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Frieda Wilhelmowna Stotz

Frieda Wilhelmowna Stotz wurde am 9. September 1930 in der Ortschaft Neuburg (heute Nowogradowka), Gebiet Odessa, geboren.

Frieda Wilhelmowna erzählt, dass das Dorf Neuburg etwa 25 km von Odessa entfernt gelegen, sehr schön und groß war. Man hatte dort eine eigene Kirche, die an den Sonntagen von allen Familien besucht wurde, aber als die Sowjetmacht anfing die Religion zu bekämpfen, wurde der herrliche Glockenturm abgerissen. Unweit der Kirche befand sich die Schule. Das Gebäude erschien dem kleinen Mädchen einfach riesig. Es gab auch eine große Kolchose, in der fast alle Ortsbewohner arbeiteten. Und es war eine große Freude, auf dem fruchtbaren Schwarzerde-Boden seine Arbeit zu verrichten, wo jedes noch so kleine Körnchen gedieh. Aber die Kolchosbauern waren nicht nur fleißig, sie verstanden es auch zu feiern. Die von mir Befragte erinnert sich daran, wie gastlich, einträchtig und festlich die Feiertage abliefen, die von der Kolchose veranstaltet wurden. Für gewöhnlich wurden die kommunistischen Festtage begangen (der 1. Mai oder der November-Feiertag), aber auch am 1. September wurde im Dorf kräftig gefeiert. Für die Kinder deckte die Kolchose große Tische gleich neben der Schule – was es da alles zu essen gab, und zwischen dieser ganzen gastronomischen Vielfalt lagen die reifen und saftigen Früchte aus den Obstgärten. Man konnte alles essen, was das Herz begehrte. Die Dorfbewohner sprachen Deutsch.

Frieda Wilhelmownas Eltern waren nicht vermögend; sie arbeiteten genau wie die anderen Dorfbewohner in der Kolchose. Die Mutter hieß Emilie Augustowna Stotz (Mädchenname Kim, geb. 1899), der Vater – Wilhelm Leonhardowitsch (geb. 1896). In der Familie gab es sechs Kinder.

Die Familie Stotz wohnte in einem großen Haus, welches das Familienoberhaupt selber aus großen Steinen gebaut hatte. Das Haus war verputzt und hatte ein prächtiges, schmuckes Aussehen. Das Haus verfügte über zwei Zimmer und eine Küche, und Frieda Wilhelmowna kann sich noch besonders gut an den großen Ofen erinnern, der so gebaut war, dass eine Wand unmittelbar an die Zimmerwand grenzte, so dass es im Haus immer gemütlich warm war. Aber der wunderschöne Ofen diente nicht nur zum Beheizen der Räumlichkeiten: die Mutter buk darin auch Brot: es duftete herrlich u8nd hatte eine knusprige Kruste, und aus irgendeinem Grund trocknete es lange Zeit nicht aus, sondern blieb stets weich und schmackhaft. Der Ofen wurde auf besondere Weise beheizt – Stallmist und Stroh wurde in große Formen gepresst und ordentlich durchgemischt und anschließend mit einem großen, schweren Stein auseinandergerollt; nachdem alles ein wenig durchgetrocknet war, schnitt man die Masse zu Ziegeln zurecht – und ab damit in den Ofen! Einen ganz besonderen Platz stellte die Sommerküche dar. Die von mir Befragte weiß noch, dass diese Sommerküche praktisch wie ein zweites Haus war; sie bestand ebenfalls aus zwei Räumen, und im Sommer hielt sich die ganze Familie ständig dort auf. Der Baderaum war nur leicht gebaut, denn er war nur für die Nutzung im Sommer gedacht. Während der Sommermonate, nach getaner schwerer Arbeit, wuschen die Leute sich im Bad ab; im Winter wuschen sie sich in der Sommerküche. Es gab zuhause auch einen Vorratskeller, dort wurden Fässer mit Eingesalzenem aufbewahrt – Kohl, Tomaten, Gurken, aber auch Kartoffeln…

Der Dachboden im Haus diente als großer Speicher, in dessen Regalen diverse Vorräte lagerten – getrocknete Erbsen, Mehl; dort lagen auch Brote, abgedeckt mit einem weißen Leinentuch, geräucherter Speck, Würste und ähnliches – man kann es gar nicht alles aufzählen.

