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Wladimir Pomeranzew . In zaristischen und stalinistischen Gefängnissen

Das Spezialkontingent

Und trotzdem – was war das für ein Sondergefängnis? Es unterschied sich von anderen durch die besondere Art und Weise, in der die Gefangenen dort gehalten wurden. Das Gefängnis, in das wir geraten waren, erwies sich als geheimes Konstruktionsbüro, in dem Artillerieausrüstungen entwickelt wurden. Später erfuhren wir, daß derartige Gefängnis-Büros für Sprengstoffe, das Flugwesen, die Errichtung von Bergwerken und wahrscheinlich auch viele andere festgelegte Aufgaben existierten.

Diese Sondergefängnisse befanden sich unter der Verwaltung der Sonderabteilung des Komitees für Staatssicherheit, das verschiedene Bezeichnungen angenommen hatte: GPK, NKWD, MWD und ähnliche. Diese Abteilung unterhielt auch enge Kontakte zu den Ermittlungsorganen und Gefängnissen, den Gefängnissen zur besonderen Bestimmung und den sogenannten Besserungs-Arbeitslagern. Jedenfalls besaß diese Sonderabteilung breite Möglichkeiten, ihre Sonderbüros mit den für sie erforderlichen Spezialisten, in Abhängigkeit von den Aufgaben, die ihnen von den höchsten Organen gestellt worden waren, zu ergänzen, wodurch im großen und ganzen eine hohe parteiliche, wirtschaftliche und sogar wissenschaftliche Politik im Lande geschaffen wurde. Es läßt sich vermuten, daß Berija mit seiner Machtübernahme zur Festigung seiner Macht und Einflußnahme auf Stalin solche Sonderbüros für beliebige Problemstellungen formierte, zu deren Lösung Spezialisten und Wissenschaftler der verschiedensten Richtungen herangezogen wurden. Diese „Heranziehung“ bedeutete am Anfang schlicht und ergreifend die Erfindung regulärer Schädlingstätigkeiten, Verrat, mit einem Wort – konterrevolutionäre Absichten, dann die Verhaftung, mitunter vielleicht ein Gerichtsprozeß mit der Festsetzung von Todesurteilen und das nachfolgende gnädige Abändern der Todesstrafe in zehn, fünfzehn Jahre Haft in nahen, entlegenen, weit entfernten Lagern, mit einer mehr oder weniger strengen Lagerordnung. Natürlich war der Verhaftete, der mit bitteren Tränen in den Augen zum Untersuchungsverfahren, auf Etappe, in Gefängnisse und Lager gebracht wurde, nur allzu froh, wenn er in ein Sondergefängnis kam, in dieses wahre (aber natürlich auch gemeine) Häftlingsparadies.

Hier wurde der Inhaftierte vor allen Dingen physisch und in dem bekannten Maße auch seelisch gesundgepflegt. Die medizinische Versorgung war in den Sondergefängnissen vollkommen zufriedenstellend und sogar gut organisiert. Die Häftlinge wurden in regelmäßigen Abständen genau untersucht und, falls erforderlich, alle damals zeitgemäßen Methoden der Diagnostik angewandt; es wurden Medikamente verordnet, unerläßliche Kurse für Behandlungen durchgeführt, Bein-, Arm- und Zahnprothesen hergestellt; man stellte Normen auf und erstellte Schonkostpläne. Die Häftlingsrationen in den Sondergefängnissen waren märchenhaft üppig, sogar für die vor ihrer Inhaftierung hochbezahlten Spezialisten, und wie es im Vergleich zu den Kriegszeiten aussah, muß man hier nicht erst erwähnen. Zum Ansporn und zur Unterstützung des Gehorsams unter den Häftlingen wurden differenzierende „Tische“ mit absteigender Sitzordnung und unterschiedlicher Kost eingeführt: erster, zweiter, dritter und vierter. Aber es gab auch "höchstrangige" Tische, Null-Tische und ähnliches. Die Spezialisten, denen eine solche Restaurant-Verpflegung zustand, bekamen das Recht, ein Menü nach ihren Wünschen zu bestellen. Allerdings muß man hier anmerken, daß sich an so einem gehobenen „Tisch“ durch Magenschleimhaut-Entzündungen und Magen-Geschwüre dermaßen gequälte Spezis einfanden, daß sie im wesentlichen nichts weiter als Sauermilch verlangten.

