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Verbannungs- / Lagerhaftbericht von Walentina Wasiljewna Pjatkowa

Geboren 1936 in Biriljussy.

Миусский Василий ЯковлевичEltern:
Vater – Wasilij Jakowlewitsch Miusskij, verschleppt aus der Region Astrachan.
Mutter – Maria Filippowna Erich, ebenfalls enteignet, verschleppt aus der ASSR der Wolga-Deutschen in die Siedlung Polewoje, Bezirk Biriljussy.

(Information aus dem Buch der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen in der Region Krasnojarsk, Band 5: MEUSSKIJ (Miusskij), Wasilij Jakowlewitsch: geb. 1908 in dem Dorf Labojka, Gouvernement Astrachan. Stammte aus einer Großbauern-Familie. Lebte eine Zeit lang im Bezirk Biriljussy, Region Krasnojarsk. Arbeitete als Bau-Techniker am Biriljussker Bezirks-Industriekombinat. Am 25.12.1941 verhaftet. Angeklagt wegen antisowjetischer Agitation. Am 25.07.1942 vom krasnojarsker Regionsgericht zu 8 Jahren Arbeits- und Erziehungslager sowie 5 Jahren Entzug aller politischen Rechte verurteilt. Am 11.09.1958 von einer Sonderkommission des Obersten Gerichts der RSFSR rehabilitiert (P-10095).

Man verurteilte ihn, weil er, als in Biriljussy irgendetwas gebaut werden sollte, gesagt hatte: „Wozu bauen? Der Deutsche ist im Vormarsch, ist doch alles Unsinn“. Die Mutter konnte ganz hervorragende Vorhänge mit Richelieu-Stickerei nähen. Während der Haussuchung wurden sie beschlagnahmt und später im Haus des Staatsanwalts wiedergesehen. Walja und ihre Schwester Toma trug an ihren Biretten kleine Kätzchen-Broschen; als die Haussuchung stattfand, versuchten sie die Kätzchen zu verstecken, denn sie waren ihnen lieb und teuer. Die Mutter war eine sehr gute Hausfrau und in allem sehr reinlich; das kam von ihrer deutschen Erziehung.

Эрих Мария ФилипповнаDie Steuern waren sehr hoch. Wenn man Hühner hielt, mußte man die Eier abgeben. Besaß man ein Kälbchen, dann durfte man einen großenTeil des Fleisches und auch das Fell nicht behalten; außerdem durfte die Tierhaut nicht abgesengt werden. Irgendwie zündeten sie ihr Kälbchen mit Stroh an, jemand denunzierte sie, und Maria Filippowna wäre um ein Haar in die Trudarmee geschickt worden (außerdem war ihr Mann ja ein „Staatsfeind“); man nannte sie Faschistin u.ä. Und das Kälbchen nahm man ihnen fort. Gerettet wurde sie durch Onkel Ljonja, dem Vorsitzenden der Fahrzeug- und Traktoren-Station.

Ihre jüngere Schwester Lina wurde zur Arbeitsarmee in die Mongolei verschickt. Diese Arbeitsarmee war, ihren Berichten zufolge, etwas ganz Furchtbares. Später allerdings hatte sie Glück, sie heiratete einen Mongolen, einen sehr guten Menschen.

Zuerst wurde Wasilij Jakowlewitsch zum Tod durch Erschießen verurteilt, aber der Vorsitzende der Fahrzeug- und Traktoren-Station setzte alles daran, um ein gutes Wort für ihn einzulegen; daraufhin wurde die Todesstrafe in 10 Jahre Haft abgeändert. Man brachte ihn auf einen Lastkahn und schlug, wie W.W. bestätigte, absichtlich ein großes Loch in den Rumpf, um den Kahn zu versenken. Der Vater und noch ein paar andere Häftlinge sprangen von Bord und blieben am Leben. (A.B.: Von einem derartigen Fall einer Lastkahn-Versenkung in der Nähe von Jenisejsk berichteten viele Leute, aber es handelte sich offenbar doch um ein Unglück – im Jahre 1942 waren Gefangene für den Einsatz auf den Großbaustellen dringend notwendig, und man hätte sie sicher nicht mit Absicht untergehen lassen).

Walentina Wasiljewna erinnert sich, wie 1941 deportierte Letten nach Polewoje vertrieben wurden. Sie waren gut gekleidet. Man trieb sie zufuß heran – in einer großen Formation. Sie bauten sich Erdhütten und richteten sich nach und nach notdürftig ein.

Wasilij Jakowlewitsch verbüßte seine Lagerstrafe in Krasnojarsk. Die Mutter fuhr zu ihm ins Lager. Später verminderten sie sein Strafmaß aufgrund der guten Arbeit, die er geleistet hatte; so saß er lediglich 7 Jahre ab, aber nach der Lagerstrafe, im Jahre 1949, schickte man ihn nach Podtjossowo, wohin er für 5 Jahre verbannt wurde, und unterstellte ihn der dortigen Kommandantur. Die Familie kam mit einem Raddampfer unter Wachbegleitung aus Polewoje zu ihm. Der Wachmann verliebte sich in Maria Filippowna, W.W. erinnert sich daran als eine komische Begebenheit.

