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Nina Konradowna Syrjanowa

Nina Konradowna Syrjanowa (Mädchenname Welsch) wurde am 16. Januar 1935 in der Ortschaft Seelmann (heute Rownoje), Gebiet Saratow, geboren. Die Ortschaft Seelmann war, nach N.K.s Kindheitserinnerungen, recht groß; es war zugleich auch die Bezirksstadt, die Einwohner sprachen ausschließlich Deutsch, und N.K. wusste noch, dass sie, als sie (1940) in den Kindergarten gegeben wurde, auch nur Deutsch sprach. Die Ortschaft Seelmann war Kultur- und Ausbildungszentrum – es gab dort sogar ein pädagogisches Technikum.

Die Eltern der von mir Befragten waren Pädagogen, Lehrer von Gottes Gnaden. Der Vater – Konrad Konradowitsch Welsch wurde 1909 in der Ortschaft Schefer geboren. Nina Konradowna sagt: „Sein Schicksal ähnelt dem von Michail Lomonossow – wegen seines Strebens nach Kenntnissen, Wissen, dem Erwerb von Bildung. Und das hing damit zusammen: Konrad Konradowitsch wurde in eine Familie von wenig lese- und rechtschreibkundigen Bauern hineingeboren, und er absolvierte lediglich sieben Schulklassen. Aber er wollte so gern weiterlernen, dass er zu Fuß in die Stadt Engels ging. Dort beendete er die Oberschule und schrieb sich anschließend am pädagogischen Institut auf dem Spezialgebiet „Geschichte“ ein, aber damit noch nicht genug. Bald darauf, nachdem er in der Stadt Saratow seine Aspirantur angetreten hatte, setzte er sein Studium unter der Leitung von Professorin Anna Michailowna Pankratowa fort und wurde gleichzeitig mit dem Studium während der Aspirantur Direktor am pädagogischen Technikum in der Ortschaft Seelmann. Dort, am pädagogischen Technikum, begegnete er auch sogleich der Liebe seines Lebens – Lydia Karlowna Derlasch (geb. 1914, Studentin der Abteilung für Grundschulklassen). Bald darauf wurde Lydia Karlowana Konrad Konradowitschs Ehefrau, und die beiden zogen nach Engels, wo man der jungen Familie eine Ein-Zimmer-Wohnung zuwies. Konrad Konradowitsch begann am pädagogischen Institut Geschichte zu unterrichten. 1939 wurde in der Familie noch eine Tochter – Tamara – geboren.

1941, als der Krieg ausbrach, wollten sie Konrad Konradowitsch schon als Dolmetscher an die Front mobilisieren, aber dann kam am 28. August der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR heraus, demgemäß die Autonome Republik der Wolga-Deutschen liquidiert werden sollte. Und damit entschied sich auch das Schicksal der Familie Welsch und vieler anderer…

Die von mir Befragte kann sich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, die sich während des Packens und Fertigmachens für die Reise sowie der Fahrt selbst ergaben, denn sie war damals ja noch ganz klein; dennoch ist das kindliche Gedächtnis auffallend klar, so dass sie noch so manches weiß. So erzählt sie beispielsweise, dass man sie bis zur Stadt Krasnojarsk in „Güterwaggons“ transportierte, wo sie auf verschiedene Gegenden verteilt wurden – die einen hier, die anderen dorthin. Die Familie Welsch hatte großes Glück, weil sie in den Bezirk Kansk geschickt wurde und nicht nach Kasachstan oder in den Hohen Norden. Auch im Hinblick auf Arbeit tauchten keine besonderen Probleme auf: schließlich wurden Lehrkräfte überall benötigt, und ganz besonders in den sibirischen Dörfern. Konrad Konradowitsch arbeitete als Geschichtslehrer in der Ortschaft Braschnoje, Bezirk Kansk, und ließ die ganze Familie dorthin umziehen.

