Iwan Rudolfowitsch Bulach wurde am 11. April 1941 in der Ukraine, Gebiet Odessa, Rasdeljansker Bezirk, Ortschaft Kandel, geboren. Vater Rudolf Michailowitsch Bulach, (geb. 1916), arbeitete als Schwarzmeer-Fischer; seine Mutter, Maria Benhardowna Bulach (geb. 1916) war Hausfrau. Die Familie umfasste 8 Personen. Sie lebten in einem großen Haus aus Ziegelsteinen, verfügten über ein großes Stück Nutz-Land – allein der Weinberg war sechzig Hektar groß. Sie stellten selber Hauswein her, bauten Getreide auf ihrem Feld an; sie besaßen auch eine Kuh und ein Pferd. Iwan Rudolfowitsch erinnert sich: „Ich mochte unheimlich gern Milch trinken, und ganz früh morgens, wenn Mama die Kuh molk, wachte ich immer auf und trottete dann mit einem kleinen Krug in der Hand zu ihr in den Stall; den schüttete sie mir bis obenhin mit warmer, frisch gemolkener Kuhmilch voll. Und ich trank ….“. Kandel war ein Groß-Dorf, dort wohnten ausschließlich Deutsche. Sie sprachen hauptsächlich Deutsch, denn die Einwohner konnten sich nur schlecht in der russischen Sprache verständigen, und manche konnten überhaupt kein Russisch. Das Leben im Dorf war angefüllt mit deutschen Traditionen; es gab in der Ortschaft auch eine Kirche. Die Familien glaubten an Gott und hielten die Fastentage ein: mittwochs und freitags aßen sie kein Fleisch.
Während des Großen Vaterländischen Krieges wurde das Groß-Dorf Kandel von den Truppen des faschistischen Deutschlands besetzt. Beim Angriff der Sowjettruppen wichen die Faschisten aus den von ihnen zuvor okkupierten Territorien zurück und nahmen die Bewohner mit gen Westen. Als die Bewohner sich schließlich dazu entschlossen mit ihnen zu gehen, sammelten sie in aller Eile das Allernotwendigste zusammen – Bettwäsche, Kissen, Decken, Kleidung …. Vor den Leiterwagen wurde ein Pferd gespannt, die Kuh banden sie hinten an. Lange waren sie unterwegs; der Weg führte sie durch Polen und die Tschechoslowakei. Während der Fahrt starben zwei Brüder Iwan Rudolfowitschs an Hunger. So kam die Familie Bulach 1945 nach Deutschland, in die Stadt Halle. Nach dem Sieg wurde die Familie Bulach nach Russland repatriiert. Iwan Rudolfowitsch erzählt: „Als sie uns sagten, dass wir zurück müssten, freuten wir uns, denn wir wollten auch wieder nach Russland; alle glaubten, dass sie uns in die Heimat, nach Kandel, zurückbringen würden und alles wieder in Ordnung käme. Wir träumten davon, dass sie uns dann auch unsere Kuh und unser Pferd zurückgeben, uns alles Verlorene ersetzen würden“.
Sie fuhren lange mit dem Zug, anschließend mit dem Schiff, und kamen schließlich nach Sibirien – in die Stadt Jenisejsk. Es war bereits Herbst, als sie dort eintrafen und schon sehr kalt. Anfangs brachte man sie in der Kirche unter. Mit ihnen waren auch die Familien Schmidt und Gaiser. Sie lebten einträchtig miteinander. Später ließen sie sich in Kaschtak (einem Bezirk der Stadt Jenisejsk) in einer Baracke nieder.
Iwan Rudolfowitschs Vater fand eine Arbeit im Rohstofflager der Schiffswerft. Es war eine schwere Arbeit, die er dort zu verrichten hatte. Er musste Baumstämme aus dem Wasser hinausrollen, die dann zur Verarbeitung in die Holzfabrik kamen. Es war Winter. Es gab nichts, womit man zuhause hätte heizen können, es war so kalt, dass sie kurz vor dem Erfrieren waren. Obwohl der Vater „beim Holz“ arbeitete, durfte er von dort kein Brennholz mitnehmen, nicht einmal ein kleines Bündel. Dem Unternehmen war die Kommandantur angeschlossen; das Territorium wurde von Schäferhunden bewacht, und jeder noch so geringfügige Diebstahlsversuch wurde unterbunden; wenn doch jemand erwischt wurde, dann wurde derjenige für 3-5 Tage und Nächte inhaftiert. Der Vater folgte immer dem Ufer des Jenisejs, wenn er nach Hause ging, um dort kleine Holzstückchen aufzusammeln.
Die Mutter wurde krank, und man gab ihr keine Arbeit. Und plötzlich brachen für die Familie schwarze Tage herein. Die Kinder hatten oft Hunger und bekamen schnell Hungerödeme. So starben in Jenisejsk Iwan Rudolfowitschs beiden Schwestern: 1947 – Theresa, sie war erst 2 Jahre alt; 1949 – Magdalena im Alter von 5 Jahren. Die Kinder hatten ständig geweint, weil sie etwas zu essen haben wollten. „ …. Aber zum Krankwerden war keine Zeit, und es gab ja auch nichts, womit man sich hätte behandeln können; kein Mensch dachte an Arzneimittel, alle Gedanken waren voll und ganz damit beschäftigt, von irgendwoher ein kleines Stückchen Brot zu beschaffen“. Sobald die ersten Gräser hervorsprießten, fingen die Kinder an sie zu sammeln, um daraus Fladen zu backen. Die Mutter tauschte alle Sachen, die sie von Zuhause mit hierher gebracht hatten, gegen einen Eimer Kartoffeln ein, der damals 300 Rubel kostete. Und eines schrecklichen Tages gab es nichts mehr zum Eintauschen, aber die Kinder wollten essen. Und da gingen sie zusammen mit der Mutter los und bettelten um Almosen“. Sie liefen umher, weinten, baten um Brot und hielten ihre kleine zerlumpte Leinentasche in der Hand … Manch einer gab ihnen Brot, manch einer Kartoffeln“.
