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Wladimir Pomeranzew . In zaristischen und stalinistischen Gefängnissen

Das Sondergefängnis. Der Donnergott. Das Bad

Sie führten uns in den Hof hinaus und brachte uns in ein anderes Gebäude, das von der Straße aus zu sehen war. Es hatte auch zwei Stockwerke, war jedoch nicht das Hauptgebäude. In der zweiten Etage gab man uns den Befehl, uns in ein Zimmer zu setzen, bei dem es sich allem Anschein nach um das Empfangszimmer handelte. In dem Raum standen zwei Tische. Hinter dem einen saß eine Maschinenschreiberin und tippte irgendetwas. Zweimal blickte sie zu uns herüber, und es kam mir so vor, als ob sie vor lauter Ekel das Gesicht verzog. Und das war auch nicht verwunderlich. Wir sahen schrecklich aus: ich trug einen schmutzigen, zerschlissenen Mantel, der auf den Zementböden der Gefängniszellen ziemlichen Schaden genommen hatte. Der Hut, der irgendwann einmal beige ausgesehen hatte, war jetzt von einer undefinierbaren Farbe, schmutzig und zerdrückt. Illiminskij war auch nicht besser gekleidet. Seine ehemals flotte Seemannsmütze sah wie ein kläglicher Pfannkuchen aus, und sein schwarzer Mantel hatte sich in ein fleckiges Etwas mit zerlumpten Ärmeln und ausgerissenem Saum verwandelt. Es lohnte sich auch nicht, über unsere Gesichter zu reden – sie sahen schrecklich aus. Wahrscheinlich ging von uns auch ein dementsprechender Geruch aus. An dem anderen Tisch saß ein Soldat in Uniform, ein Leutnant – nach den Rangabzeichen an den Kragenspiegeln zu urteilen. Als aus dem Kabinett ein Klingelzeichen erscholl, ging er hinaus und kehrte eine geraume Zeit nicht wieder zurück. Die Tür zum Kabinett war mit Kunstleder überzogen, praktisch eine Doppeltür, und es gab einen großen Vorraum. Die Frau an der Schreibmaschine ging hinaus, und so blieben wir zwei in dem Zimmer zurück und wechselten nur flüchtig ein paar Worte.

Weshalb hatten sie uns hierhergebracht? Um das Untersuchungsverfahren fortzusetzen? Und warum nicht ins Große Haus (Leningrader Untersuchungsgefängnis; Anm. d. Übers.)? Diese Großen Häuser sind in allen Städten ganz spezifisch. Das Gebäude, in dem wir uns hier befanden, ähnelte nicht dem Großen Haus. Und wieso sollte das Ermittlungsverfahren in der Stadt Tomsk fortgeführt werden, zu der Illiminskij keinerlei Beziehungen hatte, und in der ich zuletzt vor 12 oder 13 Jahren gewesen war? Ich fing an zu raten. Hier in Tomsk lebte und arbeitete Professor Galachow. Man hatte ihn im Jahre 1937 verhaftet, und er war spurlos verschwunden. Ich kannte Galachow, er war Schüler von Pjotr Konstantinowitsch Sobolewskij, aus der älteren Generation, gewesen; ich hatte von der jüngeren Generation gelernt. Ich hatte Galachow auch bei Sobolewskij getroffen, bei Versammlungen und Konferenzen. Ich war stets von seiner Eleganz begeistert gewesen. Hochgewachsen, sehr hager, immer gut angezogen, mit einem angenehmen, klugen Gesicht, immer entgegenkommend, scharfsinnig bildete er einen großen Gegensatz zu dem dicken, zerzausten, stets an vielen Stellen mit Kreide verschmutzten Sobolewskij. Aber dieser Kontrast unterstrich nur in hohem Maße die treue Ergebenheit, ich würde sogar sagen Liebe, Galachows zu seinem Lehrmeister. Manchmal war er ganz offen, begeisterte sich laut für Sobolewskij, besonders wenn er von ihm irgendeine wissenschaftlich-technische Neuigkeit zu hören bekam, die dieser sich ausgedacht hatte.

- Ach, Pjotr! Ach, Pjotr! – sagte Galachow mit tiefer Baßstimme und blickte verzückt auf seinen Lehrer. Er, der er schon mehr als zehn Jahre unter der Leitung Sobolewskijs gearbeitet hatte, entdeckte häufig, daß er seinen Lehrmeister in vielen Dingen noch nicht sehr gut kannte. Sobolewskij überraschte stets seinen vielseitigen Gelehrsamkeiten. Er war Mathematiker und Bergbau-Ingenieur, Astronom und Wissenschaftler der Geodäsie, Kenner von Präzisionsinstrumenten und Musikant. Als Sobolewskij vom Tomsker Institut zum Swerdlowsker umzog, meinte er, daß der in Tomsk zurückgelassene Lehrstuhl für Markscheiderwesen in den zuverlässigen Händen seines besten Schülers Galachow gut aufgehoben war. Und da brauste im Jahre 1937 der Orkan durch die politischen, wissenschaftlichen und anderen Lehreinrichtungen und Institute und auch durch die höchsten Lehrkräfte für Markscheiderwesen in der Sowjetunion: fast gleichzeitig wurden die Professoren Gutt in Moskau, Buchinik in Dnjepropetrowsk und Galachow in Tomsk verhaftet. Weshalb? Nicht einmal im Flüsterton hätte irgendjemand diese Frage beantworten können. Sie waren eben Volksfeinde – und das war alles.

