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Wladimir Pomeranzew . In zaristischen und stalinistischen Gefängnissen

Die Fußetappe

Am Morgen des 3. Dezember 1941, nachdem ich meine reguläre Brotration und einen Krug mit heißem Wasser bekommen hatte, wurde ich „mit den Sachen“ herausgerufen. Nach den Etappen war von meinen Sachen nicht mehr als ein zerfetzter Mantel, ein wenig Unterwäsche, drei Taschentücher und zwei Paar zerrissene Socken übriggeblieben. Außerdem hatte ich noch ein Daunenkissen, das ich bei der Verhaftung von zu Hause mitgenommen hatte, aber es war bei meiner Ankunft im Tomsker Gefängnis in Verwahrung genommen worden.

Wohin werden wir geschickt? Auf diese Frage, die an den Begleitsoldaten gerichtet war, antwortete dieser in grobem Ton: „Das werdet ihr dort schon sehen!“ Wir beobachteten, wie die Begleitsoldaten zusammengestellt und ausgerüstet wurden, und begriffen, daß wir aus diesem Gefängnis ganz fortgebracht werden sollten. Ich bat darum, mir das Kissen zurückzugeben, welches ich zur Aufbewahrung abgegeben hatte. Diese Bitte gefiel dem älteren Konvoisoldaten nicht, und noch weniger dem Lagerarbeiter, besonders als ich nachdrücklich darauf bestand, daß man mir das Kissen zurückgab.

- Haben Sie denn eine Quittung?

Der Lagerarbeiter hoffte, daß ich die Empfangsquittung verloren oder, was wahrscheinlicher

war, zum Rauchen verwendet hatte, wie es die meisten Inhaftierten taten, wobei sie sich bemühten, nur den kleinen Fetzen aufzubewahren, auf dem die Quittungsnummer stand. Ich hatte es bislang noch nicht geschafft, das Papier für eine Zigarette zu verwenden – ich besaß keinen Tabak.

- Da ist sie!

Der Lagerarbeiter warf mit größter Verachtung aus dem Fenster des Aufbewahrungslagers ein schmutziges, kleines Federkissen, das dem meinen überhaupt nicht ähnelte.

- Das Ding da ist nicht mein Kissen! Meins ist ein Daunenkissen und viel größer.

- Wenn du noch lange redest, dann wirst du auch dieses hier nicht bekommen, - und damit schlug der Lagerarbeiter das Fenster zu.

Um mir keinerlei Zeit zu lassen, meinen Protest noch einmal zu wiederholen – sonst verlangt er womöglich noch nach dem Diensthabdenden! – beendeten die Begleitsoldaten schnell die Durchsuchung und führten uns in den Gefängnishof hinaus.

Weder im Gefängnishof, noch hinter den Toren stand irgendein „Schwarzer Rabe“ (Fahrzeug, in dem Gefangene transportiert wurden; Anm. d. Übers). Das hieß also, daß wir zufuß fortgebracht wurden. Wohin? Wenn wir nach links gehen würden, bedeutete das zum Bahnhof, und dann mit der Eisenbahn auf Etappe. Wir bogen nach rechts ab. Wohin denn nun? Nachdem wir an einigen Häuserblocks vorüber gegangen waren, baten wir die Begleitwachen etwas langsamer zu gehen, denn wir waren sehr erschöpft. Unsere Zurufe wurden befolgt. Die Wachen gingen langsamer. Unsere entkräfteten Gestalten, die sich gegenseitig unter den Armen stützten, die gelblichen Gesichter - bläulich mit Bartstoppeln zugewachsen - erweckten offenbar das Mitleid des älteren Wachsoldaten, und nachdem die Prozession über eine Strecke von drei, vier Häuserblocks mitten auf der Straße marschiert war – ordnungsgemäß – erlaubte er ihnen, den Bürgersteig zu benutzen: zwei Konvoisoldaten vorneweg, zwei hinterher. Wir wurden sogar ein bißchen fröhlich.

Tomsk hatte ich noch aus meiner frühen Kindheit in Erinnerung. Meine Familie - Vater, Mutter, ich und meine Schwester Lida lebten bis zum Jahre 1908 in Nowonikolajewska.