Später teilte man ihnen als Gemüsegarten 10 Hundertstel Land für den Gemüsegarten zu – und sie fingen an Kartoffeln anzubauen. Dadurch, dass sie von der Nachbarin auf Kredit eine Kuh kauften, gelang es ihnen zu überleben. Mit ihrer Burenka ging es ihnen dann besser.
„Ich träumte davon mich an der Milch satt zu trinken. Zu der Stelle, wo das Heu gemäht wurde, waren es 7 km; das war in dem Dorf Prutowa. Als ich dort ankam, war ich schon ganz müde und konnte gar nichts mehr machen; ich hatte keine Kraft mehr, und Vater meinte, dass wir die Kuh zurückgeben sollten, dann würden auch die Kräfte wiederkehren – ich hatte schreckliche Angst, dass der Vater die Kuh tatsächlich wieder verkaufen wollte….“.
Den Hunger wird Iwan Rudolfowitsch sein Leben lang nicht mehr vergessen. „Ich ging die Straße entlang, und vor mir ging ein Bursche, der eine Gurke aß, die Schale aber auf den Weg spuckte; ich ging ihm nach, sammelte die Gurkenschalen auf und aß sie… Und Süßes mochte ich auch schrecklich gern. Mama gab uns Würfelzucker immer abgezählt, ich aß die Stückchen sehr schnell und wollte dann noch mehr, aber die Stückchen waren ja genau aufgeteilt; mal biss ich von dem einen ab, mal von dem anderen, und es wurden immer weniger … Eines Tages erwischten mich die Eltern dabei und bestraften mich dafür …“.
Die Menschen hatten Angst Deutsch zu sprechen; sie lernten Russisch, aber man merkte trotzdem, dass sie Deutsche waren. Sie fürchteten sich, ihre Muttersprache zu benutzen, denn die Russen hörten das nicht gern. Die Beziehungen zu den Ortsansässigen waren angespannt. „Wir, die Kindchen, prügelten uns; man hasste uns und nannte uns „Faschisten“; wie lernten, wie man sich kräftig wehren kann: sonst hätten wir nicht überlebt…“. Diesen Hass auf die „Faschisten“ hatten, nach Meinung von Iwan Rudolfowitsch, sogar die Lehrerinnen in der Schule.
Ab dem 11. Lebensjahr arbeitete Iwan Rudolfowitsch im Sommer als Hütejunge. Aber zuerst musste er beim Hirten eine zweiwöchige Lehre absolvieren. „Auch hier gibt es bestimmte Feinheiten zu beachten,“ – wie Iwan Rudolfowitch es ausdrückte. Der Herde voran sollte der Hirtengehilfe gehen, zu beiden Seiten 2 Hirtenjungen und hinten der Oberhirte.
Er lernte auch auf dem Bariton (einer Trompete) spielen, gehörte bei Tanzveranstaltungen, auf Beerdigungen … zum Blasorchester.
Als er 15 Jahre alt wurde, fand er 1958 eine Arbeitsstelle in einer Tischlerwerkstatt, arbeitete dort zusammen mit seinem Lehrmeister an ein und derselben Werkbank, erlernte das Tischlerhandwerk und erhielt 27 Rubel Lehrgeld.
Zu Neujahr wurde der Tannenbaum mit „Konfekt“ geschmückt (Kartoffelstückchen wurden in Papier eingewickelt), später behängte man sie mit echten Lutschbonbons der Marke „Dunkas Freude“ . Die wöchentlichen Fastentage wurden streng eingehalten; man feierte Weihnachten und Ostern und fabrizierte deutsche Backwaren. Aber ihre Geburtstage feierten sie nicht.
Iwan Rudolfowitsch war weder Kinder-Oktobrist noch Pionier; erst als er anfing in der Tischlerwerkstatt zu arbeiten, wurde er Komsomolze, und als er später der Partei beitrat, tadelten die Eltern ihn und machten ihm Vorwürfe, dass er sich ein leichtes Leben machen wolle. Die Eltern waren auch dagegen, dass Iwan ein russisches Mädchen heiratete, sie hätten in der Familie gern ein deutsches Mädel gehabt – die Tochter von Vaters Freund. Deswegen gingen sie auch nicht zu seiner Hochzeit.
In die Ukraine fuhr er nicht zurück. Ein paar Familien aus dem Bekanntenkreis reisten dorthin und besuchten unterwegs ihr altes Heimatdorf; sie erzählten, dass sie den Ort schon nicht mehr wiedererkannt hätten und die Weinberge und Felder alle mit hohem Unkraut überwuchert wären. 2000 reiste er nach Deutschland aus, kehrte aber wieder zurück. Iwan Rudolfowitsch berichtet, dass die Menschen dort ein ganz anderes Leben führen, dass man sich Russen gegenüber ganz anders verhält. „Ich brauche weder Moskau noch Sankt-Petersburg oder Berlin – Ich habe nirgends eine Heimat ….“.
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken