Bevor ich mit der Beschreibung der Ereignisse meiner persönlichen Tragödie beginne, muß ich zuerst einige Umstände kenntlich machen, ohne die man nicht verstehen würde, was eigentlich geschehen.
Mein Vater und seine Nichte Anna Suworowa erzählten, daß unser Großvater väterlicherseits der Sohn einer Zigeunerin und eines verbannten Polithäftlings, der in M. Teleka lebte, gewesen sein soll. Als die Zigeuner durch das Dorf Kortus kamen, gaben sie den Jungen bei dem Dorfbewohner zur Erziehung ab – bei Fedorenko, von dem er auch den Vatersnamen erhielt, obwohl sein Vater den Namen Finogen (oder Afinogen) trug. Offensichtlich wegen seiner schwarzen Haare nannte man ihn mit Spitznamen Woronko (Rabe - Anm. d. Übers.), und später auch mit Familiennamen Woronow. Der wahre Nachname des Urgroßvaters war Worobjew. Mein Vater hatte sogar eine Geburtsurkunde verwahrt, in der er als Grigorij Nikolajewitsch Woronow bezeichnet wird. Wann der Vater anfing, den echten Familiennamen zu tragen, ist schwer zu sagen. Eingetragen waren dem Alter nach (die noch am Leben geblieben waren) die Söhne Sewastjan und Jemeljan, Tochter Lipistinja, und dann die jüngsten Söhne: mein Vater Grigorij und Filipp. Ich bin im Besitz eines Familienstamm-baums, der nach diesen Erzählungen erstellt wurde.
Es existiert ebenfalls noch eine „Kurz-Biographie“, die der Vater selbst handschriftlich am 5. August 1933 verfaßt hat. Darin schreibt er wie folgt:
„Ich wurde am 11. Oktober 1885 in der Ortschaft Kortus als Sohn armer Bauern geboren.
Lesen und Schreiben brachte er sich selber bei, bis zu seinem 20.Lebensjahr arbeitete er in der Landwirtschaft. 1908 wurde er zum Militärdienst beim Minenleger-Bataillon in die Stadt Wladiwostok eingezogen, wo er bis 1911 blieb und dann nach Hause entlassen wurde. 1912 fing ich an als Maler zu arbeiten, bei Filialen in Krasnojarsk, bei Uschakow und in der Stadt Kansk im Militärlager, als Mitarbeiter für Anstreicher- und Kunstmaler-Arbeiten. Dort nahm ich am Maleraufstand teil. 1914 wurde ich kriegsmobilisiert und kam in die Stadt Irkutsk zum Militär-Telegraphen-Bataillon, wo ich innerhalb von vier Monaten die Telegraphen-Schule beendete und als Wirtschaftsleiter mit der Einheit auf Position geschickt wurde (mit den Worten des Vaters, unter dem Kommando von General Brusilow). 1917, während des Zaren-sturzes ergriff unsere Einheit Maßnahmen zur Organisation von Zusammenkünften, an denen ich auch teilnahm, und Demonstrationen. Nach der Demobilisierung im Jahre 1917 wurde ich wegen Krankheit nach Hause entlassen. 1918 wurde ich wegen der Fälschung von 40-Rubel-Scheinen verhaftet und ins Minussinsker Gefängnis gebracht; dort saß ich ohne Ermittlungs- und Gerichtsverfahren bis zur Ankunft der regulären roten Truppen.