1904 wurde meine Schwester 8 Jahre alt und ich 4. Meine Schwester sollte aufs Gymnasium, aber eine solche Schule gab es zu der Zeit in Nowonikolajewska nicht. So beschloß der Vater Lida nach Tomsk zu schicken und sie in einem Privat-Pensionat unterzubringen. Die Schwester wurde im Herbst fortgeschickt, und in den Weihnachtsferien fuhr die Mutter mit mir dorthin, um Lida zu besuchen. Aus jener Zeit habe ich an die Stadt Tomsk fast keine Erinnerungen. Im Gedächtnis haften geblieben sind mir undeutliche Eindrücke von breiten Straßen und Gehwegen, die mit steinernen Fliesen ausgelegt waren und ich hüpfte auf diesen Fliesen entlang. Aber gut kann ich mich noch an das frohe Zusammentreffen mit Lida im Pensionat erinnern. Und ganz besonders an das Frühstück. Viele Mädchen waren da, und ich der einzige Junge. Man ließ uns an einem langen Tisch Platz nehmen. Lida wollte, daß ich neben ihren Freundinnen saß. Aber davor hatte ich Angst, und weil die Mutter mein Gebrüll fürchtete, setzte sie mich zwischen sich und Lida. Ich habe auch noch die krümeligen, gekochten Kartoffeln mit Tafelbutter in Erinnerung. Es gab auch andere Speisen, aber der Geschmack der Kartoffeln und der Butter sind mir ein Leben lang nicht aus dem Kopf gegangen, und dieses Essen wurde zu meinem Lieblingsgericht.

- Ach wäre das schön, wenn man jetzt solche Kartoffeln essen könnte, - sagte Illiminskij, dem ich ganz leise von meinen kostbaren Tomsker Erinnerungen erzählt hatte.

- Ja-a-a, das wäre schön, selbst wenn sie ohne Butter wären; wenn es nur ein paar mehr wären. Und dann erinnere ich mich noch daran, wie ich im Frühjahr mit der Mutter nach Tomsk fuhr, um Lida für die Zeit der Sommerferien nach Nowonikolajewsk zu holen. Besonders eine Einzelheit ist mir im Gedächtnis geblieben – ein Ereignis, das sich im Zugabteil abspielte. An irgendeiner Station bat Lida die Mutter, einen gebratenen Schweinekopf zu kaufen. Wir kauften auch tatsächlich einen, nahmen ihn mit ins ins Abteil und legten ihn auf das Tischchen vor dem geöffneten Fenster. Dann ließen sie mich dort allein zurück und stiegen selber noch einmal aus, weil sie auch noch etwas anders kaufen wollten. Ich blickte mit größter Feindseligkeit auf diesen verschrumpelten, gerösteten Kopf. Und je mehr ich ihn ansah, um so widerlicher schien er mir. Schließlich konnte ich es nicht mehr aushalten und warf ihn aus dem Fenster. Die Mutter und Lida kehrten zurück, der Zug setzte sich wieder in Bewegung, und plötzlich entsannen sie sich des Ferkelkopfes, aber war nicht da. Es entstand Unruhe. Ich mußte mich auf eine gehörige Strafe gefaßt zu machen. Und ich bekam wirklich eine ordentliche Tracht Prügel. Ich weiß noch, daß ich lange laut weinte und mich erst wieder beruhigte, nachdem ich ausgiebig um Verzeihung gebeten und eine Portion Beeren mit Sahne verzehrt hatte ...

Und da führt man mich nun viele, viele Jahre später als Verhafteten durch die Straßen von Tomsk. Es herrschte wohl Frost, nicht weniger als 20 Grad, aber die trockene sibirische Kaltluft verursachte kein Zittern, und außerdem waren wir ja durch das Gehen in Bewegung, wenngleich wir ziemlich geschwächt waren. Wir gingen durch irgendeinen Vorort, überquerten einen unbebauten Platz, und dann kam wieder eine Straße. Eine zweigeschossige

Kaufmannsvilla mit Türmen an den Gebäudeecken und einer hohen, stabilen Einzäunung, die oben mit Stacheldraht gesichert war. Ein Durchgangshof. Wir froren schon ein wenig und traten mit Vergnügen auf der Stelle, als wir uns in dem großen Durchgangszimmer aufwärmten, das offensichtlich vor nicht allzu langer Zeit aus Ziegelsteinen erbaut worden war. Der älteste Begleitsoldat ging ins Nebenzimmer und führte dort irgendwelche Gespräche. Schließlich war die Unterredung beendet. Zusammen mit der Begleitwache traten ein paar neue Aufseher aus dem Nebenraum, an die wir dann übergeben wurden. Der Wachsoldat aus dem Tomsker Gefängnis machte sich eilig davon, wobei er uns noch fast wohlwollend zurief:

- Viel Glück!

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