Anfangs wußte ich nicht einmal, wohin sie mich brachten, ich dachte – einfach in ein anderes Lager. Aber dann, als ich mich in einer Gefängniszelle wiederfand, begriff ich, daß ich mich geirrt hatte. Wie sich dann herausstellte, hatten sie insgesamt sieben von uns verhaftet, darunter auch meinen Freund Wlaschtschik. Er hatte erfolglos versucht einen Ukrainer anzuwerben, aber der hatte ihn verraten. Bis zur Gegenüberstellung mit Schuwalow hatten wir nichts zugegeben, aber er gab uns zu verstehen, daß eine neue Haftstrafe in unserem Interesse läge, und so gestanden wir dann, daß wir Vorbereitungen zu unserer Flucht getroffen hatten. Damals entsprach das dem §58, Absatz 14 – Sabotage, und uns drohte lediglich eine zusätzliche Haftstrafe, genauer gesagt, der Haftbeginn zählte ab dem Tag des neuen Gerichtsurteils. Die Sache nahm jedoch eine andere Wendung. Schuwalow, wohl um der „Organisation“ Gewicht zu verleihen, fing an zu erzählen, daß er Mitglied einer gewissen RKDPR (Demokratische Arbeiter- und Bauernpartei Rußlands) wäre, begann ein „Programm“ dieser Partei zu entwickeln, und so wurden wir dann letztendlich ihrer Mitgliedschaft beschuldigt und nach § 58-1a, Iib „des Vaterlandsverrates“ angeklagt. Das Ermittlungsverfahren war irgendwann nach drei Monaten abgeschlossen, aber dann mußten wir noch neun Monate, bis zum 15. Juli 1952, auf unsere Urteile warten, nachdem wir fast ein Jahr in Untersuchungshaft gesessen hatten. In diesen Monaten wechselten meine Zellengenossen häufig, es gab dabei viele interessante Begegnungen und Gespräche.
Als ich in die Zelle kam, saßen dort schon vier: der Jude Bergman, der Hauptgeologe beim Ministerium „Wostokugol“ („Ost-Kohle“ – Anm. d. Übers.) Parischer (genauer gesagt, nicht beim Ministerium, sondern bei irgendeinem Komitee oder einer Abteilung), ebenfalls Jude, der Ukrainer Boris Resnik und der Russe Suchorukow, eine äußerst anrüchige Persönlichkeit.
In der Zelle war er unbeliebt und wurde zu den „Klopfern“ (Agenten des MGB) gezählt. Ob das gerecht war oder nicht ist schwer zu sagen, aber man hielt ihn für so einen aufgrund seiner besonders betonten, bis an Schwachsinn grenzenden, kommunistischen Ansichten.
Bergman hatte irgendwann vor 1939, vor der Angliederung des westlichen Belorußland an die Ukraine, in Polen gelebt. Er hatte eine Konditorei besessen und in mittlerem Wohlstand gelebt. Nach der Eingliederung geriet er nach Lwow, befaßte sich mit illegalen Geschäften, Spekulationen, wurde jedoch bei einer Razzia erwischt und von Lwow nach Jalutorowsk, in den Ural, verschleppt. Dort arbeitete er als Beschaffer; wegen Aufbewahrung einer Bibel und wahrscheinlich aufgrund irgendwelcher Gespräche wurde er nach §50, Absatz 10, verhaftet.
Parischer bezeichnete sich als Ukrainer und erzählte, daß sein Familienname Parischerko sei und daß er ein krankes Herz habe, und deswegen bat er uns am Fenster zu rauchen. Mit dem Rauchtabak war es sehr schwierig, aber wenigstens gelang es mitunter Machorka von einem etwas gutmütigeren Aufseher zu erbetteln. Parischer ging manchmal zum Arzt und brachte von ihm vier Zigaretten mit. Einmal, als er zum Arzt gegangen war, griff Boris Resnik in seinen Rucksack und entdeckte bei ihm 40 Schachteln Zigaretten. Die Verheimlichung derartiger Sachen galt in der Zellen-Ethik als Verbrechen; Boris nahm diese Schachteln heraus und verwendete sie zu seinem eigenen Nutzen. Als Parischer wieder zurückkam, blieb ihm nichts anderes übrig als schweigend mit anzusehen, wie Boris seine Zigaretten rauchte. Boris Resnik war ein ukrainischer Nationalist. Bereits in seiner Kindheit war er nach Deutschland geraten, wurde im nationsozialistischen Geiste erzogen und berichtete, daß er in der Schutztruppe Kaltenbrunners gewesen sei, was wenig glaubwürdig war. Eher war er wohl in der ukrainischen „Galizien“- Division gewesen. Damals saß er wegen versuchter Flucht im Gefängnis. Sie hatten drei Wachsoldaten getötet, ihnen die Waffen abgenommen und hatten sich davongemacht; dennoch wurden sie gefaßt. Kurz darauf wurde er zum Tod durch Erschießen verurteilt. Aber später begegnete ich ihm dann im Etappengefängnis, er war am Leben und gesund. Zu jener Zeit hatte er sich bereits in der Praxis die speziellen Fähigkeiten eines Lager-Chirurgen angeeignet und schrieb sehr viele gute Verse. In der Zelle verfaßte ich mit ihm auch einige Gedichte. Aber ich kann mich an die Verse schon nicht mehr erinnern. Zwei von meinen weiß ich noch. Eines davon hieß „Den Sklaven aller Zeiten“.
