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Alexander Genrichowitsch Wingert

Alexander Genrichowitsch Wingert wurde 1939 als Sohn eines Militärarztes geboren. Der Vater hieß Heinrich Fjodorowitsch Wingert, die Mutter Sophia Christianowna Richter (geb. 1911). Sie war Hausfrau, denn die Familie war groß; es gab fünf Kinder, und jemand musste zuhause sein und auf sie achtgeben. Bis zur Deportation lebte die Familie im Gebiet Saratow, Gebiet Krasnojar, in der Ortschaft Alt-Urbach. 1941teilte man Alexander Genrichowitschs Familie mit, dass sie ausgesiedelt würde; zu dem Zeitpunkt war Alexander Genrichowitsch gerade zwei Jahre alt. Nach den Erzählungen seiner Eltern, gab man ihnen zum Packen zwei Tage Zeit. Aber sie konnten letztendlich nur das Spinnrad, die Nähmaschine, ein paar Haushaltsgeräte und einen Koffer voll Kleidung mitnehmen. Im weiteren Verlauf halfen gerade diese Gegenstände ihnen im fernen Sibirien zu überleben. Die Kleidung tauschten sie gegen Milch und Kartoffeln ein; und außerdem blieben sie dank Mutters Handarbeitskünsten am Leben. Sie konnte sehr gut auf ihrer „Singer“-Nähmaschine nähen.

Alexander Genrichowitschs Mutter erzählte ihm, dass sie sehr lange mit dem Zug gefahren wären und die ganze Zeit nicht wussten, was nun mit ihnen geschehen würde und wohin man sie überhaupt brachte. Sie fuhren ins Ungewisse. Anfangs teilte man sie für das Dorf Lukjanowo im Jenisejsker Bezirk ein; es lag unweit der Ortschaft Tschalbyschewo, aber dort blieben sie nicht lange. Danach wurde die ganze Familie noch weiter fortgeschickt – in den Pirowsker Bezirk, die Ortschaft Tarchowo. „Außer uns wurden noch drei deutsche Familien nach Tarchowo geschickt, darunter auch die Familie und der Bruder des Vaters – Martin; er arbeitete als Schmied. Dort lebten wir bis 1962. Nach Tarchowo kamen wir ohne Vater, nur mit der Mutter, denn den Vater hatten sie zur Arbeitsarmee nach Reschoty mobilisiert. Papa kehrte 1944 völlig entkräftet und krank aus der Trudarmee zurück. Mama dachte er würde sterben und gab vor Gott ein Gelübde ab, dass sie einen Tag in der Woche nichts essen würde, wenn er doch nur gesund werden und überleben würde. Und er blieb am Leben, aber Mama hielt ihr Gelübde bis zum Tode (1988) ein“. Der Vater konnte sehr gut lesen und schreiben; deswegen war er in Tarchowo als Verkäufer und Müller tätig. Und Mama arbeitete in der Kolchose und erledigte dort alle möglichen ungelernten Arbeiten. „Wir arbeiteten dort gegen Anrechnung von Tagesarbeitseinheiten, dafür bekamen wir ein wenig Mehl. Die Ortsansässigen verhielten sich uns gegenüber in unterschiedlicher Weise: manche waren gut zu uns und gaben uns, den kleinen Kindern, sogar etwas zu essen; andere benahmen sich sehr schlecht, wie beispielsweise der Vorsitzende (er lief ständig den jungen deutschen Mädchen hinterher). Der Dorf-Sowjet gab uns Winterkleidung, Filzstiefel. Das war eine große Hilfe für uns. Wir lebten sehr ärmlich, und um nicht vor Hunger zu sterben, fingen die kleinen Kinder Vögel und brieten sie.

Man sprach nur Russisch; die Menschen hatten sogar Angst, in deutscher Sprache zu flüstern. Mama kannte sehr viele deutsche Lieder, und die sang sie oft vor sich hin. Wenn es Lebensmittel gab, dann kochte sie nationale Gerichte – Fruchtsuppe, Kohl. Allmählich gewöhnten wir uns an die sibirische Lebensweise. Wir, die kleinen Jungen, sägten Brennholz, trugen Wasser und halfen auch mit allen möglichen anderen Arbeiten unseren Angehörigen. Die Eltern hatten uns von früher Kindheit an die Liebe zur Arbeit anerzogen; wir besaßen eine kleine Wirtschaft – eine Kuh, Hühner, ein Ferkel. Ungeachtet der Tatsache, dass ich der deutschen Nationalität angehöre, ging ich zur Schule, wie es sich gehörte. Aber in der Ortschaft Tarchowo gab es nur eine Grundschule. Mein Bruder war ein Jahr jünger als ich; er lernte in der 1. Klasse, in der 2. Schicht, und ich in der 2. Klasse in der 1. Schicht. Wir hatten nur ein einziges Kleidungsstück für uns beide. Da ich in der 1. Schicht zum Unterricht ging, zog ich zuerst Hemd und Hose an. Mein Bruder wartete, bis ich aus der Schule zurückgekommen war – aber so lange lief er zuhause nur in einem Hemd herum. Ich kam also zurück, zog die Sachen aus, er kleidete sich an und rannte zur Schule. Die Tasche war aus Stoff genäht, es gab nur wenige Lehrbücher. So ging ich insgesamt vier Jahre zur Schule. Um meine Ausbildung fortzusetzen, schickten meine Eltern mich in die Ortschaft Belskoje, wo ich ein weiteres Jahr lernte; dort wohnte ich bei Leuten in einer Wohnung, denn in Tschalbyschewo hatten wir keine Bekannten. Als in Tschalbyschewo ein Internat eröffnete, ging ich dort bis zur 8. Klasse zur Schule. Mein älterer Bruder arbeitete in Jenisejsk als Ofensetzer; er holte mich zu sich. In Jenisejsk ging ich noch weiter zur Schule. Ich kann mich noch erinnern, dass, als ich die Klasse betrat, zwei Mädchen meinten ich wäre ein Soldat, weil ich ein Militärhemd trug; etwas anderes hatte ich damals nicht zum Anziehen.

1956 wurden wir rehabilitiert. Aber bis zur Rehabilitierung mussten wir uns regelmäßig in der Kommandantur melden und registrieren lassen, denn niemand von uns besaß einen Ausweis.
Zur Feststellung der Person gaben sie uns im Dorfrat eine Bescheinigung. Die Kommandantur befand sich beim Dorfrat in Tarchowo. Es gab schrecklich viele Verbote. Wenn man loszog, um einen Elch zu jagen, dann kam man gleich vor Gericht. Einmal tötete mein Vater einen Elch. Aber der Mann, der mit seinem Fall, seinem Gerichtsverfahren betraut war, hatte wohl Mitleid mit ihm. Er war ein guter und gerechter Mann, der berücksichtigte, dass die Familie zu dem Zeitpunkt aus 9 Mitgliedern bestand!

Nach der Schule ging ich zum Arbeiten in die Holzfabrik, wo ich Lastkähne beladen musste. Bald darauf gab man mir eine Wohnung in der Bograder Straße, wohin ich dann auch meine Eltern brachte.

O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken


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