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Wladimir Pomeranzew . In zaristischen und stalinistischen Gefängnissen

Wir – die Sensation

Jetzt wurden wir ins Hauptgebäude geführt – in eben jene Kaufmannsvilla, wie ich sie beim ersten Anblick von der Straße aus getauft hatte. Ja, bis zur Revolution war es tatsächlich eine Kaufmannsvilla gewesen, mit riesigen Zimmern, die jetzt teilweise in Häftlingsräume unterteilt waren. Über die breite Treppe des Vestibüls brachten sie uns in die zweite Etage und ließen uns in das „Eckzimmer“ hinein, wie es der Gefängnisleiter angeordnet hatte. Ohne das typische Gefängnisklirren wurde die Tür hinter uns mit einem Schlüssel abgeschlossen.

In dem großen, geräumigen Raum von etwa dreißig Quadratmetern waren vier Mann untergebracht.

- Wir werden uns miteinander bekanntmachen, - mit diesen Worten trat ein kleiner, untersetzter Mann, der sich schüchtern an der Tür herumdrückte, auf uns zu.

- Ikonnikow, und das sind, wie ich, die Konstrukteure Mamkin und Borisow, und das dort – Professor Bursian.

Ein Gedanke schoß mir durch den Kopf: „Bursian? Der verschwundene Bursian?“ Ja, er war es – der Begründer der russischen Geophysik.

- Woher kommen Sie? Wann sind Sie verhaftet worden? Welcher Paragraph? Wie hoch ist Ihre Haftstrafe?

Und als sie erfuhren, daß wir aus Leningrad stammten, daß wir erst zu Beginn des Krieges verhaftet worden und noch im Juli frei in Leningrad herumgelaufen waren, da überschütteten sie uns sogleich mit tausenden von Fragen. Und als sie hörten, daß wir Raucher waren und bereits seit einer Woche nicht mehr geraucht hatten, da fingen sie an, uns mit „Kasbek“-Papirossis, Zigaretten, Machorka, Streichhölzern und Zigarettenpapier zu überhäufen ...

- Erzählt nur, erzählt doch bitte ...

- Was denn?

- Alles, wir haben doch die Freiheit schon lange nicht mehr gesehen – da, er hat vier Jahre, ich – fünf Jahre, Mamkin (so nannte Ikonnikow Mamin ungeniert und auf familiäre Weise) – drei Jahre, Bursian – sechs Jahre ... Nein, denkt doch nur mal nach! Sie waren vor sechs Monaten in Freiheit, nicht sechs Jahre, sechs Monate! – riefen unsere neuen Bekannten aus. – Wir sind hier 79 Männer, und alle aus Leningrad, und sie alle haben schon viele Jahre die Freiheit nicht mehr gesehen, und ihr seid die ersten, die vor kurzem noch dort waren. Nun erzählt schon!

Als man uns zum Abendessen brachte, da wußte bereits das gesamte Sondergefängnis von unserer Ankunft. Wir wurden zur Sensation. Nach dem Essen wurden die Häftlinge nicht sofort in ihrer Zimmer gesperrt. Wir konnten in den Korridoren herumbummeln, den Unterkünften der Angestellten einen Besuch abstatten, und wo wir auch auftauchten, wurden wir sogleich gepackt und buchstäblich in irgendeine Ecke gezogen, oder wir mußten uns bequem an den Tisch setzen, damit alle uns sehen konnten – und dann fragten sie uns ohne Ende aus ...