Sie hielten auch Tiere – Schweine, Gänse und natürlich eine Kuh. Jede Woche entrichteten sie ihre Abgaben an die Kolchose – Milch und Fleisch; wenn es gelungen war, ein paar Dinge aufzusparen, fuhren sie nach Odessa, um es dort zu verkaufen, und nachdem die Sachen verkauft waren, schafften sie sich von dem Geld Kleidung und Schuhwerk sowie Haushaltsutensilien an.

„Mit Beginn des Krieges änderte sich unser gesamtes Leben, - berichtet F.B., -es ist schrecklich sich an all das zu erinnern, was wir durchgemacht haben“. Besonders sind F.B. die Bombenangriffe im Gedächtnis haften geblieben: „ … Die Flugzeuge flogen über uns hinweg, um Odessa zu bombardieren; wir wohnten 22 km von dort entfernt, also in unmittelbarer Nähe. Dort brannte alles lichterloh, wir konnten sehen, wir Odessa in Flammen stand … oh Gott, diese Erinnerung … Einmal geriet ein Geschoss in die Sommerküche der Nachbarin – Mutter und Tochter wurden getötet, und auch in unseren Hof fiel eine Bombe, aber zum Glück in unseren alten Vorratskeller, der bereits zugeschüttet war; es gab eine heftige Explosion, so dass Erdklumpen mitten durch das Haus schleuderten und schließlich im Nachbarhof landeten…“.

Als Odessa von den Deutschen besetzt wurde, wurde der Unterricht an den Schulen nur noch in Deutsch abgehalten. Zwei Jahre lang benutzten sie in allen Fächern nur die deutsche Sprache, so dass sie den russischen Sprachgebrauch allmählich vergaßen. „Während der deutschen Besatzungszeit wurden die Kolchosen geschlossen, jeder bekam ein kleines Stück Land, damit die Leute für sich selber wirtschaften konnten; meine beiden älteren Brüder waren schon groß genug, und so begann der Vater mit ihnen den Boden zu bearbeiten. Die Deutschen verhielten sich gegenüber den Ortseinwohnern gut. Wir lebten und arbeiteten dort genau wie zu Zeiten der Sowjetmacht und führten unsere Steuern ab – Butter, Eier, Milch . Nur dass das Land jetzt uns gehörte, und das ist für einen Menschen sehr wichtig!“ Als die sowjetischen Truppen Odessa befreiten, verkündeten die Deutschen, dass die Einwohner der Ortschaft Neuburg innerhalb von vierundzwanzig Stunden das Allernötigste zusammenpacken sollten – Wäsche zum Wechseln und ein paar Lebensmittel. Die deutschen Truppen sagten, dass wir nicht für lange fortgehen müssten, aber wir gingen für immer“. Zuerst geriet die Familie Stotz nach Polen, anschließend, Ende 1943, nach Deutschland. Die Fahrt nach Deutschland war beschwerlich, sie gingen zu Fuß, nur die kleinen Kinder wurden auf Leiterwagen gesetzt. „In Polen lebten wir nur kurz, dann schickten sie uns weiter und brachten uns nach Deutschland. Sie hatten dort, wo wir waren, so komplizierte Orts- und Dorfnamen, dass ich mich nur noch an den Namen der nächstgelegenen Stadt Halle erinnern kann. Sie schickten uns zu einem Bauern – einem Gutsbesitzer, bei ihm mussten wir arbeiten. Einige waren auf dem Hof tätig, andere auf dem Feld. Ich half meiner Mutter im Haus – wir führten den Haushalt, kochten, wuschen, während der Vater mit den Brüdern auf dem Feld war. So verbrachten wir dort ungefähr ein Jahr. Wir lebten wie freie Menschen, nicht wie Sklaven, und erhielten jede Woche einen Umschlag mit Geld“.