In jenen Zeiten kam es mir so vor, als wäre es zur Verhinderung beliebiger Verbrechen unumgänglich, die Bevölkerung in breitem Umfang vom Inhalt eines Verbrechens und der darauf zu erwartenden Strafe in Kenntnis zu setzen. Wenn nichts darüber öffentlich in der Presse gesagt wurde, dann muß das in einem festgelegten geheimen Verfahren gesagt werden. In der Regel waren alle Markscheider zu geheimen und streng geheimen Arbeiten zugelassen. Daher konnte man ihn in die Sonderabteilung am Arbeitsplatz bestellen und dort Mitteilung machen, worin die feindlichen Aktivitäten Galachows, Gutts, Buchiniks und anderer Arrestanten bestand. Nein, wir erhielten keinerlei Erklärungen, und das rief ein unangenehmes Befremden hervor. Jetzt saßen wir im Empfangszimmer irgendwelcher leitenden Angestellten der Staatssicherheit und ich kam zu dem Entschluß, daß entweder Galachow im Ermittlungsverfahren meinen Familiennamen nennen oder man von mir Auskünfte über Galachow verlangen würde. Ich konnte nichts Schlechtes über ihn sagen. Aber das Gute gefiel den Untersuchungsrichtern nicht, sie benötigten vielmehr eine Bestätigung dessen, daß ihre Beschlüsse gerecht waren – Glachow war ein Volksfeind, und demzufolge mußten auch alle Aussagen über ihn verleumderisch sein und ihn in Verruf bringen. Es sieht so aus, als ob mich wieder Folterungen erwarteten ... Ich hatte Illiminskij meine düsteren Vermutungen anvertraut.

- Was kann ich denn dafür? – wandte Illiminskij ein. – Sie irren sich. Wenn wir schon zusammen hier sind, dann heißt das doch, daß wir hierher geschafft worden sind, weil sie dieselben allgemeinen Fragen an uns haben. Allgemeine Fragen – das ist die gemeinsame Ausarbeitung ihrer militärischen Vorschläge.

- Mit ihrem Mund müßte man Honig trinken (Sie schmieren einem aber Honig um den Bart; Anm.d. Übers.) ...

In diesem Augenblick wurde die Tür des Kabinetts geöffnet, und ein Leutnant oder Adjutant bat uns einzutreten. Nachdem er uns in das Arbeitszimmer hineingelassen hatte, ging der Adjutant hinaus und schloß hinter sich die Tür.

Im Inneren des großen, hellen Kabinetts, am Fenster, saß hinter einem großen Tisch, der mit einer pompösen bronzefarbenen Tintengarnitur ausgestattet war, ein erhabener Militärangehöriger mit einem rhombenförmigen Abzeichen auf dem Kragenspiegel. Er lehnte sich zurück und sah uns mit strengem, forschendem Blick an. Nach einigen Augenblicken für uns sehr unangenehmen Schweigens sagte er:

- Setzen Sie sich... aber nicht dorthin, kommen Sie näher an den Tisch heran! Na, was seid Ihr denn für welche? Und dann antwortete er sich selber:

- Erfinder? Na ja, nun seid Ihr hier bei mir ... – genau so sprach er, wie ein Eigentümer, fast kaufmännisch, was auch zu unserem ersten Eindruck über die Kaufmannsvilla paßte.

- ... Also, hier bei mir wird Ihnen alles gewährt, damit Sie Ihre Erfindung aufschreiben können ... (Warum nicht beschreiben?)

- ... Ihre Erfindung. Wenn Sie vernünftig und verständlich ist, dann wird es Ihnen auch nicht schlecht ergehen. Aber paßt mir ja auf, daß Ihr nie-nie etwas Dummes anstellt oder Euch etwas zuschulden kommen laßt.

Dieses „nie-nie“ war dermaßen ausdrucksvoll, daß es weder einer Erläuterung noch einer Fortsetzung bedarf. Es war klar, daß er für den Fall, daß er uns ins Bockshorn jagte, uns zu Pulver zerreiben würde.

Erhaben drückte er auf die Klingel und gab dem Adjutanten mit dem Kopf ein Zeichen:

- Waschen, essen und dann ab ins Eckzimmer.

