Dies war mein letztes Lager, aber nicht die letzte Lagerabteilung. Hier gab es eine Möbelfabrik, in der Möbel aus Rotholz hergestellt wurden, genauer gesagt, Möbel, die mit einem Furnier aus Eiche, Esche, Ahorn und Rotholz beklebt waren, aber auch mit dekorativem Papier. In dieser Lagerabteilung hatten vor uns hauptsächlich Invaliden gearbeitet, Menschen im fortgeschrittenen Pensionsalter, von denen ein großer Teil aus den baltischen Republiken stammte. Sie wurden durch uns ersetzt und waren darüber sehr gekränkt. Zuguterletzt blieben von dem alten Kontingent nur die am besten qualifizierten Tischler zurück. Auch von den Neuankömmlingen wurden in erster Linie Balten ausgesucht. Ein paar Mann kamen aus der Ukraine. Wie es schien, war ich der einzige Russe. Die meisten waren Letten, ebenso wie der Meister. Ich kam zusammen mit dem Letten Birsak in die Reparaturwerkstatt. Defekte Furnierplatten mußten genagelt und verklebt werden. Die Qualitätsanforderungen waren hoch, damit sich die ausgebesserten Stellen weder im Farbton noch in der Textur vom allgemeinen Hintergrund unterschieden. Anfangs fiel mir diese Arbeit sehr schwer, aber mit der Zeit bekam ich darin Erfahrung und galt als beispielhaft. Um mich herum hörte ich meist nur Lettisch, und ich mußte sie mir ganz unfreiwillig aneignen.
Einer der Litauer, die mit mir hierher gekommen waren, machte mich mit seinem Landsmann Jokubinas Kestutis bekannt, einer eigentümlichen, begabten Persönlichkeit. Er war polyglott. Vor der Begegnung mit mir hatte er von Grund auf Englisch, Spanisch, Italienisch, Französisch und Deutsch gelernt. Während meiner Zeit dort lernte er Arabisch, Persisch, Suaheli und Hebräisch. Er beherrschte diese Sprachen in aktiver Weise, konnte nicht nur lesen, sondern auch sprechen und Schriftwechsel führen. In dieser Zeit ergatterte mein langjähriger Freund, der Ukrainer Jewgenij Grizjak, irgendwo die "Autobiographie" des Johannes in englischer Sprache. In Zusammenhang mit meiner schon lange andauernden Begeisterung für Yoga wollte ich sehr gern dieses Buch ins Russische übersetzen. Ausgerechnet dies zwang mich die englische Sprache zu lernen, und Jokubinas als Lehrer kam mir da gerade recht. Nachdem ich mich an ihn gewandt hatte, begeisterte ich mich irgendwie ganz automatisch für das Studium von Sprachen, studierte Spanisch, was mir nach dem Erlernen der französischen Sprache leichter viel. Ich versuchte auch ein wenig Arabisch zu lernen. Außerdem bestellte ich eine Grammatik und ein Hindu-Russisches Konversations-lehrbuch und befaßte mich mit Hindi. Später, als ich Sanskrit lernte, kam mir diese Sprache schon leichter vor.
In dieser Zeit "erkrankte" ich auch an der Philatelie. Jurij Nikolajewitsch Owsjannikow, Ingenieur für Wärmenetze, steckte mich mit dieser Begeisterung an - dem Sammeln von kunstvollen Miniaturbildern. Bei uns war ein Club der Philatelisten gegründet worden, und obwohl sie uns damals nur sieben Rubel auf die Hand gaben, so war doch das Geld für die Bestellung von Büchern und Briefmarken nicht begrenzt. In der Bibliothek gab es einen Prospekt mit einer jährlichen Buchübersicht, und ich bestellte damals sehr viele Bücher, die nicht nur für mich, sondern auch für meine Lagergenossen interessant waren. Einen Teil der Bücher verkaufte und tauschte ich, und dadurch hatte ich immer etwas Geld übrig, das ich zum großen Teil bei den Lager-Philatelisten für die Anschaffung ausländischer Marken ausgab. Schließlich befanden sich in meiner Kollektion Marken aus fast allen Ländern der Erde, wenigstens allen europäischen. Über den Philatelisten-Klub bestellten wir nicht nur sowjetische Briefmarken, sondern auch solche aus anderen Ländern mit einer Volksdemokratie. Bei meiner Freilassung verkaufte ich meine ausländische Markensammlung, genauer gesagt, ich gab sie dem Philatelisten Lukow, er versprach Geld zu schicken, aber ich habe es nie erhalten. Aber die Sammlung mit sowjetischen Briefmarken habe ich bis heute aufbewahrt.