Als die Schetinkin-Truppen im Vormarsch waren, wurden wir nach Krasnojarsk ins Gouvernementsgefängnis evakuiert. Auf dem Weg vom Dampfer ins Gefängnis erhielt ich von einem Kosaken einen Schlag mit dem Gewehrkolben auf den Rücken. Und beim Einmarsch der roten Einheiten wurde die Stadt Krasnojarsk innerhalb einer Woche eingenommen; ich wurde aus dem Gefängnis entlassen und trat als Freiwilliger in die Rote Armee ein. Während des Aufstandes zweier polnischer Militärtransporte nahm ich am Kampf gegen die Polen teil; wir verhinderten die Freilassung der Offiziere aus dem Gefängnis. Außerdem nahm ich an der Entwaffnung der Koltschak-Truppen in Krasnojarsk teil. Bei der Roten Armee leistete ich in der Apotheke der 30. Division meinen Dienst, wo ich ein Gesuch für meine Aufnahme in die All-Russische Kommunistische Partei (Bolschewiken) stellte und als politischer Leiter arbeitete. Nach sechs Monaten wurde ich als tatsächliches Parteimitglied übernommen und erhielt ein Parteibuch. Beim Vormarsch Wrangels wurde unser Truppenteil auf die Krim geschickt, und als unser Kriegskommissar krank wurde, behielten sie mich als sein Stellvertreter zurück. Aber bald darauf erkrankte ich am Krimfieber und and Rückfall-Typhus und wurde nach Hause entlassen. In dieser Zeit, im Jahre 1921, lief eine umfassende Neuregistrierung der Parteimitglieder; ich war krank, konnte nicht sofort mein Parteibuch vorlegen und schied deshalb automatisch aus der Partei aus. Danach stellte ich erneut einen Antrag – bis heute bin ich nicht wieder aufgenommen worden. Von 1921 bis 1930 arbeitete ich als Rechnungsführer in der Kortusker Konsumgenossenschaft. Für drei Jahre wurde ich zum Vorstandsmitglied und Vorsitzenden der Genossenschaft gewählt. Außerdem nahm ich während der ganzen Zeit an Kulturarbeit, an Vorbereitungen zu Theateraufführungen und Vorlesungen teil. Bei der Verschmelzung der Konsumgenossenschaften zum Kreis-Konsumgenossenschaftsverband wurde ich als Buchhalter in Abakan eingestellt, und bei der Organisierung der Abakansker Arbeiter-Kooperative ernnannte man mich zum dortigen Buchhalter. 1931 wurde ich aus der Arbeiter-Kooperative in Abakan abberufen, um Buchhalterkurse zu absolvieren. Dort verbrachte ich vier Monate; nach Beendigung der Kurse begann ich in der Abakansker Arbeiter-Kooperative als Buchhalter für Gaststättenbetriebe zu arbeiten, und bei der Aufteilung der Sajansker Sowchose stieg ich zum Hauptbuchhalter auf. In den Oktobertagen des Jahres 1932 wurde ich ausgezeichnet und erhielt ein Bestarbeiterbuch, das ich auch jetzt noch besitze. Den Jahreshauptabschluß in der Sajansker Arbeiter-Kooperative beendete ich im Februar und wurde dann auf mein eigenes Bitten hin entlassen, um meine Gesundheit wiederherzustellen. Am 20. März 1933 trat ich der Maganyksker Sowchose bei, wo ich bis heute im Bereich der Gaststättenbetriebe tätig bin. In dem Zeitraum von 12 Jahren erhielt ich nicht ein einziges Mal einen Tadel und habe auch kein einziges Mal unentschuldigt gefehlt.
Es existiert noch mein Arbeitsbuch, ausgestellt am 13. Januar 1939:
„Die allgemeine Vertragsarbeitszeit bis zum Eintritt in die Kortusker Dorf-Konsumgenossenschaft beläuft sich auf drei Jahre.
Kortusker Dorf-Konsumgenossenschaft,
01.05.1921 eingestellt als Rechnungsführer;
01.09.1930 als Buchhalter versetzt zur Krasnoturansker Kreis-Konsumgenossenschaft;
01.11.1930 als Buchhalter versetzt zur Abakansker Arbeiter-Kooperative;
01.03.1932 als Buchhalter versetzt zur Sajansker Arbeiter-Kooperative;
20.03.1933 als Buchhalter versetzt zur Maganyksker Arbeiter-Kooperative;
20.11.1933 als Buchhalter versetzt zur Kortusker Dorf-Konsumgenossenschaft;
17.03.1944 auf Antrag aus dem Arbeitsverhältnis entlassen als versetzt zur Arbeit im Kinderheim der Ortschaft Kortus;
24.04.1944 eingestellt als Buchhalter im Kortusker Kinderheim;
30.07.1944 auf eigenen Antrag auf den Posten eines Arbeitsausbilders versetzt;
22.08.1945 auf eigenen Antrag vom Posten des Arbeitsausbilders entlassen“.
