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Das krasnojarsker „Memorial“

Den Anstoß zur Schaffung einer Initiativgruppe „Memorial“ in Krasnojarsk gab eine Veröffentlichung von Jurij Schteschkotschichin am 20. Januar 1988 in der „Literatur-Zeitung“. Darin ging es um eine in Moskau durchgeführte Unterschriftensammlung für einen Appell an das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR bezüglich der Verewigung des Gedenkens an die Opfer des stalinistischen Terrors. Nachdem sie den Text für diesen Appell erhalten hatte, machte sich die Initiativgruppe in Krasnojarsk nun ihrerseits an die Sammlung von Unterschriften. Mehr als zweitausend Krasnojarsker und Bewohner unserer Region setzten ihre Unterschrift unter den Aufruf. Die Unterschriftenlisten leiteten wir an das Präsidium des Obersten Sowjet und die Adresse des 19. Parteitages weiter. Offensichtlich schenkte man der Meinung der Krasnojarsker Aufmerksamkeit, denn auf der Parteisitzung wurde beschlossen, in Moskau eine Gedenkstätte für die Opfer unbegründeter Repressionen zu errichten.

Im Juni 1988 begann das Krasnojarsker „Memorial“ Material über Repressionsopfer, Haftverbüßungs, Erschießungs- und Begräbnisorte zu sammeln. An uns gelangten Dokumente, Fotografien, Zeugenberichte, Erinnerungen. Bis zum Oktober verfügt dieses „Memorial“ über Auskünfte und Materialien unterschiedlicher Vollständigkeit von mehr als viertausend Personen. Es wurde eine EDV-Datenbase über Repressierte erstellt. Es existieren über zehntausend Seiten maschinengeschriebener Texte von Erinnerungen und Zeugenberichten. Die vorhandenen Materialien werden für den Druck vorbereitet. Die Mitglieder von „Memorial“ sprechen öffentlich vor den Einwohnern der Stadt (es gab etwa einhundert solcher Auftritte). Wir haben vier Expeditionen in den Bezirk des ehemaligen KrasLag unternommen. „Memorial“ setzt sich nicht nur konsequent für die Verbesserung der sozialen und alltäglichen Bedingungen von Repressierten und ihren Familienmitgliedern ein, sondern auch für die lückenlose Aufklärung der authentischen Geschichte unseres Staates; wir unterstützen Initiativen, die für die Bildung eines Rechtsstaates eintreten; wir unterstützen die Bemühungen der Volksdeputierten und „Memorial“-Mitglieder, führen Unterschriften-sammlungen für das „Dekret der Macht“ durch, das von Andrej Dmitrijewitsch Sacharow vorgeschlagen wurde.

Die gesellschaftliche Bewegung „Memorial“ erfaßt eine Vielzahl der Regionen des Landes. Im Januar dieses Jahres fand in Moskau die konstituierende Versammlung von „Memorial“ statt. Derzeit umfaßt die All-Unionsgesellschaft für Geschichtsaufklärung „Memorial“ 189 regionale Abteilungen. Vor uns liegt noch eine Menge Arbeit.Die Destalinisierung der Gesellschaft, die Verteidigung der Rechte jedes Menschen, die Demokratisierung auf breiter Basis, eine ehrerbietige Haltung gegenüber den Vertretern aller Nationalitäten, gewaltloses Vorgehen bei der Entscheidung strittiger Fragen – das sind die grundlegenden Prinzipien von „Memorial“. Es wurden zehntausende von Unterschriften gesammelt, die größtenteils an den 19. Parteitag adressiert waren, der dann auch den Beschluß zur Schaffung einer Gedenkstätte für die Opfer unbegründeter Repressionen faßte.