Hier trat ich auch Kursen für Bienenzüchter bei, die ich erfolgreich abschloß. Aber praktisch arbeitete ich nicht. Ich beendete die Tischler-Lehrgänge, bereits mit der Zusatz-bezeichnung Tischler und Kunsttischler der 7. Klasse. Ich beschäftigte mich mit der Fertigung von Schatullen, indem ich auf deren Unterteile aus Espenholz verschiedene Bildchen und Ornamente aus Furnierholz aufklebte. Auf einer von ihnen waren Szenen aus dem Balett "Schwanensee" dargestellt. Leider hat sich einer der Aufseher diese Schatulle angeeignet. In diesem Lagerpunkt traf ich meine alten Freunde Abraam Schifrin, Felix Krasawin und Kolja Batistikow wieder. Auch Abraam fertigte Schatullen an, jedoch hauptsächlich mit zionistischen Themen, trug auf das Furnier eine dicke Lackschicht auf, wodurch das Kästchen ein viel dunkleres, älteres Aussehen bekam. Damals übersetzte er aus einem englischen Buch von der Errichtung eines israelischen Staates und gab mir einige Kapitel daraus zu lesen. Dieses Buch machte später unter den Juden, sowohl in der Gefangenschaft, als auch in Freiheit, die Runde, wahrscheinlich begünstigte es in gewisser Weise auch die Emigration von Juden nach Israel. Zumindest hatten die Juden aus meinem Umfeld ein viel höheres geistiges Niveau, als alle übrigen Häftlinge, die sich sehr oft mit ihren speziellen, nationalen Fragen beschäftigten. Ich verkehrte häufig mit ihnen, und auch mich hielten sie für einen Juden. Als sie diese Bemerkung äußerten, antwortete ich: "Nun, worüber kann ich mit euch reden? Sie sind viel interessanteer als ihr".
Felix Krasawin und ich gingen abends of t in den Klub, wo für uns ein estischer Pianist verschiedene klassische Stücke spielte. Besonders mitreißend fand ich die "Fugen" von Bach, Werke von Wagner, Tschajkowskij, Berlioz, Mendelssohn, Chopin.
In dieser Periode begann ich über die "Akademkniga" von dem Aschchabader Akademiker Smirnow eine Serie von Übersetzungen des indischen Epos "Mahabharata" zu bestellen, von denen ich die letzten Bände bereits in Freiheit las. Diese Bücher eröffneten mir eine neue, riesige Welt vom Leben der alten Hindus. Der Akademiker Smirnow hatte uns, den Liebhabern der indischen Philosophie und Religion, ein Geschenk von unschätzbarem Wert gemacht. Zu einer besonderen Offenbarung wurde für uns die "Bhagawadgita". Diese Bücher bereicherten mein Verständnis für die philosophischen Begriffe des Hinduismus, was den Grundstein für meine spätere Begeisterung für den Tantrismus legte. In handgeschriebenen Texten waren damals die Werke des amerikanischen Yoga Ramatscharaka im Umlauf, und ich befaßte mich verstärkt mit dem Praktizieren von Asana (Sitzhaltung - Anmerkg. d. Übers.) und Prana (Atemtechnik - Anmerkg. d. Übers.).
Am 7. Lagerpunkt blieb ich bis Neujahr, und dann kam ich als wiederholt Verurteilter mit einer Etappe zum 10. Lagerpunkt, einer Lagerabteilung mit besonderem Regime.
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