Zuvor hatte ich die Lebensbeschreibung eines holländischen Seefahrers gelesen, der sich eine Zeit lang in Rußland aufgehalten hatte und meinte, daß Russen von ihrer Natur her Sklaven seien. Das erzürnte mich und ich verfaßte Verse, in denen ich meine Meinung zum Ausdruck brachte, daß ich nicht Sklave von Nar´tur aus Sklave war, sondern aus Not. Das zweite Gedicht hieß „Die Gefangenen des Nordens“. Wir sangen es zu dem musikalischen Motiv des Liedes „Vor uns breitet sich das Meer aus“.
Später wurde Parischer verurteilt, Bergman ebenfalls. Suchorukow war schon früher aus der Zelle entfernt worden. An seinen Platz kam anfangs Ruschanowskij, ein wenig später Boris Fedosejew. Ersteren, Jurij Nikolajewitsch, nannten wir „Jur Lajtsch“, den zweiten – Boris Konstantinowitsch „Ris Tinsch“. Wir waren ziemlich lange zusammen. Einen besonders bemrkenswerten Einfluß übte Jurij Nikolajewitsch auf mich aus. Er hatte das Studium an zwei Instituten oder Fakultäten für Seefahrtskunde beendet, war bis zum Krieg Adjutant der oberbefehlshabenden Kriegsmarinestation in Sewastopol gewesen. Er bezeichnete sich als Polen, sprach auch sehr gut Polnisch, er und Bergman unterhielten sich immer in dieser Sprache. Er war äußerst gebildet, belesen, wohlerzogen und gab damit den guten Ton in unserer Zelle an. Er war ein hervorragender Erzähler, oft erzählte er für uns Romane nach und verfaßte sogar selber welche. Ich war im materialistischen Geist erzogen worden, erzählte von der Pawlowschen Lehre, und er zwang mich zuerst nachzudenken, indem er sagte: „ Alle Reflexe sind Reflexe, aber wo sind die Seele, das Gewissen, der Geist?“ Er arbeitete im Norilsker OKB (Sonder-Konstruktionsbüro) und erfand sogleich in der Zelle einen verbesserten Dampfkessel mit einem Nutzeffekt, der größer als der übliche war. Das gewisse Etwas bestand darin, daß Damp in die Verbrennungskammer eingeblasen wurde, der den Koeffizienten der Wärmeübertragung erhöhte, und aufgrunddessen kam es auch zu einem besseren Nutzeffekt. Er und ich erörterten ab und zu Fragen der Atomphysik und lösten zu diesem Thema sogar die eine oder andere mathematische Aufgabe.
Ich beschäftigte mich zu jener Zeit damit, die Abhängigkeit der Tonhöhe von der Saitenlänge beim Druck mit den Fingern auf das Griffbrett von Saiteninstrumenten zu berechnen. Dafür bekam ich den Spitznamen „Professor für Saiten-Mathematik“. Aus Brot modellierten wir Figuren und spielten damit Schach. Damals spielte ich nicht schlecht, aber noch mehr ließ ich mich von dem Spiel „Eckchen“ mitreißen. Das waren 9 oder 12 Spielsteine, quadratförmig angeordnet, und die mußte man diagonal in die andere Ecke hinüberbringen. Gleichzeitig mußte der Gegner dasselbe versuchen. Hier fand ich keine Gleichgesinnten, und dafür bekam ich nicht den Spitznamen „Kapablanka“, sondern „Kapo bez-blanki“. Es war viel Zeit vorhanden, was haben wir da alles gemacht! Ruschanowskij schnitzte aus Knochen Angelkagen, wobei er lediglich ganz gewöhnliche Glassplitter verwendete, ich schnitzte aus Knochen Nadeln, die wir auch ab und zu benutzten. Wir lernten uns mit Glassplittern zu rasieren. Im großen und ganzen bemühten wir uns, eine primitive, urmenschliche Lebensweise zu imitieren.