„Als der Krieg zu Ende ging, kamen die Russen nach Berlin, - erinnert sich die von mir Befragte, - wir freuten uns so, dass wir weinten, und alle wollten, ohne jede Ausnahme, nach Hause. Der Vater meinte sogar, dass wir, falls wir wieder nach Hause kämen und unser Haus dort nicht mehr stehen würde, ein neues bauen und darin wohnen würden. Als angekündigt wurde, dass man sich anmelden könne, um in die Heimat zu fahren, gehörten meine Eltern mit zu den Ersten, die sich registrieren ließen, und schon bald darauf fuhr unser Zug aus dem Bahnhof und begab sich auf eine weite Reise“.

Wir waren lange unterwegs, eng zusammengepfercht in einem Güterwaggon, an dessen Wänden Pritschen standen; ganz oben, unmittelbar unter der Decke befanden sich kleine Fensteröffnungen, und wenn man ganz oben lag, konnte man durch sie hinausschauen und sich die Gegend anschauen, die wir durchfuhren. An jedem Bahnhof wurden ein warmes Mittagessen und heißes Wasser ausgegeben. Die Fahrt dauerte sehr lange, und bald bemerkten wir, dass die Gebiete an denen wir vorüberfuhren ganz anders aussahen und wir sie überhaupt nicht kannten … Und da begriffen sofort alle, dass wir nicht nach Hause transportiert wurden, sondern nach Sibirien … Die Menschen reagierten darauf ganz unterschiedlich, manch einer weinte, andere litten schweigend, aber überall vernahm man die erschrockenen Stimmen der Reisegefährten: „Was wird nun aus uns werden? Werden wir überleben? Werden wir die Heimat wiedersehen?“.

So näherten wir uns der Stadt Krasnojarsk, wo sich bereits zahlreiche Ankömmlinge befanden. Und als sie damit begannen, die Familien aufzuteilen, stellte man fest, dass es in Krasnojarsk überhaupt nicht genügend Platz für sie gab, und deswegen schickten sie die Familie Stotz nach Jenisejsk. Ende August oder Anfang September (genau weiß meine Interview-Partnerin das nicht mehr) machte das Schiff, mit dem F.Bs Familie dorthin geschickt worden war, an der Anlegestelle der Stadt Jenisejsk fest.

F.Bs Eltern suchten sich eine Arbeit in der Holzfabrik, auch Frieda wurde dort angenommen, aber da das Mädchen erst 15 Jahre alt war, blieb sie dort nicht lange; sie wurde auf Befehl entlassen, weil sie noch nicht volljährig war. Untergebracht wurde die Familie Stotz in einem kleinen Haus im Mikrorayon Kujbyschewo. Dort hatte sich früher ein Kindergarten befunden, und nun sollten in jedem Raum zwei Familien wohnen. Später gab man ihnen eine Wohnung in einer Baracke in der Lenin-Straße; sie brannte 1976 nieder.

Sie hatten ein schlechtes Leben, aber ihre Familie war besonders schlimm dran, weil sie so gut wie nichts hatten mitnehmen könne, und das Wenige, was ihnen einzupacken gelungen war, dass mussten sie bereits in den allerersten Monaten alles verkaufen und gegen Nahrungsmittel eintauschen. So verkauften sie ein Mäntelchen, ein Kleid …. Sie führten ein Hungerdasein, und anzuziehen hatten sie auch nichts.

