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Verbannungs- / Lagerhaftbericht von Agnia Semjonowna Jurtschenko

Geboren 1919 in der Baikal-Region, in dem Dorf Altan, Karymsker Kreis, Gebiet Tschita.

Agnia Semjonownas Familie war kinderreich; 6 Personen – Mutter, Vater, einen Bruder und zwei Schwestern. Vater und Mutter waren Kulaken, sie unterhielten ihre eigene Wirtschaft. Später, als die Kolchosen aufkamen, gingen die Eltern nicht zum Arbeiten in die Kolchose, denn sie hatten ja ihre eigene „Datscha“, mit einem großen Gemüsegarten, in dem sie auch Getreide ansäten. Dann tauschten oder verkauften sie es, d.h. sie lebten im Wohlstand. 1930 wurden das Haus und die gesamte Wirtschaft der Jurtschenkos beschlagnahmt. Sie sagten, dass sie im Wohlstand lebten, während der Staat arm sei.

Eines Nachts, im Jahre 1930, kamen Soldaten und verhafteten zuerst den Vater. Sie brachten ihn nach Tschita. Zwei Wochen später kamen zwei Soldaten, um die restliche Familie abzuholen. Sie sollten sich zur Umsiedlung fertigmachen. Zeit zum Packen gaben sie ihnen nicht. Mit den Sachen, die sie auf dem Leib trugen, wurden sie in Fuhrwerke gesetzt und unter Wachbegleitung zum Zug gebracht. Man hieß sie in eiinen Güterwaggon einsteigen, in dem es vor Wanzen wimmelte. Es waren keine Menschen in dem Waggon, nur Heu. Als sie nach Tschita kamen, wollten sie sich mit dem Vater wiedervereinigen, aber wegen einer Nachlässigkeit der Schreiber, die den Namen des Vaters falsch geschrieben hatten (er heißt Semjon, aber sie hatten Simion geschrieben), kam es nicht zu einer Familienzusammen-führung, obwohl alle anderen Repressierten einander wiederfanden. Man wies sie in eine Baracke ein, in der sich schon zehn Personen befanden, aber die Baracke war klein und es gab darin absolut nichts. Nach einem Monat schickte man sie in einem Güterwaggon nach Krasnojarsk, dort nannte man sie „Kälber- oder Viehwaggons“. In der Ecke standen Eimer, damit sie ihre Notdurft verrichten konnten, und auf dem Boden lag Heu. In dem Waggon fuhren 5 Familien, und der Zug hielt in den Dörfern um noch mehr Repressierte mitzunehmen. Manchmal hielt der Zug auch, damit die Menschen aussteigen und ein bißchen frische Luft schöpfen konnten. Was am interessantesten war: die Leute versuchten gar nicht zu fliehen, weil es nichts gab, wohin man hätte laufen können und bis nach Hause ware es weit. Unterwegs teilten sie das Brot in kleinen Stückchen untereinander auf, damit sie nicht

vor Hunger starben. Als sie in Krasnojarsk ankamen, warteten sie auf dem Bahnhof drei Tage auf einen Dampfer; es gab keinerlei Essen, ihre Notdurft verrichteten sie nur selten. Am Abend des dritten Tages kamen Wachsoldaten und brachten sie auf einem Leiterwagen zum Dampfer „Maria Uljanowa“. Bei jedem Dorf legte der Dampfer an und ließ 2-3 Familien aussteigen, und während dieser Zeit beschafften die Männer für den Dampfer Brennholz. Als sie in Worogowo ankamen, wurden sie sehr schlecht in Empfang genommen, man sagte zu ihnen sie wären Kulaken – ihr seid reiche Leute, geschieht euch ganz recht. Sie wurden in Baracken eingewiesen, in denen es praktisch unmöglich war zu leben, denn es gab keinen Platz. Man hatte eine große Grube ausgehoben, wo sie ihre Notdurft verrichten konnten, und man mußte noch zusätzliche Pritschen aufstellen – zwischen den bereits vorhandenen. Am nächsten Tag kam ein Soldat zu Agnia Semjonownas Mutter und sagte, dass sie in der „Waldwirtschaft“ arbeiten sollte. Damals gingen die Kinder bereits zur Schule. Es gab die

7-Klassen-Schule, aber danach weiter zu lernen – das konnte man vergessen. Sie sagten, dass sie nicht weiter als bis nach Jarzewo fahren dürften und nicht weiterlernen könnten. Zu jener Zeit gab man den Arbeitern 400 Gramm Brot und selten ein dünnes Süppchen, es war das schlimmste Hungerjahr. Jede Woche mußten sie sich auf der Kommandantur melden und registrieren lassen.

Nach der Rehabilitation fuhren viele in ihre Heimat zurück, aber Agnia Semjonownas Familie fuhr nicht, denn sie hatten nicht die nötigen finanziellen Mittel. Und so blieben sie in Jarzewo.

Zur Zeit erhält Agnia Samjonowna die Vergünstigungen einer Arbeitsveteranin, d. h. Preisermäßigungen auf Strom, Brennholz und zu 50% auf Medikamente, aber diese Summe ist für einen Veteranen auch recht hoch.

Es existiert ein Foto.

Die Befragung wurde durchgeführt von Denis Pisanskij (historische Abteilung der Jenisejsker Fachschule für Pädagogik)

Erste Forschungsexpedition für Geschichte und Menschenrechte


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