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Frieda Friedrichowna Gontscharowa

Frieda Friedrichowna Gontscharowa (Mädchenname Schlei) wurde am 8. Januar 1935 in Odessa in der Familie des Bauern Driedrich Davidowitsch Schlei und Olga Iwanowna Sabelfeld (geb. 1916) geboren. Neben Frieda hatte es in der Familie bereits ein Kind – Hugo - gegeben, aber der Junge war noch im Säuglingsalter gestorben. Kaum hatte Frieda das dritte Lebensjahr vollendet, als ihre Eltern sich trennten. Die kleine Frieda wurde daraufhin von ihrer Großmutter, Lydia Bogdanowna Reich (geboren am 9. Dezember 1879) zu sich an die Wolga geholt, und wenig später traf dort auch Olga Iwanowna (die Mutter) ein.

Das Haus der Großmutter grenzte an den städtischen Park; es war ein kleines Haus, in dem es lediglich drei Zimmer und einen Anbau gab, aber es beherbergte ihre gesamte, nicht gerade kleine Familie, welche aus sechs Personen bestand – Großmutter Lydia Bogdanowna, Großtante Frieda Helbich, Tante Lydia und Ehemann Albert. Weitere Kinder gab es im Haus nicht, und so wuchs Frieda als Einzelkind auf. Die Erwachsenen gingen zur Arbeit: Olga Iwanowna, Friedas Mama, fand eine Arbeit als Kellnerin am Bahnhofsbüfett; Tante Lydia war Schulleiterin der größten Schule von Engels und unterrichtete Literatur (russische und deutsche) sowie deutsche Sprache. Ihr Ehemann Andrej war Tschekist. Großtante Frieda Helbich war einst mit einem Oberkommissar für nationale Angelegenheiten in der deutschen Wolgagebiet verheiratet gewesen – mit Paul Helbich. Nach dem Tode ihres Mannes hatte ihre Schwester Lydia (Friedas Großmutter) sie zu sich nach Hause geholt.

Die kleine Frieda besuchte den Kindergarten. Frieda Friedrichowna erinnerte sich, dass zu den Morgenveranstaltungen „Tscheljuskiner“ angefahren, Grenzsoldaten anmarschiert kamen. Frieda Friedrichowna weiß auch noch, dass sie eine nicht besonders große Wirtschaft hatten – ein kleines Gartengrundstück (ein Hundertstel), auf dem drei Kirschbäume wuchsen, an Vieh besaßen sie nur Ziegen. Aber das Wertvollste in Friedas Familie war die Bibliothek. Von der bevorstehenden Deportation erfuhr Frieda durch die Erwachsenen. Am schärfsten in der Erinnerung verwurzelt blieb von diesem schrecklichen Ereignis im Leben ihrer Familie der Augenblick, als F.F. im Kindergarten von den anderen Kindern Abschied nehmen musste. „Ich ging in den Kindergarten, um mich zu verabschieden; ich weiß noch ganz genau, dass eine der Kindergärtnerinnen besonders lieb hatte, und sie kam extra mit hinaus, um mich noch ein Stück zu begleiten. Einen ganzen Häuserblock lang lief sie neben mir hier und weinte. Ich erinnere mich sehr gut an sie, und jetzt steht sie vor meinen Augen – in ihrem weißen Kittel und dem weißen Kopftüchlein, eine gealterte Frau…“. Wir machten uns in aller Eile fertig; es gelang uns Leibwäsche, Wolldecken, ein Kissen einzupacken; wir nahmen auch die Nähmaschine (wir tauschten sie später gegen Lebensmittel ein), einen gusseisernen Kessel, eine emaillierte Kaffeekanne, eine große, runde Schüssel, einen Drei-Liter-Topf, Gabeln, Löffel … mit. Von den Büchern packten wir nur Großmutters Gebetsbuch ein, aber die ganze Bibliothek mussten wir zurücklassen.

Die Fahrt war beschwerlich und dauerte lange, und keiner der Reisenden wusste, wohin man sie brachte. Aber das Schlimmste war, dass niemand wusste, was nun weiter mit ihnen geschehen würde. Wir fuhren in „Güterwagen“, jede Familie war bemüht, für sich ein kleines Eckchen abzuteilen. Die Erwachsenen stiegen bei jedem Zug-Halt aus, um ein wenig abgekochtes Wasser zu holen und von dem mitgenommenen Geld etwas zum Essen zu kaufen.

Ëèäèÿ Áîãäàíîâíà ÐàéõDen ersten Eindruck von Sibirien erhielt Frieda durch ein ganz besonderes Ereignis. An einem kleinen Bahnhof stieg der Onkel, wie immer, aus, um heißes Wasser zu holen, und er kehrte zurück mit ein paar Zirbelkiefer-Zapfen – sie waren ganz voller Harz, Frieda machte sich dabei schmutzig, aber die Nüsse schmeckten sehr gut.