Was konnten wir erzählen? Unsere Eindrücke und Mutmaßungen? Nein. Aus einem Gefühl von Selbstschutz heraus – wer waren sie, diese neuen Bekannten? – bemühten wir uns bei bewährten Fakten zu bleiben: die Lage an der Front am Tage unsere Verhaftung, die Verteidigungsmaßnahmen in der Umgebung von Leningrad, das Kartensystem für Lebensmittel, die deutschen Überfälle, bislang ohne Bombardierung. Aus den Unterhaltungen wurde klar, daß die Häftlinge des Sondergefängnisses täglich im Kollektiv laut die „Prawda“

vorlasen und daher über allgemeine Angelegenheiten im Land und an der Front viel besser unterrichtet waren als wir. Natürlich interessierte sie die Zahl der Verhafteten, wenigstens gemessen anhand der Belegung der Gefängniszellen, der Paragraphen, die den Inhaftierten zur Last gelegt wurden, der Methoden, die während des Ermittlungsverfahrens Anwendung fanden und der Gefängnisverpflegung. Auf diese Fragen antworteten wir mit größter Vorsicht, zeichneten die Lage aber auch nicht in rosarotem Licht. Unsere neuen Bekannten wußten sehr gut, daß jeder erfahrene Häftling in Anwesenheit vieler Leute nicht sehr viel sagen wird. Daher fingen sie an, uns einander gegenüberzustellen (immer zu zweit) und dann auszufragen. Bei solchen Unterredungen konnte man verhältnismäßig leicht aufrichtige Fragen ohne Hintergedanken von provokativ gemeinten unterscheiden. Auf ehrliche Fragen antworteten wir mit ebensolcher Ehrlichkeit. Aber es gab Fälle von Gesprächen mit dem Ziel eine gewisse Kontrolle zu bezwecken. Besonders häufig bemühten sich ortsansässige Denunzianten – „Klopfer“, wie sie von den Inhaftierten genannt wurden, mit Illiminskij ins Gespräch zu kommen. Vom Aussehen her machte er einen treuherzigeren Eindruck als ich. Aber nach den Erzählungen Illiminskijs zu urteilen, gelang es diesen „Klopfern“ nicht, irgendetwas auf unredliche Weise aus ihm herauszuholen.

Das allgemeine Verhalten uns, den „Okabeschniks“ (OKB-Mitarbeiter, wie sich die Inhaftierten der Sondergefängnisses selbst nannten) gegenüber war äußerst wohlwollend. Man bedauerte uns, versorgte uns mit Essen, Tabak und Zigaretten, reinigte unsere Oberbekleidung, fand gutherzige Schneider, die unsere Mäntel und Anzüge flickten, schnitt uns die Haare und rasierte uns, und mir ließen sie sogar meinen Bart – à la Russe. Aber trotzdem, warum „Okabeschniks“? Offiziell war das Sondergefängnis gar kein Gefängnis, sondern ein Sonder-Konstruktions-Büro (OKB) – daher auch der Begriff „Okabeschnik“.

Am zweiten oder dritten Tag wurden wir erneut zum Gefängnisleiter gerufen, und wieder war das Gespräch nur sehr kurz und bedeutsam:

- Ihr hier bei mir – macht mir hier bloß keine Dummheiten, keine Sch ..., verstanden? Sonst schicke ich euch zu den echten Sch...-Eimern (gemeint sind die Latrinenkübel im gewöhnlichen Gefängnis; Anm. d. Übers.) zurück. Und nun geht.

Das hieß also, daß trotzdem irgendjemand „angeklopft“, uns denunziert hatte. Aber die Verleumdung war offenbar so harmlos, daß der Leiter sich auf das Widerholen von Drohungen und Ermahnungen beschränkte. Wir wußten schon recht gut, was dieses Wort Sch...-Eimer sowohl im wahren wie auch im übertragenen Sinne bedeutete. Aber wir gaben ihm keinen Anlaß, uns zu einem echten Latrineneimer zurückzuschicken. Und unsere ewigen Zuhörer begriffen auch selbst, wie sehr die Häftlinge Vorsicht walten lassen mußten. Sie alle hatten die schrecklichen Feuer und Wasser der Jeschowschen Folterkammern durchlaufen und schätzten das hiesige „Häftlingsparadies“ sehr.

Ja, dies war besonders auch für uns ein goldener Käfig, ein Häftlingsparadies, und ein Wunder, daß wir von diesem blutigen Lastkahn Nr. 64 und aus dem versiegelte Zug von Swanka nach Mariinsk herausgekommen waren und überlebt hatten.

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