Sie bauten ein kleines Häuschen an der Koschewoj-Straße. In Podtjossowo arbeitete er als Leiter des Holzverarbeitungskombinats. Bei der Arbeit war er gut angeschrieben, aber die Kommunisten verhielten sich ihm gegenüber mißtrauisch. Er starb infolge eines Unglücksfalls in seinem 62. Lebensjahr. Während der Abnahme eines neuen Schiffs rutschte er während des Stapellaufs auf dem vereisten Fallreep aus, fiel aus großer Höhe herab und brach sich die Wirbelsäule. Danach lebte er noch zwei Jahre.


Perwomajskaja-Straße 3

Die Kommandantur in Podtjossowo befand sich in der Perwomajskaja-Straße 3, in einem langgezogenen, zweigeschossigen Gebäude. Die Ehefrau des Kommandanten war die Freundin von Maria Filippowna, ihre Kinder spielten häufig zusammen. Der Kommandant benahm sich gegenüber den Verbannten sehr grausam, er schlug die Leute und trat sie mit Füßen. Sie besaßen eine große Wohnung, die in drei Bereiche aufgeteilt war. In einem davon befand sich sein Arbeitszimmer. Dort verhörte er Menschen, schrie sie an – und in den beiden anderen Bereichen war alles zu hören.

Die Verbannten lebten unter sich in der Kalinin-Straße, einem Bezirk mit etwa 10-11 Häusern.

In der Ingenieursabteilung der Schiffsreparaturwerft gab es viele verbannte Konstrukteure: Tscherbotarjow, Urbel, Woldemar Martinowitsch, Michail Iwanowitsch (an die Nachnamen kann sie sich nicht erinnern) / Bogdanow (kann sein, dass er nicht zu den Verbannten gehörte). Es gibt auch noch Erinnerungen an den Verbannten-Arzt Bendig. Diese Leute hinterließen einen großen Einduck wegen ihre Bildung, ihres Fleißes, ihrer Intelligenz. Sie erhoben niemals die Stimme gegen jemanden.

Das Lager in Podtjossowo enstand etwa 1943-44; Häftlinge bauten dort einen Damm.

Heute ist vom Lager nichts mehr erhalten. An seiner Stelle wurden Häuser errichtet – das ist der Bezirk an der Koschewoj- / Kalinin-Straße (in dem Teil, welcher der Einfahrt ins Dorf am nächsten liegt). An dem Damm wurde rund um die Uhr gearbeitet. Alle Spezialisten am Bauprojekt waren nach § 58 verurteilt worden, unter ihnen befanden sich auch Ingenieure und ehemalige Fabrik-Direktoren. Während des Dammbaus wurden die Steine mit Pferden herangeschafft und dann in den Jenisej hinabgeworden.

Die Versorgung in Podtjossowo war gut, zumindest so lange sie in der Zuständigkeit des Norilsker Kombinats lag. Wasilij Jakowleitsch erhielt 1500 Rubel, was zu der damaligen Zeit eine Menge Geld war.

Als Stalin starb sagte Wasilij Jakowlewitsch: „Gott sei Dank, er ist verreckt“. W.W. stritt damals mit ihm (alle mußten furchtbar weinen), aber inzwischen ist sie mit ihm völlig einig. Er meinte auch zu ihr: „Töchterchen, jetzt streitest du mit mir, aber eines Tages wirst du noch an meine Worte denken“.

Ihr Ehemann, Viktor Fjodorowitsch Pjatkow, lebte seit 1938 in Podtjossowo, anfangs wohnten sie dort in Erdhütten. Aber sie waren damals aus eigenem Willen nach Podtjossowo gekommen und nicht dorthin verschleppt worden. Zuvor hatten sie in Prediwinsk gewohnt.

1949 oder 1950 sperrten sie ihn wegen Flucht aus der Betriebsfachschule (eine solche Schule gab es an der Jenisejsker Schiffsreparaturwerft) ein. Dafür bekam er vier Jahre Haft, aber W.F. hatte Glück: sie gaben ihm schließlich nur 6 Monate. Aus dem Jenisjsker Gefängnis schickten sie ihn in ein Lager nach Nowomaklakowo. Dort existierte das sogenannte Anrechnungssystem: wenn man das Arbeitssoll zu 150% erfüllte, bekam man für einen Tag drei angerechnet, bei 127% (A.B. – 125%?) für einen Tag zwei, und wenn man weniger schaffte, dann zählte ein Tag auch nur als ein Tag. Sie bauten das Holzkombinat. Im Lager wurden nicht weniger als 1000 Mann gehalten, darunter viele aus Podtjossowo. Hauptsächlich waren dort Kleinkriminelle; Schwerverbrecher und politische Häftlinge gab es dort praktisch überhaupt nicht. Der Lohn wurde berechnet. Das Geld bekam der Brigadier ausgehändigt.

Die Befragung erfogte durch Margarita Muchamedrachimowa.

(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarkser „Memorial“-Gesellschaft)

Siebte Expedition für Geschichte und Menschenrechte, Podtjossowo, Nowotroizkoje, 2010.


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