Dieses System der differenzierten Verpflegung sorgte für einen unbestreitbaren Effekt: es demoralisierte die Inhaftierten vor allem, und das war für die Schöpfer der Sondergefängnisse auch erforderlich. Wenn die Intelligenten, mögen sie auch noch solche Angsthasen sein, sich unter gleichen Haftbedingungen befinden, dann ruft ausgerechnet dieser Zustand der Gleichheit ein Gleichheitsgefühl und auch ein Gefühl von Solidarität hervor, erzieht sogar dazu und festigt es. Und dieses Gefühl gleich zu sein erzeugt sogleich einen inneren Protest gegen offensichtliche und nächstliegende Ungleichheit – die Lebensbedingungen, die Verpflegung, die Durchsetzung von Ordnungsmaßnahmen durch das Wachpersonal, angefangen beim Gefängnisaufseher und endend mit den höhergestellten Beamten aus der Moskauer Sonderabteilung. Diese innere Auflehnung erwuchs schnell aus der unsichtbaren Faust in der Tasche zu einem „ausfallenden" Benehmen, und von da war es dann auch nicht mehr weit bis zur Rebellion.

Als dann der ganze Arrestantenhaufen nach diesen widerwärtigen, aber unfehlbar vorherrschenden Magen-Symptomen aufgegliedert worden war, da verkehrte sich all die innere Gereiztheit und Unzufriedenheit ihres Sklavendaseins nicht nach innen, sondern nach außen, auf andere, ebensolche Arrestanten, an denen sie dann ihre Unzufriedenheit ausließen.

Nicht umsonst wurde eine differenzierte Kost ausgegeben: die Leitung achtete sorgfältig auf die Übereinstimmung der „Kost“ mit dem Eifer der Häftlinge. Dieser Eifer wurde nicht nur bei der Arbeit verlangt, sondern auch im allgemeinen Benehmen, in der Disziplin - sowohl dem ihnen übergeordneten Häftlingsleiter gegenüber, als auch gegenüber denen, die nicht wie ein Gott dastanden. Natürlich spielte bei der Zunahme dieser Ausschweifungen der operative Bevollmächtigte eine nicht gerade kleine Rolle, da er nämlich die politisch-moralische Verfassung der Inhaftierten mit Hilfe eines Aufklärungsnetzes von „Klopfern“ und „Beisitzern“ bespitzeln ließ. Selbstverständlich wurden diese ehrenvollen Rollen mit einer entsprechenden Kost belohnt.

Die Bedingungen bei der Gefangenhaltung des Spezialkontingents - so wurden die Häftlinge der Sondergefängnisse in den Sonderabteilungen geführt – kamen nicht aus den glanzvollen, sondern aus den bei weitem besseren beliebigen Gefängnissen allgemeiner Bestimmung. In der Regel waren die Häftlinge in großen, hellen Zellen untergebracht, auf eisernen Bettstellen mit Matratzen, die mit Schaumstoff gefüllt waren, mit Federkissen, Bettlaken und rauhen Decken. In den Zellen lebten zwischen 20 und 50 Mann; für die höherqualifizierten Inhaftierten waren kleinere Zellen für 5-10 Mann abgeteilt. Die Zellen wurden von Reinigungskräften aus den Reihen der Kriminellen saubergehalten. Langeweile kam in den Zellen schon aus dem Grunde nicht auf, weil die Arrestanten darin praktisch nur nachts schliefen. Die meiste Zeit des Tages verbrachten sie in den Arbeitsunterkünften. Sogar nach Beendigung der Arbeit um 8 oder manchmal erst um 11 Uhr abends versuchten sie bis zur endgültigen Schließung und Absperrung der Arbeitsräume noch dort zu bleiben.

Wenn auch die Verpflegungsordnung beim Sonderkontingent vom moralischen Standpunkt scheußlich war, so waren doch die Arbeitsbedingungen normal. Sogar der überaus lange Arbeitstag von 10-12 Stunden täglich wurde ohne Protest angenommen. Die Arbeit, besonders wenn sie den Fähigkeiten des Häftlings entsprach oder es sich zumindest um eine ähnliche Arbeit handelte, stellten für die Inhaftierten ein geeignetes Hilfsmittel gegen den geistigen Verfall dar. Bei den Sonderbüros gab es immer ziemlich bemerkenswerte Bibliotheken, die zum großen Teil aus konfiszierten Büchern von Verurteilten bestanden. Diese Bibliotheken wurden laufend und umfassend durch vaterländische und ausländische Gegenwartsliteratur und journalistische Schriften vervollständigt. Als wir zum zweiten Mal

ins Tomsker Sondergefängnis gerieten und zusammen mit dieser Bibliothek über Perm nach Leningrad zurückkehrten, wo größtenteils die Ordnung dieses Sonderbüros wiederhergestellt wurde, da wurde den Spezialisten unter den Gefangenen ziemlich bald jede beliebige Fachliteratur aus den fundamentalen Bibliotheken Moskaus und Leningrads zuteil, da bekamen sie regelmäßig englische und amerikanische Kriegszeitschriften, sogar faschistische, die man über irgendwelche neutralen Länder aufgetrieben hatte. Ausländische Journale gelangten mit einer höchstens halbjährigen Verspätung ins Sonderbüro. Häufig unterlagen sie noch nicht einmal der Zensur, und die Inhaftierten wurden von militärischen und politischen Fragen merklich umfassender informiert, als gewöhnliche Fachleute und Gelehrte, die sich in Freiheit befanden. In einer dieser Zeitschriften stand zum Beispiel geschrieben, daß Deutschland unter Einhaltung des internationalen Rechtes auf Kriegserklärung in die Sowjetunion eingefallen war und ein Ultimatum gestellt hatte, in dem es verlangte: die gesamte Ukraine unter die Kontrolle der Deutschen zu stellen, die Rote Armee zu demobilisieren und sich auf die technische Kontrolle seitens der Deutschen über die Schwerindustrie und das Transportwesen der gesamten Sowjetunion zu einigen. Natürlich verringerte sich dadurch, daß ein Ultimatum gestellt worden war, nicht die Hinterlist und der Verrat des faschistischen Deutschlands, aber wenn das Ultimatum rechtens war, weshalb wurde es dann vor den sowjetischen Bürgern verheimlicht?

Die Sondergefängnisse unterschieden sich von den allgemeinen Gefängnissen durch die besonderen Regelungen bei der Gefängnisaufsicht. In den gewöhnlichen Gefängnissen befanden sich die Inhaftierten ganz und gar unter der Leitung der Gefängnisaufsicht. In den Sondergefängnissen gab es eine zweifache Aufsicht: über die Arbeit der Gefangenen und über ihr Benehmen und ihre Lebensweise nach der Arbeit. Mit dem Eintreffen am Arbeitsplatz war der Häftling der Hierarchie des Sonderbüros, den Brigadieren, den Gruppenleitern, den Abteilungs- und Büroleitern unterstellt. Die Vorarbeiter und Gruppenleiter wurden in der Regel aus den Reihen der Häftlinge ernannt, als Leiter der einzelnen Abteilungen traten Offiziere der Staatssicherheit mit Ingenieursausbildung in Erscheinung. Die allgemeine Ordnung in den Arbeitsräumen beaufsichtigten Gefängnisaufseher, sie wurden zu uneingeschränkten Leitern über die Arrestanten nach Beendigung der Arbeiten in den Büros. Während die Gefangenen sich in den Büros auhielten, besaßen die Gefängnisaufseher nicht das Recht, sich in die Arbeitsabläufe einzumischen, und schon gar nicht in die eigentliche Arbeit der Gefangenen. Einmal, zu Beginn meines Aufenthaltes im Leningrader Sondergefängnis, das die Bezeichnung OKB-172 trug, nutzte ich das Verbot, um in diese Arbeit Einblick zu bekommen.

 Mein Tisch stand im Durchgang, was die Konzentration störte, aber dafür konnte man frühzeitig beobachten, wer sich meinem Tisch näherte. Wenn ein Häftling vorbeikam, dann konnte ich ohne jegliche Vorsicht an der Sache weiterarbeiten, die ich gerade vor mir liegen hatte. Diese „Sache“ war mitunter ziemlich gesetzeswidrig – ich führte nämlich Aufzeichnungen über die sowjetischen Gefängnisse. Ein vorübergehender Gefangener blickte aus festgesetzter Tradition nicht auf die Arbeit, mit der ein anderer gerade beschäftigt war, sofern er nicht selbst in untergeordneter Funktion damit zu tun hatte. Wenn sich mir der Abteilungsleiter näherte – ein Offizier, dann wußte ich, daß das Arrestantengesetz nicht für sie geschrieben war, es galt für sie einfach nicht. In jedem beliebigen Augenblick konnten sie die Art meiner Arbeit überprüfen. Und wenn sie mich dabei angetroffen hätten, wie ich gerade mein Gefängnistagebuch führte, dann wäre es mir ziemlich schlecht ergangen. Wenn der Gefängnisaufseher kam, dann brauchte ich keinerlei Befürchtungen haben, da ich wußte, daß es ihm verboten war, tiefer in das Wesen meiner Arbeit einzudringen.

Und da fand sich eines Tages ein Aufseher, der an meinem Tisch herantrat, während ich meine philosophischen Übungen über Recht und Freiheit machte, und er begann, neugierig meine zierliche Handschrift zu begutachten. Ich hatte diese Handschrift extra zu dem Zweck ausgearbeitet, um Papier zu sparen und das Tagebuch so klein wie möglich zu halten. Ich schrieb in diesem Gefängnistagebuch meine Gedanken nieder, die, wenngleich sie sich auf das Sondergefängnis bezogen, trotzdem nur die negativen Standpunkte wiedergaben. Das Tagebuch in Anwesenheit des Aufsehers gegen meine ballistischen Rechen-Notizen auszutauschen, wäre einer Schuldanerkennung meinerseits gleichgekommen. Ich verfuhr anders: ich stand auf und bat den Aufseher, von meinem Tisch zurückzutreten, da es der Gefängnisaufsicht verboten war, näheren Einblick in den Inhalt der Arbeiten in einem Sondergefängnis zu nehmen. Der Aufseher wollte etwas erwidern, aber ich hob meine Stimme und wies ihn nochmals darauf hin, daß sein Verhalten ungesetzlich war. Die Häftlinge neben mir schlugen sich sogleich auf meine Seite und fingen an mich zu verteidigen. Jetzt begriff der Aufseher endlich und trat eiligst den Rückzug an. Der Tage lang wartete ich darauf, daß mich der operative Bevollmächtigte zu sich rufen würde, ab der Aufseher hatte es offenbar für vernünftiger befunden, diese Geschichte auf sich beruhen zu lassen und nichts zu unternehmen.

Auf Grundlage der Abgrenzungen der Aufsichtsrechte an den Gefangenen herrschten zwischen den Gefängnisaufsehern und der Leitung der Sonderbüros stets Meinungsverschiedenheiten. Die Gefängnisbehörden versuchten die Leitung der Sonderbüros an sich zu reißen, und wenn der Vorsitzende der Moskauer Sonderabteilung für Staatssicherheit abwesend war, wurde diese Machtergreifung in die Tat umgesetzt und unverhüllt zur Schau getragen. So war die Situation zu jener Zeit, als Illiminskij und ich zum ersten Mal ins Tomsker Sonder-Gefängnis kamen.