Natürlich erzählte jeder aus seiner Vergangenheit. Ich war jung, ich nahm ihre Lebenserfahrung wie versessen in mich auf. Ruschanowskij war während des Krieges, beim Rückzug von der Krim, in Gefangenschaft geraten und hatte in irgendeinem Lager in der Ukraine gesessen, wo auch Stalins Sohn gewesen war. In einem anderen Lager hatte er gesehen, wie sie ihren Spott mit General Karbyschew getrieben hatten. Von dort war er in die Wlassow-Armee abgeworben worden und war gleichzeitig Adjutant eben dieses Generals Wlassow gewesen. Als der Befhl herausgegeben wurde, daß die Wlassow-Truppen sich mit deutschen Uniformen einkleiden sollten, weigerte er sich dies zu tun. Später war er Lehrer an einer Offiziersschule in der Nähe von Berlin gewesen. Beim Einmarsch der sowjetischen Truppen wurde er an die Ost-Front geschickt, um die Wlassow-Einheiten zurückzuziehen und an die West-Front zu verlegen, damit sie nicht an die Sowjets, sondern an die Aliierten übergeben würden. Von dort floh er und trat zu den polnischen Partisanen über. Nach dem krieg arbeitete er in seiner Eigenschaft als Spezialist als Leiter der Schiffswerft in Gdansk. Später wurde er verhaftet, wahrscheinlich, weil er unter Wlassow gedient hatte.
Boris Fedosejew kam später zu uns in die Zelle. Boris Konstantinowitsch stammte von Weiß-Emigranten (meist emigrierten Konterrevolutionären – Anm. d. Übers.) aus Charbin ab. Er arbeitete in der Funkstation, hatte bei den Japanern die Schule für militärische Aufklärung besucht. Er erzählte viel über das Leben der Weiß-Emigranten in der Mandschurei, wie sie für militärische Aufklärung ausgebildet worden waren. Er brachte es auf der Dienstleiter bis zum Rang eines Majors und wurde nach dem Krieg bei der Einnahme der Mandschurei durch unsere Truppen verhaftet. Er und Ruschanowskij kamen aus ein und demselben Lager, hatten gemeinsame Bekannte und waren ständig in irgendwelche Unterhaltungen miteinander vertieft.
Dann wurden auch sie verurteilt, aus der Zelle entfernt - und ich blieb allein zurück. Später steckten sie den Arzt Grigorjew zu mir. Aus Langeweile lehrte er mich Krankheiten zu diagnostizieren und erzählte aus seiner Praxis. Er war ein großer Musikliebhaber, und ich lernte von im einige Arien aus verschiedenen Opern.
Im Juli 1952 wurden wir vom Militärgericht verurteilt, für jeden wurde nochmals die alte Haftstrafe festgelegt, nur zählte diese Haftzeit jetzt ab dem Tag der zweiten Verurteilung. Bei Gericht einigten wir uns darauf, daß wir früher oder später Berufung einlegen und nur dafür die Verantwortung übernehmen wollten, daß wir Mitglieder der erfundenen Schuwalow-Partei gewesen waren.
Nach der Verhandlung wurden wir nach verschiedenen Seiten auseinandergeworfen. Bis zum 15. September 1952 befand ich mich in der BUR (Baracke mit verschärftem Regime) in der 5. Lagerabteilung der Statdt Norilsk. Dort stieß ich auf meinen Zellengenossen Bergman. Wir erinnerten uns der Tage, die wir im Gefängnis verbracht hatten. Dort machte ich zum ersten Mal in meinem Leben Bekanntschaft mit Handschellen, in denen man uns zum Freigang hinausführte. Zur Arbeit brachten sie uns nicht.
Ich kann mich noch daran erinnern, wie in einer anderen Zelle einer der Gläubigen in den Hungerstreik trat; erhielt 35 Tage und Nächte durch. Allerdings ernährten sie ihn in den letzten zwei Wochen künstlich. Dann sagten sie ihm, daß sie ihn bei einer Arbeit unterbringen würden, die er selber wollte, aber sie brachen ihr Versprechen, er stürzte sich auf den Stacheldrahtzaun und wurde von dem Posten auf dem Wachturm erschossen.
Ein junger Mann, dessen Vor- und Nachnamen ich schon nicht mehr weiß, erzählte eine Menge von den Vorbereitungen zu einem Streik, der dann auch nach dem Tode Stalins durchgeführt wurde. Es wurde lange gestreikt, bis Truppen in die Zone geschafft wurden, welche alle erschossen, die ihnen in die Hände fielen; an nur einem einzigen Lagerpunkt - wie es scheint, war es der dritte – wurden mehr als 600 Mann erschossen. Davon erzählte mir viel später im Durchgangslager einer der Häftlinge, der als Koch gearbeitet hatte. Er war eigentlich ein seltener Redner, aber er verstand es, über tragische Ereignisse auf derart humorvolle Weise zu berichten, daß wir, die Zuhörer, lachen mußten, obwohl das Thema seiner Erzählungen sehr traurig war.
Am 12. September 1952 wurde ich nach Dudinka geschickt; man steckte mich zusammen mit einer ganzen Gruppe von Häftlingen in den letzten Schiffsfrachtraum, und nach einer Woche erreichten wir, gegen die Strömung des Jenissej fahrend, die Stadt Krasnojarsk. Erneut kam ich in ein Übergangsgefängnis und wurde von dort in den Norden verschickt.
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