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Wladimir Worobjew. Späte Rehabilitation

Tajschet. Lagerabteilung 420

In dieser Lagerabteilung waren überwiegend Gläubige, besonders viele unter ihnen gehörten den "Zeugen Jehovas" an, die sich ständig zu Fünfergruppen versammelten, dergestalt war ihre Organisation. Ich verhielt mich allen christlichen Sekten gleichermaßen tolerant gegenüber, studierte selber ständig das "Evangelium". Während meiner Lagerhaft schrieb ich es viermal vollständig per Hand ab; ich ging auf Etappe, verlor es bei der Durchsuchung und stellte es wieder her. Hier nachte ich die bekanntschaft eines achtzigjährigen Alten, einem Adventisten des siebten Tages. Irgendwie war mir zuvor das Buch "Heilende Pflanzen" eines ukrainischen Autors in die Hände gefallen, und der Gläubige und ich gingen durch die Zone und sammelten heilsame Kräuter, definierten sie mit Hilfe eines Bestimmungsbuches für Pflanzen, das ich ebenfalls dabei hatte. Ich stellte eine Herbarium mit etwa einhundertfünfzig Exemplaren zusammen. So reich war die Flora in der Bajkal-Region. Ich lernte, wie man schöne Blätter und Blüten trocknete, und dann zeichnete ich sie.

Unterdessen lernte ich dort einen gewissen Laptew, an dessen Vornamen ich mich nicht mehr erinnern kann, kennen. Er absolvierte ein Fernstudium an der Kunsthochschule, und wir fertigten oft auf dem Fußboden Skizzen an, die man ihm als Hausaufgabe aufgetragen hatte. Der alte Adventist stammte aus Mittelasien und hatte wohl einen gehobenen Posten in der Kirchenhierarchie eingenommen; er erhielt sehr häufig Pakete. Es kam vor, daß wir nach dem Kräutersammeln zu ihm gingen, um die Pflanzen zu bestimmen, und wenn ich dann fortging, suchte er irgendein Geschenk für mich heraus: Äpfel, Birnen, Speck, Konfekt und vieles andere, und immer bat er: "Wladimir Georgiewitsch, ich bitte Sie inständig - bitte lehnen sie nicht ab, nehmen sie das Geschenk, das von ganzem Herzen kommt". Und obwohl ich ständig Lebensmittel hatte, mußte ich das Geschenk annehmen und so tun, als wäre es mir peinlich. Das Buch des ukrainischen Autors arbeitete ich auf meine Weise um. Die Pflanzen darin waren nach dem Alphabet geordnet, unter Angabe der Dosierungen und der Beschwerden, die sie heilen konnten. Aber die Menschen wenden sich doch an ein solches Lexikon, um unter der betreffenden Krankheit nachzuschlagen, an der sie leiden. Daher schrieb ich das Buch um, einmal unter Benummerung der Rezepturen, und dann noch einmal in Form einer Liste der Krankheiten, und zu jeder war dann die entsprechende Rezepturnummer angegeben. Diese Sache schickte ich später mit dem gläubigen Zeugen Jehovas, als dieser in die Freiheit entlassen wurde, nach Krasnojarsk, aber meine Schwester hat es nie erhalten.

Noch früher hatte ich mir von einem chinesischen Autor, dessen Namen ich nicht mehr weiß, ein Buch zur "Chen-Tzu-Therapie" besorgt, und später eines von Bogralik, einem Gorkijer Spezialisten zu dieser Frage. Zusammen mit einem Feldscher fertigte ich selbständig an der Bohr-Werkbank dünne Nadeln aus rostfreiem Stahl zur Akupunktur, und dann praktizierten wir diese Methode auch selbst. Diese Nadeln habe ich heute noch.

Hier stieß ich auch zum ersten Mal in der Zeitschrift "Wissenschaft und Leben" auf die Sitzweise beim Yoga; ich schrieb es ab und praktizierte es später. Mein neuer Freund Nikolaj Batistikow, der mich mit dem originellen Dichter und Symbolisten Gena Tscherepow bekannt gemacht hatte, brachte mich auf den Gedanken, mir diese Zeitschrift anzusehen. Ein derart bewundernswerter und talentierter Poet ist mir niemals wieder begegnet. Er schrieb zu jener Zeit gerade an dem Gedicht "Apokalypse". Irgendwie zum Spaß schlugen wir ihm vor, eine Hymne auf die Sowjet-Union zu verfassen, und innerhalb einer Woche brachte er davon 36 Varianten heraus.

***

Es war bereits das zehnte Jahr meiner Haftzeit. Mehrmals hatten sowohl meine Mutter als auch ich Beschwerden geschrieben, aber auf alle erhielten wir ein- und dieseelbe Standardantwort: "Zurecht verurteilt, Grund für eine Überprüfung des Falles liegt nicht vor".

Gnadengesuche hatte ich nie geschrieben, denn ich war der Meinung, daß man kein Gnadengesuch schreiben kann, wenn man sowieso unschuldig ist. Alles war so trübselig, daß ich manchmal in Verzweiflung fiel.

Die Gläubigen sprachen von einem zukünftigen Leben im Paradies,im Himmel, die Kommunisten träumten vom "strahlenden, künftigen Kommunismus". Ungeachtet der Repressionen gab es im Lager sehr viele Menschen, die dennoch an die Ideen des Kommunismus glaubten. Hier saßen Leute wegen nationalistischer, bourgeoiser Vorstellungen. Ständig kamen Streitereien auf, jeder sah sich im Recht. Es ist schwer zu sagen, wer Recht hatte, es war so, als ob die Ideen sich gegenseitig vernichteten. Wie ich meinte, stammte der Begriff Paradies aus emotionalen Bereichen, aber die Menschen hatten eine unterschiedliche Vorstellung davon. Um die Wahrheit ihrer Vorstellungen zu beweisen, nahmen sie ihr Rüstzeug bereits aus dem Gebiet der Vernunft. Es war so, als ob widersprüchliche Ideen sich gegenseitig zunichte machten, in jener Zeit schienen Seele und Gefühl in Vergessenheit geraten zu sein. Die Gefühle erstarben, während die Ideen kämpften.

Im September 1959 wurde ich zur Etappe aufgerufen. Zuvor war die Rede gegangen, daß sie Leute fürs Gefängnis sammelten. Ich dachte, daß sie mich aufgrund meiner zweiten Vorstrafe in ein Gefängnis mit besonders strengem Regime überführen wollten, aber es stellte sich heraus, daß man mich als Spezialisten für Betonarbeiten ausgewählt hatte ... zum Bau des Zentralgefängnisses.

 

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