Das sind die wesentlichen Abschnitte im Leben nicht nur meines Vaters, sondern der gesamten Familie.
Die Vorfahren der Mutter stammten aus dem Rjasaner Gouvernement. Irgendwann zu Beginn des 20. Jahrhunderts siedelten sie nach Kortus um. Der Großvater, Jefim Michajlowitsch Smirnow, kunsthandwerklich begabt – war Tischler und Zimmermann. In seiner Familie gab es vier Töchter und einen Sohn: Tante Dunja, Tante Marusja, meine Mutter Domna, Tante Sonja und Onkel Wasja. Anfangs arbeiteten sie als Mägde und Knechte, und im Sommer schafften sie sich eine eigene kleine Wirtschaft an. Der Großvater besaß eine kleine Schmiede, eine Tischlerwerkstatt, eine Erntemaschine und ein paar Pferde. Die Kate war nicht sehr geräumig – sie hatte fünf Wände. Später wunderte ich mich darüber, wie dort eine Familie mir sieben Personen untergekommen war. Sie lebten, wie man so zu sagen pflegt, ordentlich, aber nicht in wohlhabenden Verhältnissen. Großvater verfügte über eine gute Stimme und sang im Kirchenchor. Offenbar war diese Verbindung zu Geistlichen der Grund dafür, daß irgendwann im Jahre 1933 der Großvater entkulakisiert wurde und sein ganzer Besitz unter den Hammer kam. Einen Teil der Sachen schnappte der Vater während der Versteigerung den anderen vor der Nase weg. Dann schrieben sie eine Anklageschrift und beschuldigten den Großvater, daß er ein mittelständischer Bauer war, aber er hatte schon kein Haus und keinen Hof mehr. Nach diesen ganzen Ereignissen wohnte er bei uns, bis er 1935 starb.
Meine Großmutter Anna erzählte über den Bruder des Großvaters –Maxim, der noch bei L.N. Tolstoi in dessen Schule gelernt hatte, daß dieser später einen Bauernaufstand organisiert hatte und wegen revolutionäre Aktivitäten erschossen worden war.
1937 streifte die „Jeschow-Ära“ auch meine Verwandten. Damals wurde Vaters jüngster Bruder Filipp deswegen verhaftet, weil er bis zum Zeitpunkt der Mobilmachung in einem Troß der Koltschak-Anhänger gewesen war; man verurteilte ihn zu 10 Jahren, die er vollständig absaß, 1947 in die Heimat zurückkehrte und von dort wieder nach Jenissejsk verbannt wurde, wo er bald darauf starb.
In dieser Zeit wurde der Ehemann der jüngsten Tante Sonja verhaftet, Arbeiter bei der KWSchD (Ostchinesische Eisenbahnlinie; Anm. d. Übers.), und danach hörten wir nie wieder etwas von ihm. Damals wurden fast alle Verwaltungen der Maganyksker Sowchose an andere Orte verlegt, und mit ihnen auch vielen Dorfbewohner.
Meine Mutter beendete insgesamt drei Schulklassen, sie mußte dem Großvater in der Wirtschaft helfen. Nach ihrer Heirat arbeitete sie nirgends mehr, sie besaß eine sehr schwächliche Gesundheit. Ich kann mich noch daran erinnern, daß ich fast meine ganze Kindheit hindurch ständig ihretwegen zum Dorf-Feldscher ging, um irgendeine Medizin zu holen oder um ihn selbst zur Mutter nach Hause zu rufen. Bis 1944 lebten wir nicht schlecht, dank meiner Oma Anna, die bei uns wohnte und uns zwang, eine größere Wirtschaft zu unterhalten. Wir hatten eine Kuh, Schafe, Hühner, Gänse, Kaninchen, Schweine. Mein Bruder Jewgenij und ich mußten immer alle Hausarbeiten erledigen. Wenn Mutter oder Großmutter krank waren, mußten wir sogar kochen und den Fußboden aufwischen. Ich wußte nur nicht, wie man Brot backt. Meine Mutter konnte gut singen und wirkte, wenn sie gesund war, häufig zusammen mit dem Vater in Laienspielgruppen mit. Sie brachte uns auch das Spielen auf Volksinstrumenten bei.