Zuerst wurde F.Fs Familie in den Bezirk Minusinsk, in die Ortschaft Gorodok, geschickt. Sie wurden in einem Haus untergebracht, aber die Bewohner wollten nicht mit Deutschen zusammen leben und zogen zu ihren Verwandten. Die Erwachsenen arbeiteten in der Kolchose, und Mama war in der Kantine als Kellnerin tätig. Im November 1941 holten sie Onkel Andrej zur Trudarmee. Er geriet nach Kaiskie Lesa und musste dort in der Holzfällerei arbeiten. „Die Lebensbedingungen waren sehr schlecht, die Arbeit kräftezehrend, oft herrschte Hunger…“. Als Onkel Andrej schwer erkrankte, wurde er 1944 abgemeldet, und man setzte ihn in einen „Güterwagen“ nach Atschinsk. In seinen Armen starb sein Freund, und Friedas Onkel hätte mit Sicherheit dasselbe Schicksal ereilt, wenn ihn nicht zufällig bei einer Arztvisite ein Arzt erkannt hätte – ein entfernter Verwandter namens Alexander Karlowitsch Schaufer. Nachdem sie Atschinsk durchfahren hatten, holte er ihn aus dem Zug und brachte ihn zu sich nach Chakassien, nach Tuim, wo er den Onkel behandelte und wieder auf die Beine brachte.

Aber nicht nur Männer wurden in die Arbeitsarmee einberufen. Auch Frauen wurden zur Arbeit herangezogen. So geschah es auch mit der Großtante Frieda Helbich (trotz ihres fortgeschrittenen Alters!!!), und zusammen mit ihr holten sie im Frühjahr 1942 auch die Tante Lydia Iwanowna und brachten sie weit fort, nach Dickson.

„Oma Frieda hat nur deswegen überlebt, weil der Kommandant sie als Kindermädchen und Haushaltshilfe einstellte…“. Aber Lydia Iwanowna erwischte es ganz schlimm – sie arbeitete in einer Fischfang-Brigade. Die schwere Arbeit bewirkte das Ihre: die an einer Erkältung leidende L.I. bekam eine Mittelohrentzündung, eine Operation war dringend erforderlich, durch die auf dem Gesicht der jungen, hübschen Frau eine hässliche Narbe zurückblieb. Neben all dem erkrankte sie auch noch an Typhus und überlebte wie durch ein Wunder.

1942 1urde F.Fs Familie noch weiter fortgeschickt, in den hohen Norden, und diesmal gerieten sie nach Turuchansk. F.F. erinnerte sich noch an den Namen des Schiffs, mit dem sie auf dem Jenisej fuhren – „Maria Uljanowa“. Am neuen Ort wurden sie in Komsomolzen-Wohnungen untergebracht. „Uns nahm ein Mädchen, eine Sekretärin, auf, weil wir nicht so viele waren; seine Mutter begann heftig mit ihm zu schimpfen, dass es „diese Faschisten angeschleppt“ hatte. Aber das Mädchen beruhigte seine Mutter und sagte: Mama – das ist ein Auftrag. Man teilte uns ein Eckchen in der Küche neben dem Ofen zu, und unsere Sachen wurden in der Scheune gelagert …“.

Ñàáåëüôåëüä Îëüãà ÈâàíîâíàF.Fs Mutter arbeitete in der Holzfällerei, rodete Baumstämme und meißelte außerdem im Winter festgefrorene Holzteile aus dem Fluss, die im Eis gefangen waren. Aber es geschah ein Unglücksfall, bei dem Olga Iwanowna sich ein Bein brach, und nachdem sie wieder genesen war, bereitete sie für die Arbeit das Mittagessen zu.

Bald darauf wurden Baracken aus dem nassem Holz errichtet, in ihnen war es entsetzlich kalt, der Kanonenofen schaffte es nicht, einen derart großen Raum zu beheizen. Einige Zeit später wurde ein altes Häuschen frei, und darin kam F.F. dann auch mit ihren Eltern unter. Mit ihnen lebten dort noch zwei weitere Familien. Und dort überwinterten sie auch: „Wenn meine Mama und die Mütter der beiden anderen Familien zur Arbeit gingen, dann blieben wir drei Kinder bis in die späte Nacht hinein allein zu Hause; es war sehr kalt. Wir hatten kein Brennmaterial, und abends kehrten sie zurück und fingen an, den Ofen einzuheizen. Tagsüber waren die Barackenwände mit Reif bedeckt, der Eimer, in den wir unsere kleine Notdurft verrichteten war gefroren, und wir lagen zusammen mit er Großmutter auf der hölzernen Bettstelle, vollständig angekleidet und mit einem Daunen-Federbett zugedeckt….“ Wenn der Frühling nahte, ging F.F. in den Wald und sammelte in den aufgetauten Stellen im Schnee Preiselbeeren. Bald darauf tauchten auch die ersten Sumpf-Heidelbeeren auf, und aus den gesammelten Beeren formte F.Fs Großmutterkleine Pasteten. Im Herbst Arbeitete F.Fs Großmutter als Kinderfrau bei der Leiterin des Postamts und passte auf deren Sohn auf. Wenig später zog ihre kleine dreiköpfige Familie in das Haus dieser Frau um. Olga Iwanowna arbeitete in der Fischfang-Genossenschaft – dort salzte sie Turuchansker Hering ein, der anschließend geräuchert und in mit Folie ausgelegte Kästen gepackt wurde. Und F.F. half ihrer Großmutter dabei sich um den kleinen Jungen zu kümmern und packte auch im Haushalt mit an. Zu ihren Pflichten gehörte es, Wasser vom Fluss herbeizutragen. „Das Wasser musste vom Jenisej nach Hause getragen werden. Dazu benutzt ich einen Blechkanister (zweieinhalb Liter). Das Ufer war hoch gelegen, man musste über mehrere Stufen zu dem gehackten Eisloch hinabsteigen und das Wasser anschließend eineinhalb Kilometer weit tragen. Einmal, im Winter, war ich auch wieder losgegangen und hatte gerade Wasser geholt; die ortsansässigen Kinder waren sehr grausam, hatten sich zu einer Gruppe am Ufer zusammen gerottet und riefen: „Da geht das deutsche Gesindel - Faschistenbrut!!!“ Und dann schlugen sie mir die Kanne aus der Hand. Und ich musste wieder nach unten klettern, mit der Kelle Wasser in den Kanister schöpfen und über die vereisten Stufen den ganzen Weg wieder hinauf steigen. Mit verweinten Augen und Erfrierungen kam ich zu Hause an… Die Hauswirtin wollte wissen, was geschehen wäre. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich keinem darüber erzählt, aber nun sagte ich es ihr. Ihre Stimmung war gründlich verdorben, und sie sagte zu mir: „Wärm dich ein wenig auf, und dann gehen wir …“. Sie band mir ihren Schal um, und wir machten uns auf den Weg zum Ufer. Ich kann mich noch gut an die Worte erinnern, die sie benutze, um mich vor den ortsansässigen Rowdys zu beschützen: jetzt sage ich euch was, ihr werdet es mit mir zu tun kriegen. Diese Mädchen hier kümmert sich um einen kleinen Jungen, dessen Vater uns an der Front verteidigt, und ihr führt euch so auf … Wenn ihr sie noch ein einziges Mal anrührt, dann wird nicht ihr Wasser verschüttet werden, sondern ihr werdet hier herunter fliegen““. Mitunter brachte die Hauswirtin vom Postamt Zeitschriften mit, und sie gab sie F.F. innerhalb von zwei Jahren einen großen Stapel „Ogonjok“-Hefte. Aber vor der Abreise, als F.F. in der fünften Klasse war, ging dieses Bündel verloren.

F.F. erzählt, dass eine Verbindung mit Amerika eingerichtet war. Und auf dem Eismeer verkehrten Frachtschiffe. „Wir schickten Fisch dorthin, und sie verhalfen uns zu äußerst leckeren Lebensmitteln – Kondensmilch, Kakao, Eipulver, zwei Sorten Gebäck – länglichen mit Krem und dunklen, Fässchen mit geräucherten Hammel-Rippchen, mit Fett übergossen, Konserven aus Schweinefleisch, Wurst, anderen Konserven, Kompott, Trockenmilch, indischem Tee. Und all diese Lebensmittel wurden in Rationen ausgegeben, so dass wir auch nicht hungern mussten“.

Im Herbst 1945 kehrten Tante Lydia und Oma Frieda aus der Arbeitsarmee zurück. Nach langem Bitten, Frieda mit sich nach Tuim zu ihrem Mann zu nehmen, willigte Olga Iwanowna ein, und so machte sich F.F., gemeinsam mit ihrer Tante Lydia Iwanowna, auf den Weg nach Tuim (Chakassien) zu Onkel Andrej.

Die vierte Schulklasse besuchte F.F. bereits in Tuim. Sie war äußerst fleißig, lernte hervorragend und war sowohl Kleine Oktobristin, als auch Pionierin und Komsomolzin. In öffentlich-gesellschaftlichen Dingen war sie stets mit dabei. In der Schule fehlte es an Geschichtslehrbüchern, und um die Hausaufgaben erledigen zu können, musste sie sich die Bücher von anderen Kindern ausleihen.

Einmal sollte F.F. ein Referat über die Geschichte der Tataren-Gewaltherrschaft vorbereiten und sie mit der sowjetischen Wirklichkeit vergleichen. „Eine Klassenkameradin gab mir ihr Lehrbuch, und nachdem ich meinen Vortrag ausgearbeitet hatte, gab ich es zurück, aber eine Freundin des Mädchens, von dem ich es bekommen hatte, meinte: „Warum gibst du uns das Buch erst jetzt zurück?“ Und dann gab ich ihnen eineinhalb Monate lang 50 Kopeken dafür, dass ich es versäumte hatte, das Buch zurück zu geben.

 

O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken


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