Das Büro, in das wir gerieten, war zu Beginn des Krieges aus Leningrad zunächst nach Kasan und später nach Tomsk evakuiert worden. Vor dem Krieg hatte es über einen sehr großen Personalbestand verfügt, aber dann wurde vor der Evakuierung eine umfangreiche Säuberung durchgeführt, so daß nur noch hochqualifizierte Spezialisten und ein Minimum an Hilfskräften übrigblieben; alle anderen wurden in verschiedene Lager geschickt. Aufgrund der überstürzten Evakuierung und des denkbar schlecht organisierten Umzugs, gingen viele Geräte nach und nach verloren, und in Tomsk konnte das Büro erst Ende November, etwa zehn Tage vor unserer Ankunft, die Arbeit aufnehmen. Alle früheren Aufgaben wurden ausgesetzt, und die Sonder-Leiter, die sich aus den Reihen der Häftlinge zusammensetzten, begannen in Form von persönlichen Initiativen sogenannte Vor-Projekte oder skizzenhafte Projekte zu erarbeiten.

Illiminskij und ich erhielten die notwendigen Zeichengeräte, irgendwelche Hand- und Nachschlagebücher und richteten uns dann in jenem Raum ein, in dem wir auch wohnten - so hatte es die Gefängnisleitung angeordnet, wobei sie unseren militärischen Ideen offenbar besondere Geheimhaltung beimaß. Aber bevor wir uns an die Arbeit machen konnten, wurden wir sorgfältig von einem Militärarzt untersucht, der uns ein höhere Verpflegung verordnete. Von dieser Kost hatten wir bereits am zweiten Tag unsere Mägen dermaßen verstimmt, daß wir Bettruhe erhielten. Diese medizinisch verordnete Durchfallerkrankung wurde unterbrochen, aber wir aßen noch lange mit Vorsicht nur die halbe Ration, die man uns täglich an einem speziell zugewiesenen Tisch in der Arrestanten-Kantine vorsetzte.

Aufgrund der im Sonderbüro festgesetzten Ordnung bezüglich der Befolgung der Geheimhaltung interessierte sich unsere Mitarbeiter für keinen der Häftlinge, genauso wie auch wir keinerlei Neugier für die Zeichnungen an den Reißbrettern, auf denen irgendwelche Maschinen zu sehen waren, zeigten. Aber wenn jemand zu uns kam und einen notwendigen Rat von uns erbat, dann gaben wir ihm diesen gern. Zwei Menschen waren vollständig über unsere Vorschläge/Pläne informiert: Professor Bursian, der die gesamten Berechnungsarbeiten im Büro unter seiner Leitung hatte, und General (ein ehemaliger natürlich) Berkalow, der die Ausarbeitungen zu den Vor-Projekten leitete.

Bursian, einer der Begründer der russischen Geophysik, schmachtete viele Jahre im Gefängnis, und dort starb er auch nach dem Ende des Krieges. Im Sonderbüro wurde Bursian Spezialist für alle Berechnungsarten, von der Ballistik bis hin zu mechanischen Fragen, die für die Projektierung von Artilleriewaffen ununumgänglich waren. Hochgewachsen, hager, ein leicht gebeugter alter Mann mit einem länglichen, faltigen Gesicht, herabhängenden Wangen, hoher Stirn, kurzsichtigen, umherschweifenden, kleinen Augen, spärlichem, grauem Haarwuchs, schwerhörig, mit kleinen Schritten gehend, stets nach vorn strebend. Während der Unterhaltung sah er seinen Gesprächspartner nicht an, sondern lenkte seinen Blick irgendwo in die Ferne, hörte zu, indem er sich ein Hörrohr ans Ohr hielt und die Lippen spitze. Mit außerordentlich deutscher Gründlichkeit in allen Dingen, höflich und ängstlich, verhielt sich Bursian uns gegenüber freundlich, aber ohne Wohlwollen. Er hörte sich unsere Fragen an, beantwortete sie sogleich pflichtbewußt, zeigte jedoch keinerlei Bereitschaft, uns bei der Ausarbeitung der Pläne im wesentlichen zu helfen.