Noch während jener Zeit, in der er anfing als Buchhalter in der Kortusker Dorf-Konsum-genossenschaft zu arbeiten, absolvierte er ein Fernstudium und lernte an der (wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich läßt) Moskauer „Schule für Volkstalente“. Sie schickten ihm Hausaufgaben, an denen auch ich immer Gefallen fand und zusammen mit ihm das malte und zeichnete, was man ihm aufgegeben hatte. Er fertigte hauptsächlich Bleistiftzeichnungen und Aquarelle an. Wie man mit Ölfarben umgeht, studierte er nicht. Bis zum Jahr 1938 unterrichtete der Vater auch, parallel zu seiner Arbeit als Buchhalter, Zeichnen in der Schule, organisierte Ausstellungen, und häufig nahmen meine Zeichnungen dabei einen der besten Plätze ein. Zu dieser Zeit schrieb mein Vater den Roman „Wichrewaja truba“ ("Das wirbelnde Rohr"; Anm. d. Übers.) über das Leben in der Zukunft, schrieb Erinnerungen an die Gefängnisse in Krasnojarsk und Minusinsk, einige Theaterstücke und (nach den Erinnerungen der Dorfbewohner) „Die Geschichte des Dorfes Kortus“. Alle diese Sachen wurden nach meiner Verhaftung im Jahre 1949 bei der Haussuchung beschlagnahmt und verschwanden spurlos in den Archiven des MGB (Ministerium für Staatssicherheit – Anm. d. Übers.). Der Vater zeichnete viel: Bilder, Studien, Wandbehänge und malte die Kirche zu einem Klub um. Jedes Jahr im Frühling, zum Puschkin-Jubiläum, wurden mit einigen Amateuren aus dem Dorf das Stück „Rusalka“ von Puschkin aufgeführt, in dem der Vater die dramatische Rolle des Müllers spielte. Ganz in Weiß gekleidet und in Ketten gelegt, deklamierte er den „Wahnsinnigen“ Apuchtin. Später organisierte er einen Alten-Chor, in dem der älteste Sänger 82 Jahre alt war. Sie nahmen stets an den Kreis-Olympiaden teil und nahmen fast immer die ersten Plätze ein, erhielten Ehrenurkunden, von denen ich zwei bei mir aufbewahrt habe.
Unsere ganze Familie spielte Volksinstrumente, wir traten oft im Klub auf: der Vater - Geige, Mutter - Gitarre, Schwester Lida - Gitarre, ich - Balalajka und Bruder Schenja - Mandoline.
Manchmal, an Sommerabenden öften wir die Fenster im Haus und spielten mit unserem Orchester Walzer, Romanzen, Märsche, Lied-Melodien, und um unser Haus versammelte sich eine Menge Zuhörer.
Nun, unter solchen BEDINGUNGEN verlief auch meine Kindheit. 1935 kam ich in die Schule. Bei uns gab es eine Sieben-Klassen-Schule, eine unvollständige Mittelschule. Strenge Einschränkungen aufgrund des Alters gab es damals nicht, und in meiner Klasse lernten Kinder, die schon drei, vier, fünf Jahre älter waren als ich. Zumal damals viele von ihnen Sitzenbleiber waren. In der Schule waren meine Zensuren vorwiegend „gut“ und „sehr gut“. Da ich nicht schlecht zeichnete, war ich stets Mitglied des Redaktionskollegiums der Wand-zeitung und für deren künstlerische Gestaltung zuständig. In der sechsten und siebten Klasse war ich Vorsitzender des Schülerkomitees.
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