Zum Winter 1941 klopfte das Unheil an die Tür der Familie Welsch: sie kamen, um Konrad Konradowitsch in die Arbeitsarmee zu holen. Er gelangte nach Reschoty und musste dort Bäume fällen. Ganz besonders schwierig war das für ihn in der Winterzeit: er stand beim Arbeiten bis zur Gürtellinie im Schnee; warme Kleidung gab es nicht, sie wurden schlecht verpflegt. Aber ganz besonders erniedrigend war der Tatbestand, dass sie ihn nicht als Menschen ansahen, sondern ihn sogar aus der Partei ausschlossen – obwohl K.K. ein ganz offenkundiger Kommunist war, und diese Kränkung trug der Vater meiner Gesprächspartnerin sein Leben lang mit sich herum. In dieser Zeit wurde Konrad Konradowitschs Familie – Ehefrau Lydia Karlowna und seine beiden kleinen Töchter in die Ortschaft Georgiewskoje im Bezirk Kansk geschickt. Nina Konradowna erinnert sich: „Wir hatten nichts weiter mit als Federbetten. Man brachte uns in einem Haus unter, in dem Lehrerfamilien wohnten, und gaben uns ein Zimmer … Die Ortsansässigen waren sehr freundlich, jeder brachte uns etwas, was er gerade entbehren konnte, und mitunter trennten sie sich von etwas, was sie vielleicht selber benötigt hätten. Man brachte uns Kartoffeln, Möhren und Rüben. Wir waren barfuß und nackt und außerdem auch noch hungrig. Eine Frau, die Mutter meines Klassenkameraden, brachte mir jeden Tag einen halben Liter Milch und meinte – das ist mein Schwiegertöchterchen ….“.

Lydia Karlowna fand eine Arbeit als Lehrerin in den Grundschulklassen; im Winter unterrichtete sie die Kinder, im Sommer arbeitete sie in der Kolchose als ungelernte Arbeiterin – sie flocht Kränze, erledigte Erntearbeiten und half auch beim Unkraut-Jäten. Man bezahlte ihr, wie auch allen anderen in der damaligen Zeit, die Arbeit durch Anrechnung von Tagewerken. Sie hatten ein schlechtes Leben. Sie pflanzten Kartoffeln an, die jedoch während der Kriegsjahre nicht gedeihen wollten, und so aßen sie das, was Gott für sie vorgesehen hatte. Besonders schmackhaft schien Brot zu sein, das sie aus Melde buken. Im Herbst 1942 kam Nina Konradowna in die Schule. Das Schulleben war schön und inhaltsreich. Mit dem Pionierdasein meiner Gesprächspartnerin verbindet sich ein äußerst rührselige Geschichte, welche sich an dem Tag ereignete, als N.Ks Weihe zu den Pionieren stattfand. „Ich war damals zehn Jahre alt, unsere ganze Klasse wurde zu Pionieren geweiht; ich bekam ein rotes Halstuch umgebunden, und jemand neben mir bat mich: „Nina, sing doch etwas“. Und ich begann zu singen:

Bald endet der Krieg,
Die Soldaten marschieren mit ihren Kompanien,
Und ich werde meinen Liebsten
Hinter den Toren begrüßen.

Nina Konradowna erinnert sich, dass der Entschluss gefasst wurde, ihre kleine Familie weiter in den Norden zu schicken, wo sie Bäume fällen sollten. „Ich weiß noch, dass dort ein großer Leiterwagen war; er sollte uns nach Kansk bringen, und von dort aus wollte man uns noch weiter verschicken. Wir sitzen auf diesem Leiterwagen – ich, Mama und Tamara. Wir haben nichts zu essen, konnten nichts mitnehmen, und die Leute im Dorf bringen uns alle irgendetwas, jeder das, was er kann - der eine kommt mit Kartoffeln, ein anderer mit kleinen Kuchen … Aber sie brachten uns nicht in den Norden, weil Mama einen Herzanfall bekam, und so wurde sie zurück nach Georgiewka gebracht …“. Doch trotz des Krieges, trotz des schwierigen Lebens verstanden die Menschen e auch fröhlich zu sein, und jedes Mal wenn es im Dorf einen Feiertag zu begehen gab, bekamen die Kinder eine leckere Mittagsmahlzeit aus Lebensmitteln, die die Kolchose herausgegeben hatte. Während N.K. sich an solche Festtage , an die Hungerzeit erinnert, spricht sie auch davon, was für ein großes Glück es für sie bedeutete, die Wärme der kleinen glasierten Brezel in ihrer Hand zu spüren, und sie empfand diese Wärme als Zauberei…

