944 gab es ihretwegen eine Rückfrage bei der Kommandantur, aber sie rettete der Umstand, dass die Holzfabrik durch den Krieg zwischenzeitlich auf eine „militärische Schiene“ gebracht worden war und arbeitende Hände hier viel dringender benötigt wurden, als auf dem Lande. J.Gs Vater arbeitete mit Pferden, er transportierte Lasten, während Jakob Genrichowitsch selber anfangs als Zimmermann tätig war; später versetzten sie ihn in die Tischler-Werkstatt, und mit der Zeit wurde er Brigadeführer und bei der Betriebsleitung stets gut angeschrieben. Der Familie wurde eine Wohnung in der Lenin-Straße, Baracke Nr.8 , zugeteilt (heute stehen dort ein fünfstöckiges Haus sowie das Postamt). Die Kommandantur befand sich auf dem Gelände der Schiffswerft (heute ist in diesem Gebäude die Tuberkulose-Klinik untergebracht). Außerdem gab es in der Stadt noch eine Miliz, ebenfalls in der Lenin-Straße, die man von der Hofseite aus betreten musste. Der Kommandant entließ einen sogar ohne Erlaubnis nach Jenisejsk in den Urlaub fahren; er war ein sehr guter Mensch, der niemanden bestrafte.

1951 heiratete Jakob Genrichowitsch Dorothea Gottfriedowna. Sie bekamen 4 Kinder. Jakob Genrichowitsch sagt, dass er eines weiß: die Sowjetmacht hat sich verrechnet, denn die Wolga-Deutschen hätten dem Land dort an der Wolga vielmehr Nutzen gebracht

 

O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken


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