Wir wurden ins Bad geführt. Aber den stärksten Eindruck hinterließ bei uns nicht dieser Empfang, das rätselhafte „alles wird man Ihnen gewähren“, die Erwartung auf das Bad, sondern daß sie uns zu ESSEN GEBEN wollten.

Im Hof sahen wir etwa zwanzig Männer in Zivil, bekleidet mit Mänteln und Pelzmänteln, die im Kreis spazierengingen. Sie gaben sich frei, liefen nicht im Gänsemarsch, hatten auch nicht die Hände auf dem Rücken, sondern gingen mal einzeln, mal in Gruppen. Etwas abseits stand ein Gefängnisaufseher, der so tat, als ob er die Spaziergänger beobachtete. Als sie uns sahen, blieben fast alle stehen und fingen an, uns genau zu begutachten. Der Aufseher machte eine warnende Handbewegung, damit sie sich uns nicht weiter näherten.

Die Spaziergänger kamen auch nicht weiter an uns heran, sondern setzten sich vielmehr wieder in Bewegung, um ihren Spaziergang fortzusetzen, wobei sie uns unabläßlich betrachteten, während wir ins Badehaus geführt wurden.

Im Inneren des Hofes stand ein echtes Kaufmannsbadehaus: eingeschossig, aus Balken zusammengebaut, mit einer Diele, einem An- und Auskleideraum vor dem eigentlichen Badezimmer, an dessen Wänden Sitzbänke standen, einem geräumigen Waschraum, in dem am Steinofeni eine dreistufige Schwitzbank aufragte. Regale, Sitzbänke und Wände – alles war sauber abgewaschen, sogar abgekratzt. All unsere Sachen wurden eingesammelt und zur Desinfektion fortgebracht. Sie gaben pro Person, zusammen mit jedem Bastwisch, auch ein echtes, hartes Stück Kernseife aus, aber nicht so eines, das bei der ersten Berührung mit Wasser in glitschige Schleimbrocken auseinanderschwimmt, so wie es in den anderen Gefängnissen gewesen war. Hauptsache – wir waren allein. Allein in einem riesigen – so schien es uns beim ersten Mal – Waschraummit heißem Wasser, einem sauberen Behälter - und nicht nur einem.

Na, und wie wir badeten! Zum ersten Mal seit der Verhaftung, seit fünf Monaten, wuschen wir uns, spülten uns ab, wuschen uns noch einmal, rieben uns gegenseitig den Rücken ab, ruhten uns ein wenig aus und wuschen uns erneut. Während wir mit den Beinen im heißen Wasser saßen, tauschten wir erste Eindrücke aus: wohin waren wir geraten? Was waren das für Arrestanten, die im Hof spazierengingen? Arrestanten, weil sie im Hof im Kreise und unter der Aufsicht eines Gefängnisaufsehers, der etwas abseits von ihnen stand, spazierengingen. Aber es mußten irgendwelche freigelassenen Verhafteteten sein – sie gingen, ohne die Hände auf dem Rücken zu halten, und auch nicht nur einzeln, sondern paarweise oder sogar zu dritt, sauber gekleidet, frisch und rasiert. Was waren das für welche?

- Und wie hat euch dieser dem Gott Zeus ähnliche Leiter gefallen?

- Ein Satrap (Willkürherrscher im alten Persien; Anm .d. Übers.) und Despot. Und offenbar nicht besonders intelligent: „Nun seid Ihr hier bei mir ...“, - was ist das für eine Redewendung?

Der Aufseher warf einen Blick in den Waschraum. Sogleich fingen wir an, uns wie die Hasen zu beeilen.

- Sofort. Wir sind sofort fertig ...

- Na, wascht euch mal schön. Klettert doch auf die Schwitzbank und schlagt euch eine Zeit lang mit den Birkenruten, - sagte der Aufseher ruhig und schluß die Tür des Waschraums wieder.

Wir schauten uns an:

- Sagen Sie mal - was ist das für ein Empfang! Aber auf die Schwitzbank kletterten sie nicht: ich hatte das Schlagen mit den Birkenruten noch nie gemocht, und Illiminskij liebte es zwar, war jedoch ungeduldig zu erfahren, was dieses „zu essen geben“ bedeuten sollte – und so beschleunigten wir unsere Waschaktion.

In dem An- und Auskleideraum lag unsere Wäsche, überhaupt nicht wiederzuerkennen, sauber, allerdings ungebügelt. Ja und auch die Anzüge und Mäntel sahen anständig aus. Dieses Wunderwerk hatten sie vollbracht, während wir uns wuschen.

- Na so was! Das ist ja ein Ding ... ... – sagten wir fast gleichzeitig zueinander, wobei wir den Aufseher, der neben der Tür saß und uns keinerlei Aufmerksamkeit schenkte, von der Seite ansahen.

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