Schließlich kam der lang ersehnte Tag des Sieges. „Wir schliefen, plötzlich hören wir ein Klopfen am Fenster und eine Stimme die ruft – der Krieg ist zu Ende. Wir gingen alle spontan auf die Straße hinaus, Musik spielte, viele Menschen hatten sich versammelt, alle weinten …“. Im Herbst 1945 kehrte der Vater aus der Trudarmee zurück. „Wir zogen wieder zurück in die Ortschaft Braschnoje, Papa unterrichtete Geschichte, Botanik, Geographie und Deutsch…“. 1948 wurde in der Familie Welsch noch eine Tochter geboren – Swetlana, und 1950 – Ludmila.

Nina Konradowna erzählte, dass sie in der Nachkriegszeit humanitäre Hilfe aus den USA erhalten hätten, unter anderem eine Menge unverzichtbarer Dinge. „Einmal bekam ich weiße Pantöffelchen, sie waren mir zu klein, ich quetschte die Füße unter großen Mühen hinein, aber irgendwie ging es dann doch, und ich bin noch lange Zeit darin herumgelaufen…“

In dieser Familie war Bildung immer ganz hoch bewertet worden, ja, genau genommen stand sie sogar an erster Stelle. Nachdem Nina Konradowna die 7. Klasse beendet hatte, kam die Frage auf, wo sie nun weiter zum Unterricht gehen sollte, sie musste ja noch die 7. bis 10. Klasse absolvieren. Nina Konradownas Eltern überlegten hin und her, wohin sie ihre älteste Tochter schicken sollten, damit sie ihre Ausbildung fortsetzen konnte. Sie hätten sie gern nach Kansk gehen lassen, aber dazu kam es nicht. Trotzdem war nach einiger Zeit ein Ausweg gefunden. Konrad Konradowitsch fuhr zur Kreisabteilung für Volksbildung und holte sich dort seine Versetzung in die Ortschaft Braschnoje – als Lehrer für deutsche Sprache. Und in Braschnoje beendete N.K. dann auch die Zehn-Klassen-Schule. Als sie diese 1952 absolviert hatte, tauchte erneut die schwierige Frage bezüglich ihrer Weiterbildung auf. Ninas Eltern hätten sich gewünscht, dass sie sich an der Staatlichen Universität Tomsk einschreiben ließ. „Sie schrieben einen Brief an Stalin, damit er mir erlaubte, meine Ausbildung in Tomsk fortzusetzen, aber man antwortete uns, dass ich nirgends das Recht hätte ein Studium anzutreten, außer am Forsttechnischen Institut in Krasnojarsk.... Aber weiterlernen – das musste sie. Sie schickten das Reifezeugnis ans Institut, woraufhin von dort eine Vorladung eintraf. Damit begaben wir uns zur Kansker Kommandantur, wo wir uns immer melden und registrieren ließen. Sie schickten ein entsprechendes Gesuch ab, und schon bald darauf kam die Erlaubnis für das Studium. Ich erinnere mich, dass sie am 28. Juli 1953 eintraf, ind ich weiß das deswegen noch so genau, weil es der Geburtstag meiner Mutter war. Als sie uns die Studien-Genehmigung aushändigten, sprach Mama folgenden Satz: sie haben mir heute ein riesiges Geschenk gemacht. Aber wir fuhren nicht sofort an den Studienplatz: wir warteten, bis sich eine ganze Gruppe zusammengefunden hatte … Man brachte uns alle in Begleitung von Soldaten zur Krasnojarsker Kommandantur, um uns erst einmal zu registrieren … Ich wollte mich an der chemisch-technologischen Fakultät einschreiben, und ging hin, um meine Papiere abzugeben (der Kommissionsvorsitzende hieß Hein); ich betrat das Amtszimmer, sehe in seinem Gesicht ein Lächeln, aber boshaft dreinblickende Augen. Er sagte mir, dass man uns nirgends aufnehmen würde, höchstens in der Forstwirtschaft. Das Gesuch musste neu geschrieben werden“. Zu der damaligen Zeit bestanden die Aufnahmeprüfungen aus folgenden Fächern: Russisch (schriftlich und mündlich), Literatur, Mathematik, Physik und Chemie. Ich bestand alle Examina, durfte danach aber nicht nach Hause fahren: wenn du jetzt abfährst, dann ist es für immer“.

