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Verbannungs- / Lagerhaftbericht von Anna Christianowna-Jakowlewna Wittmann (Ehename Iwanowa)

Wurde am 25.11.1933 in der Siedlung Kamenskij, Krasnoarmejsker Kreis, Gebiet Saratow, geboren. In der Siedlung lebten nur Deutsche. Außer ihr gab es noch drei weitere Kinder in der Familie: zwei Brüder (Alexander und Wladimir) sowie Schwester Maria (die erst nach der Deportation geboren wurde). Bis zur Verschleppung arbeitete der Vater Christian-Jakob Filippowitsch-Jakowlewitsch Wittmann, geb. 1888, in einer Fabrik. Die Mutter, Luisa Filippowna, geb. 1903, war Hausfrau.

Die Nachricht von ihrer Deportation erhielten sie im August 1941. Zum Packen gab man ihnen eine Woche Zeit. Sie durften nur das Allernötigste sowie ein paar Lebensmittel mitnehmen. Die restliche Wirtschaft, einschließlich Gemüsegarten, Ziegen und Schafe, wurde

konfisziert. Nach den Worten von Anna Christianowna galt für gemischte Ehen folgende Regel: war der Mann Russe und die Frau Deutsche, erlaubte man ihnen zu bleiben, aber wenn der Mann Deutscher war und die Ehefrau Russin – dann wurden sie vertrieben.

In Viehwaggons gelangten sie an ihren Bestimmungsort. Sie fuhren nachts. Tagsüber saßen sie im Gebüsch, denn sie hatten Angst, dass man auf sie schießen würde (wahrscheinlich war dies nur ganz zu Beginn der Fahrt so – AB). Unterwegs erhielten sie keine Verpflegung, sondern ernährten sich von den Lebensmitteln, die sie mitgenommen hatten. Die während der Fahrt Verstorbenen wurden bei den Zughalten neben den Gleisen liegengelassen. Es hieß, dass die Behörden sich um die toten Körper kümmern würden.

Am 10. Oktober 1941 erreichten sie Potapowo (dem ehemaligen Syrjanka) an. Bei ihrer Ankunft wurden ihnen ein Einzelhaus zugeteilt und ihnen in Form von Geld Ersatz für den konfiszierten Besitz geleistet (? – AB).

1941 und 1942 ging sie in Syrjanka zur Schule. Dort lernte sie schnell Russisch sprechen. Und die deutsche Sprache vergaß sie wegen mangelnder Praxis nach und nach. Inzwischen spricht sie überhaupt kein Deutsch mehr, wenngleich sie alles versteht. (Sie erzählte in diesem Zusammenhang von einem Fall, als sie einmal Ferkel in Jenisejsk verkaufte. Zwei Personen waren herangetreten und hatten angefangen zu beratschlagen, dass sie ein Ferkel von ihr und ein zweites von der Nachbarin kaufen wollten. Als Anna Christianowna ihnen sagte, dass man junge Ferkel immer aus einer Hand kaufen müßte, entweder beide von ihr oder beide von der Nachbarin, weil Ferkel von verschiedenen Muttertieren einander totbeißen könnten).

In der Schule verhielten sich Lehrer und Altersgenossen freundlich gegenüber Anna, und allmählich vergaß sie, dass sie eine Deutsche war. Ihr Vater diente in der Roten Armee. Er hatte im 1. Weltkrieg ebenfalls auf der Seite Rußlands gekämpft.

Während des Krieges arbeiteten die Eltern von Anna Christianowna in der örtlichen Kolchose „Lenins Weg“. Nach dem Einbringen der Ernte wurden die täglich geleisteten Arbeitseinheiten in Getreide und anderen Lebensmitteln bezahlt. Von früher Kindheit an arbeitete Anna Christanowna auf dem Bauernhof: zuerst hütete sie Vieh. Später, als sie die mittlere Schulbildung in der Stadt Jenisejsk abgeschlossen hatte, arbeitete sie als Melkerin und erhielt 1957 die Ehrenmedaille „Bestarbeiterin“ verliehen.

Bei ihrer Ankunft in Potapowo wurde die Familie Wittmann in der Kommandantur unter Meldepflicht gestellt. Der erste Kommandant in Syrjanka war - Pinigin, der zweite, in Jenisejsk – Nepomnjaschschij. Einmal im Monat mußten sie sich in der Kommandantur registrieren lassen. Während des Krieges war es möglich, sich auch außerhalb der Dorfgrenzen aufzuhalten, aber nach dem Krieg wurde jegliches Sichentfernen verboten.

Nach dem Tode Stalins, im Jahre 1953, wurden sie rehabilitiert (? – AB). Sie fuhrennicht in die Heimat zurück, aber die Schwester fuhr fort. Sie erzählte, dass die Fabrik und das Krankenhaus wieder aufgebaut worden wären.

Die Tradition hat sie nicht bewahrt und auch keinen Wert darauf gelegt. Über die Vergünstigungen weiß sie Bescheid und macht davon auch Gebrauch. Sie hegt keinen Haß auf die Behörden, denn der Staat hat sich ihrer Meinung nach der Familie gegenüber loyal verhalten.

Das Interview führten: Larionowa, T. Kapuzij, Galtschuk ((Jenisejsker Fachschule für Pädagogik), Juli 2005.
(AB – Anmerkungen von Alexej Babij, Krasnojarsker Gesellschaft „Memorial“)
Zweite Expedition für Geschichte und Menschenrechte, 2005


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