Das beginnende Jahr 1947 war für meine Gesprächspartnerin sehr verhängnisvoll. Denn ausgerechnet in dem Jahr verlor sie ihre Angehörigen. Zuerst verstarb am 6. April ihr Vater – Wilhelm Leonhardowitsch - an Hunger und Entkräftung, er war erst 51 Jahre. Einige Zeit später starb die ältere Schwester Emma im Alter von 22 Jahren; irgendeine kleine Wurzel, die sie gegessen hatte, wurde ihr zum Verhängnis. Im Juli desselben Jahres starb auch noch Frieda Wilhelmownas Mutter. Zu der Zeit hatte man Frieda Wilhelmownas Bruder zum Arbeiten nach Podtjossowo geschickt. Und so blieben von der ganzen großen Familie nur die 17-jährige Frieda und ihr 8-jähriger Bruder übrig. „Nun warenmein Bruder und ich ganz allein, das war schrecklich, und ich musste immerzu denken: wie sollen wir nur ohne Eltern leben?! Um zu überleben, zog ich mit dem Bruder an der Hand durch die Stadt und bat die Leute um Almosen. Der Eine gab ein Stückchen Brot, andere ein paar Kartoffeln oder eine Rübe, aber auch das war für uns schon viel wert … Man interessierte sich für uns nicht, den Behörden war es egal, wie wir lebten, ob wir bereits tot oder noch am Leben waren, und nur ein einziger Mensch half uns; ihm haben wir es zu verdanken, dass wir am Leben geblieben sind…“. Ein einfacher sibirischer Mann, ehemaliger Frontkämpfer mit Nachnamen Kosulin. Eines Tages schaute er bei ihnen zu Hause herein und erschrak heftig darüber, wie schlecht die Kinder dort hausten… Er hatte so manches im Krieg gesehen, aber das Leben, das diese Familie dort führte, schien ihm ganz unmöglich. So schlug er vor, Frieda in der Holzfällerei einzustellen und den Jungen in einem Kinderheim unterzubringen. „Er fragt mich: willst du arbeiten? Und ich antworte ihm: ja, das will ich, ich will mir mein Brot verdienen, ich schäme mich nach Almosen betteln zu müssen. Und so versprach er, mich in der Holzfällerei unterzubringen und für das Brüderchen einen Platz im Kinderheim zu finden. Gesagt – getan: bald darauf begann ich zu arbeiten, und das Brüderchen brachte ich ins Kinderheim. Der Kleine wollte nicht, er hatte Angst. Von der Zeit an gingen wir nicht mehr betteln“. Frieda Wilhelmowna bekam einen Arbeitsplatz auf der Schiffswerft, wo sie das Werg von Sägespänen reinigen musste; am Ende des Arbeitstages wurde es ausgewogen. Sie erledigte dort auch Spachtelarbeiten, und im Sommer legte sie im Fertigwarenlager Bretter zu Stapeln zusammen. Dieses Bretterstapeln war auch keine leichte Arbeit: jedes einzelne Brett musste man haargenau, Ecke auf Ecke, legen. Das wurde üblicherweise in quadratischer Anordnung gemacht, damit das Holz besser belüftet wurde und trocknen konnte. Die Winter waren kalt, nicht so wie jetzt. Die Temperaturen gingen bis auf minus 45-50 Grad herunter , der Wind wehte nur schwach, aber der Nebel war so dicht, dass man nicht weiter als einen Meter sehen konnte, aber die Befreiung von der Arbeit dauerte meist nicht lange; manchmal, früh am Morgen, wenn es noch eisig kalt war, erlaubten sie einem sich drinnen aufzuhalten, aber kaum war die Temperatur um1-2 Grad gestiegen, marschierten sie zur Arbeit. F.B. arbeitete in der Fabrik fast 33 Jahre, ihre ganze Gesundheit ruinierte sie sich bei dieser schweren Tätigkeit. In Jenisejsk wohnt Frieda Wilhelmowna seit 1945, und sei der Zeit wurde ihr die Stadt zur Heimat.

 

O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken


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