Berkalow war ein nicht sehr großer alter Mann, von schmächtiger, aber nicht hagerer Statur, und besaß eine ausgezeichnete militärische Haltung. „Der jüngste General der Zaren-Armee“ – so begannen sie ihn gewöhnlich als neuen „Sokabeschnik“ (Mitarb. des OKB; Anm. d. Übers.) zu empfehlen. Berkalow war ein großer Spezialist und Erfinder auf dem Gebiet der Ferngeschütze. Bei Unterhaltungen betrachte er ohne weitere Umstände ganz genau seinen Gesprächspartner, wobei er stets ein wenig lächelte. Es schien, als ob er sagte:

-Schon gut, schon gut, wir kennen diese ganzen Geschichten, aber erzähl mal etwas von dir, was du für ein Mensch bist. Was? Hast du dich schon den anderen angepaßt? Oder noch nicht?

Wenn Illiminskij und ich zu ihm kamen, um seinen Rat einzuholen, dann bot er uns vor allen Dingen herrliche Papirossi an und erkundigte sich dann über unsere Spezialberufe, die wir vor der Gefängniszeit ausgeübt hatten, und erst nach dem dritten Anlauf konnten wir dann endlich unsere Pläne und Vorschläge darlegen, woraufhin er wohlwollend und ein wenig lachend sagte:

- Na, dann zeigt mal her - was wollt ihr denn da vorschlagen? Einen Entfernungsmesser? Sehr gut. Selbst wenn er nichts messen wird, dann wird das trotzdem alles sehr gut sein. Das Wesentliche ist doch nicht die Sache an sich, sondern die Idee, die dahintersteckt, das Bestreben, das lebende Feuer in der Seele, und alles weitere wird sich finden, so soll Tolstoj gesagt haben. Nein? Na egal, ich sag aber so!

Nach einem Monat hatten wir die Skizzen zu dem Projekt fertig. Wir sprachen mit Bursian und Berkalow über das Projekt. Ersterer schrieb eine undefinierbar positive Rezension, letzterer legte seine Meinung darüber dar, daß es äußerst wünschenswert wäre, wenn die Weiterentwicklung an den Ideen ihrer Urheber fortgesetzt würden.

Auf unsere Fragen an die autoritären OKB-Mitarbeiter – wir hatten es nicht gewagt, uns an die Gefängnisleitung zu wenden -, was mit unseren Plänen und mit uns geschehen würde, erhielten wir ziemlich übereinstimmende Antworten: die Pläne wollten sie an die „höheren“ Instanzen zur Begutachtung schicken, aber unser Schicksal lag in der Macht des obersten Allmächtigen: vielleicht würden sie uns im Büro zurückbehalten, vielleicht aber auch „schnell aufs Abstellgleis stellen“, d.h. uns abschreiben. Es blieb nur abzuwarten, wie das Schicksal entscheiden würde. Aber bis dahin empfahl man uns, unsere Kräfte bei den verschiedensten Konstruktionsarbeiten zu erproben. Illiminskij – ein hervorragender Konstrukteur und Zeichner – war von den Projektleitern sehr geschätzt und begann, bei der Ausarbeitung für ein Vor-Projekt behilflich zu sein. Mit mir war es schon schwieriger. Ich bin kein Konstrukteur und konnte demzufolge als Konstrukteur auch nicht von Nutzen sein. Dafür besaß ich jedoch irgendwelche rechnerischen Fähigkeiten, und so fand ich einen Platz in der Berechnungsabteilung von Bursian. Man erklärte uns ganz offen, und das verstanden wir eigentlich auch von selbst, daß unsere Arbeiten in diesem Büro nur vorübergehenden Charakter besaßen, denn alles hing von der obersten Leitung in Moskau ab: zu den Mitarbeitern des Sonderbüros gezählt zu werden – das war nicht so einfach.

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