Im Oktober 1988 fand im Moskauer Kinohaus die Vorbereitende Konferenz der freiwilligen Allunionsgesellschaft für geschichtliche Aufklärung „Memorial“ statt, an der 338 Delegierte aus 57 regionalen Abteilungen teilnahmen. Als Organisatoren und Initiatoren von „Memorial“ traten die „Literatur-Zeitung“, die Zeitschrift „Ogonjok“, die Vereinigung der Kinematographen der UdSSR, die Vereinigung der Theaterfunktionäre der UdSSR, die Architekten-Vereinigung der UdSSR, die Künstler-Vereinigung der UdSSR und die Vereinigung der Designer der UdSSR. Als Gesellschaftsrat von „Memorial“ wurden bestätigt: A.M. Adamowitsch (stellvertretender Vorsitzender), J.N. Afanasjew, G.J. Baklanow, W.W. Bykow, D.A. Granin, J.A. Jewtuschenko (stellvertretender Vorsitzender), B.N. Jelzin, J.F. Karjakin (stellvertretender Vorsitzender), W.A. Korotitsch, D.S. Lichatschew, R.A. Medwedew, B.S. Okudschawa. L.E. Rasgon, A.N. Rybakow, A.D. Sacharow (Ehren-Vorsitzender), M.A. Uljanow, M.F. Schatrow (stellvertretender Vorsitzender). Man beschloß, die „Memorial“-Gründungskonferenz im Dezember 1988 abzuhalten. Allerdings konnte aufgrund von künstlich durch die oberste Partei- und Staatsleitung geschaffenen Schwierigkeiten die Konferenz dann doch erst im Januar 1989 stattfinden. Auf ihr wurden mehr als hundert regionale Zweigstellen vorgestellt, die Satzung der Gesellschaft angenommen, ein wissenschaftliches Forschungszentrum (NIZ „Memorial“) gebildet sowie die sittlich-moralischen Prinzipien von „Memorial“ erörtert und beschlossen. Der Arbeit schlossen sich tausende von Menschen im ganzen Land an. Repressiertenlisten, die schwierigen Schicksale von Menschen, Konzentrationslager, Gefängnisse, Gefangenentransporte, Deportationen, Verbannung, Folter, Erschießungen, Begräbnisstätten – alles, was man so sorgfältig versucht hatte geheim zu halten, und was auch heute noch im Interesse einiger Behörden und Personen vor der Öffentlichkeit verborgen werden soll, wurde nun zum Gegenstand des Studiums der Memorialisten. Es wurden zehntausende von Dokumenten, Fotografien und Zeugenberichten gesammelt; „Memorial“ wandte sich als erste gesellschaftliche Organisation mit der Forderung an die Behörden, die Anklage gegen Alexander Solschenitzin wegen Vaterlandsverrats aufzuheben, ihm die Staatsbürgerschaft zurückzugeben und den „Archipel GULAG“ zu veröffentlichen. „Memorial“ unterstützte das von Sacharow vorgeschlagene „Dekret über die Macht“. Von „Memorial“ wurden das erste internationale Seminar für mündliche Geschichtsüberlieferung, ein Seminar polnischer und sowjetischer Historiker zur Katynfrage, das erste Allrussische Forum zum Thema „Entstalinisierung des Bewußtseins“ sowie eine Kette der Erinnerung um das Gebäude der Lubjanka organisiert und durchgeführt. In Taiga und Tundra werden durch „Memorial“ Expeditionsreisen vorgenommen, die zu den Orten der Leiden und des Todes unserer Landsleute führen. Und es liegt noch viel, sehr viel ins Unreine geschriebene, überhaupt nicht sichtbare Arbeit an: die Beantwortung tausender Briefe, das Einreichen von Anfragen über das Schicksal von Menschen bei verschiedenen Instanzen, die Einrichtung einer Kathotek, Befragungen, die Umbettung von Verstorbenen, die Organisierung von Ausstellungen. „Memorial“ will das Wissen um die Schicksale von Menschen wiederherstellen – unabhängig von ihrer Nationalität und ihren religiösen oder politischen Ansichten.

Wie verhält man sich „Memorial“ gegenüber? Man attackiert es von rechter und linker Seite. Die Rechten behaupten – es verhalte sich gegenüber den Behörden nicht loyal, lasse sich von irgendwelchen politischen Ideen mitreißen, gehe viel zu weit über den zeitlichen Rahmen des stalinistischen Terrors hinaus, versuche sich an den grundlegenden Prinzipien der Partei und der sowjetischen Staatsauffassung zu vergreifen und mische sich im großen und ganzen in fremde Angelegenheiten ein; wozu Vergangenes aus der Versenkung kramen, wenn wir doch die Perestrojka und selber gegenwärtige ernsthafte Probleme haben. Und die Linken finden, daß wir vor den Behörden herumscharwenzeln, nicht radikal genug sind, in vergangenen Tagen versinken, wozu also Vergangenes aus der Versenkung holen, wenn man vielmehr einträchtig einem hellen, klaren, demokratischen Morgen entgegenmarschieren sollte.

