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Verbannungs-/Lagerhaftbericht von Margarita Stulewa (Tochter von Jakob)

Margarita GIESBRECHT (Tochter von Jakob), Deutsche, wurde 1928 in dem Dorf SCHÖNHORST (später WODJANOJE), im Kreis CHORTIWSK, Gebiet SAPOROSCHJE, Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, geboren. Ihre Mutter starb 1932 oder 1933 an Typhus, und der Vater, Jakob GIESBRECHT (Sohn von Martin), geb. etwa 1900, heiratete dann noch ein zweites Mal. Matschecha Agatha GIESBRECHT (mit Namen Prukowskij nach ihrem ersten Mann, lebte etwa von 1905 - 1980, ebenfalls Deutsche), war offenbar Anfang der 30er Jahre ebenfalls Witwe.

Im Dorf lebten Deutsche, Ukrainer, Russen, Juden. Als dort 1941 die Front immer näher kam, lud der Vater, wie auch viele andere Dorfbewohner, die allernötigsten Sachen auf ein Fuhrwerk und versuchte mit der Familie nach Osten zu fahren. Es gelang ihnen, über den Dnjepr überzusetzen, jedoch wurden sie von der Front eingeholt, so daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als wieder nach Hause zurückzukehren. Im Dorf standen bereits die Hitler-Truppen und in ihrem eigenen Hause sahen sie einen toten Offizier der Wehrmacht. Die Soldaten befahlen dem Hausherrn diesen Offizier zu bestatten und erst danach ließ man sie ins Haus.

Nach der Niederlage bei Stalingrad wurden die Hitler-Einheiten nervös und als im Frühjahr 1943 der sowjetische Gegenangriff in der Ukraine begann, verlangten die Nazis, daß die dort ansässige Bevölkerung nach Deutschland fahren sollte. Wahrscheinlich betraf dies in erster Linie dort lebende Deutsche, aber letzten Endes begann man ausnahmslos alle fortzujagen. Der Vater weigerte sich nach Deutschland zu gehen und wurde von Hitlerianern erschossen; die Familie hetzte man zusammen mit anderen deutschen, ukrainischen und russischen Familien in Güterwaggons, soviele man nur irgendwie stehend hineinschieben konnte, und fuhr in Richtung Deutschland ab. Den ganzen Weg über mußten die Häftlinge auch so stehenbleiben. In Deutschland angekommen, wurden sie abgeladen und sofort in ein Lager hinter Stacheldraht gebracht, irgendwo in der Nähe eines großen Flusses - das Lager hieß BLANKENBURG.

In diesem Lager schmachteten die vertriebenen Familien bis zur Freilassung im Frühjahr 1945. Aus dem Lager ließ man sie nirgendwo hingehen, nicht einmal zu irgendeiner Arbeit, mit einer einzigen Ausnahme: einmal fuhren über einen Zeitraum von zwei Wochen junge Leute nachts auf LKWs in irgendeine Fabrik, möglicherweise eine Schuhfabrik, wo sie gezwungen wurden, Soldatenstiefel und andere Kleidungsstücke zu verpacken. Sie fuhren spät abends aus dem Lager ab und kehrten noch vor dem Morgengrauen wieder zurück.

Die Jungen beschafften sich irgendwo Klingen, - ungefährliche Rasierklingen, - und zerschnitten damit die Stiefel, wenn die zwischen den Reihen hindurchgehenden Wachposten ihnen den Rücken zukehrten.

Die Lager-Häftlinge litten an quälendem Hunger. Tagsüber erhielt jeder von ihnen eine einzige Kartoffel mit Schale. Viele starben an Hunger und Krankheiten. Im Lager kam die Mutter des Vaters um - Margarita GIESBRECHT, und dort starb auch Margeritas kleine Schwester, - Erna Jakowlewna GIESBRECHT (geb. 1941 oder 1942), sie war erst 2 oder 3 Jahre alt.

Als sich im Jahre 1945 die Front dem Lager näherte, trafen die Hitlertruppen Vorbereitungen, um das Lager zu sprengen. Scheinbar liefen die Wachen davon. Rymin, der Lagerleiter öffnete das große Tor und fing an zu schreien: Rette sich, wer kann! Die Russen kommen!