Als sie bereits im dritten Kurs studierte starb Stalin. Man erlaubte N.K. einen Wechsel in den ersten Kurs am Pädagogischen Institut in Jenisejsk, - Fakultät für Physik und Mathematik. Nach dem Abschluss des Pädagogischen Instituts war es für Nina äußerst schwierig einen Arbeitsplatz zu finden, und nur dank ihrer Bekanntheit stellte man sie an der Jenisejsker Schule Nr. 2 als Lehrerin ein, allerdings nicht für die Fächer Physik und Mathematik, sondern für Fremdsprachen.

1958 sandte Konrad Konradowitsch seine Dokumente an die „Lehrer-Zeitung“ für die Teilnahme an einem Wettbewerb um einen Posten an den Pädagogischen Instituten von Krasnojarsk oder Jelabuga, aber die Bestätigung aus Jelabuga traf früher ein, und aus diesem Grunde zog die Familie dorthin um. Anfangs unterrichtete Konrad Konradowitsch Deutsch, später wurde er erster Dekan der Fremdsprachen-Fakultät. Konrad Konradowitsch las sehr viel, kannte sich in Politik, Literatur und Musik aus. Er konnte fünf Fremdsprachen, 36 Jahre seines Lebens widmete er seiner Lieblingsbeschäftigung – dem Unterrichten. In der Zeitung „Nowaja Kama“ vom 25.11.2005 gibt es einen Artikel mit dem Titel „Vierzig Jahre Fremd-sprachen-Fakultät an der Staatlichen Pädagogischen Universität Jelabuga und folgenden Zeilen: „ … erster Dekan war K.K. Welsch; heute arbeitet an der Fakultät auch seine Tochter S.K. Balobanowa. Voller Energie und alle mit seinem Mut und seiner Gradlinigkeit begeisternd, genoss Konrad Konradowitsch zweifellos großen Respekt, und man bezeichnete ihn sogar als Gewissen des Instituts. Seine Arbeit war klar verständlich und akkurat, und dasselbe verlangte er auch von den anderen. Seinen moralischen Einfluss konnte man nicht hoch genug bewerten. Unehrliches Verhalten, Verletzung der Ordnung waren völlig ausgeschlossen, besonders dann, wenn sich der Dekan irgendwo in der Nähe befand. Es schien, als ob die ganze Fakultät sich an Welsch messen wollte. Er war ein ausgesprochen ordentlicher Mann, in allem und immer ein echter Lehrer, und es ist wirklich schade, dass er schon nicht mehr unter uns weilt …“

Lydia Karlowna fand Arbeit als Deutschlehrerin an der Schule N° 1 und arbeitete dort ihr gesamtes verbleibendes Leben lang. Sie war eine hervorragende Pädagogin und trug daher den stolzen Titel „Verdiente Lehrkraft der Schule Tatarstans“. Diese Frau benahm sich sehr aufmerksam gegenüber den Menschen und streckte stets ihre helfende Hand aus, wenn jemand dessen bedurfte (selbst als sie sich schon in fortgeschrittenem Alter befand, kümmerte sie sich noch um alte Leute aus der Nachbarschaft). Sie starb 2003.

Alle drei Töchter von Lydia Karlowna und Konrad Konradowitsch wurden Pädagogen. Nina Konradownas Tochter Soja Alexandrowna wählte denselben Pfad – sie ist Direktorin an der Oberschule N° 2 in Jenisejsk. Derzeit lebt in Jelabuga noch eine weitere Schwester von N.K.; sie arbeitet an derselben Fakultät, an der auch der Vater tätig war. Die gesamte Arbeitszeit dieser pädagogischen Dynastie beträgt 315 Jahre.

 

O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken


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