Und unter dem Kugelhagel der von beiden Seiten abgeschossenen Kanonen fährt gradlinig das Schiff dieser am wenigsten lärmenden, vielköpfigen und voller Arbeit steckenden gesellschaftlichen Bewegung des Landes, überzeugt von den Prinzipien der Humanität, Güte und Barmherzigkeit.

Ein paar Worte zum krasnojarsker „Memorial“. Den Anstoß zu einer Initiativgruppe in Krasnojarsk gab die Veröffentlichung Jurij Schtschekotschichins vom 20. Januar 1988 in der „Literatur-Zeitung“ über eine in Moskau durchgeführte Unterschriftensammlung mit einem Appell an das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR, in dem die Schaffung einer Gedenkstätte für die Opfer des stalinistischen Terrors gefordert wurde. Wir sammelten mehr als zweitausend Unterschriften und schickten sie nach Moskau. Und im Sommer 1988, nachdem so manche ihre Ängste überwunden und andere ihr Mißtrauen und ihren Widerstand abgelegt hatten, begannen wir mit dem Sammeln von Zeugenberichten und Dokumenten über die Repressionspraktiken von Partei und Staat. Die eigentlichen Gründer und Organisatoren der krasnojarsker Filiale waren die Schriftsteller-Vereinigung und später die krasnojarsker Abteilung des Sowjetischen Kulturfonds. Man muß dazusagen, daß unser „Memorial“, im Unterschied zu den anderen regionalen Büros, keinerlei Unterstützung von Seiten der schöpferischen und technischen Intelligenz erhielt. Wir fanden lediglichVerständnis und Hilfe bei einigen Journalisten und Schriftstellern – ihnen gilt unser Dank.

Es vergingen zwei Jahre. Vielleicht Ergebnisse können wir inzwischen aus unserer Arbeit verzeichnen? Hier nur kurz einige Beispiele:

Welchen Schwierigkeiten stehen wir gegenüber? Das krasnojarsker „Memorial“ ist nicht registriert. Die zur Registrierung erforderlichen Dokumente sind irgendwo im tiefsten Innern des städtischen Exekutiv-Komitees versunken. Möglicherweise tragen auch wir selbst daran die Schuld- wir waren wahrscheinlich nicht beharrlich genug. Wir benötigen dringend Räumlichkeiten für die Unterbringung unseres Archivs und der Bibliothek, für die Bürger-Sprechstunden und die Durchführung unseres Forschungsarbeiten.

Der Sommer ist zuende gegangen – die Zeit der Expeditionen und Ferien, und wir fahren fort mit dem Sammeln von Dokumenten und dem Notieren von Zeugenberichten. Wir wenden uns an alle Krasnojarsker, alle gesellschaftlichen und offiziellen Organisationen der Stadt und der gesamten Region mit der Bitte, uns bei dieser Arbeit zu helfen.

„Memorial“ führt dienstags von 18 bis 21 Uhr Besucher-Sprechstunden in der Redaktion der Zeitung „Krasnojarskij Komsomolez“ (Straße der Republik 51, Zimmer 10-06, Tel. 22-20-84) durch. Die Arbeitssitzungen von „Memorial“ finden jeweils donnerstags von 18 bis 21 Uhr im Gebäude des Bezirkskomitees im Zentral-Bezirk statt.

Unsere Postanschrift lautet: 660049, Krasnojarsk, Mira 3, „Memorial“.

Abschließend bekräftigen wir noch einmal, daß „Memorial“ alle gesellschaftlichen und politischen Bewegungen unterstützt, die für die Demokratisierung unserer Gesellschaft und die Schaffung eines Rechtsstaates eintreten.

Vorsitzender des
Krasnojarsker „Memorial“
W. Sirotinin
28.08.1990


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