Die Häftlinge stürzten sich auf das Tor, hatten jedoch keine Ahnung, wohin sie eigentlich laufen sollten. Einige rannten über die Brücke ans andere Ufer des Flusses. Im Fluß gab es viele betäubte Fische. Die völlig entkräfteten Menschen fingen sie und aßen sie roh. Margarita Jakowlewna machte sich mit den Schwestern und ihrem Bruder ebenfalls über die Fische her, aber die Stiefmutter Agatha versuchte ihnen so gut es ging klarzumachen, daß sie sich zurückhalten und nicht zu viele essen sollten.

In der von Bomben zerstörten Molkerei fanden die befreiten Häftlinge angekohlte, rußgeschwärzte Stückchen Käse und Quark.

Sowjetische Truppen tauchten auf und verschwanden sogleich wieder, und an ihrer Stelle kamen die Amerikaner. Die freigelassenen Gefangenen mußten ins zerstörte Lager zurückkehren und dort in den Trümmern hausen. Die Amerikaner brachten für die Kinder Milch herbei, und einmal in der Woche verteilten sie Schokoladenriegel. So vergingen drei Monate, und dann kam ein sowjetischer Beauftragter, um die Häftlinge "in die Heimat" zurückzurufen.

Denen, die es wollten, boten die Amerikaner an, in die USA auszureisen. Wohl war der eine oder andere damit einverstanden, aber die Mehrheit lehnte das ab. Man verlud sie auf Waggons und fuhr gen Osten. Unterwegs wurden mehrmals Teile des Zuges abgehängt.

In Bijsk wurden ein oder mehrere Waggons abgekoppelt und die Menschen eine Woche lang dort festgehalten; dann lud man sie auf einen anderen Zug um, der in das Gebiet Irkutsk fuhr.

Der Waggon, in dem sich die Familie GIESBRECHT befand, wurde schließlich an der Station UDA-2 abgehängt, in der Nähe von NISCHNEUDINSK, im Gebiet Irkutsk, und man schickte einige Familien in die Siedlung SCHUM, 3 km von der Station entfernt. Die übrigen Familien aus diesem Waggon kamen in andere umliegende Dörfer. Die gesamte Fahrt von Deutsch-land dauerte etwa zwei Monate.

In der Siedlung SCHUM befanden sich zu der Zeit verbannte Ukrainer. Die Neuankömmlinge wurden in alle möglichen Ecken und unbewohnte Behausungen gestopft. Die Familie GIESBRECHT wurde in einem Pferdestall der Kolchose untergebracht. Dort lebten sie viele Jahre und bauten den Pferdestall aus eigenen Kräften in eine einigermaßen erträgliche Wohnstätte um. Die Kommandantur befand sich in der Holzfabrik, etwa drei Kilometer von der Siedlung entfernt. In der ersten Zeit rief der Kommandant die Verbannten zu sich und erzwang von ihnen unter Androhung von Foltern irgendwelche "Geständnisse": die Hände wurden in der Tür eingequetscht, so daß die Leute hinterher mit blauen Händen fortgingen. Alle Verbannten wurden in die "SCHUMSKER" Kolchose zur Arbeit geschickt. Die Kommandantur wurde Anfang 1956 aufgelöst.

Von der Familie GIESBRECHT waren in der Verbannung:

Mit dem gleichen Waggon wie die Familie GIESBRECHT gelangte auch die deutsche Familie KRIEGER in Verbannung in die Siedlung SCHUM, die ebenfalls aus dem Gebiet SAPOROSCHJE stammte, sowie die deutsche Familie BERGENS (diese Familie sprach jedoch einen anderen Dialekt):

Laut Archiv-Bescheinigung N 9/27 vom 08.08.90, ausgestellt vom Informationszentrum des UWD (Verwaltung für Innere Angelegenheiten) des Irkutsker Gebietsexekutiv-Kommittees, befand sich Margerita GIESBRECHT ab Oktober 1945 bis zum 6. Januar 1956 in einer Sondersektion der Siedlung SCHUM, aufgrund der Direktive des NKWD Volkskomissariats des Innern) der UdSSR Nr. 181 vom 11.10.45. Sie wurde gemäß Ukas (Verordnung) des Obersten Sowjet-Präsidiums der UdSSR am 13.12.55 freigelassen.

31.10.90, aufgezeichnet von V.S. Birger, Krasnojarsk, Gesellschaft "Memorial"

Im Archiv:

 


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