Bernadetta Nikolajewna Arnst (Mädchenname Bulach) wurde am 12. Januar 1933 im Gebiet Odessa, Rasdeljansker Bezirk, Ortschaft Kandel, geboren.
Vater Nikolaj Iwanowitsch (geb. 1904) und Mutter Dorothea Jakowlewna (geb. 1908) waren Bauern und während der Sowjetzeit Kolchosbauern. In der Familie gab es neben Bernadette Nikolajewna noch 2 weitere Kinder – Nikolaj (geb. 1932 und Schwesterchen Theresa (geb. 1939).
Die Familie Bulach lebte in einem kleinen Haus mit Garten, in dem Kirsch-und Apfelbäume wuchsen, sowie einem 3 Hektar großen Weinberg. Bernadetta Nikolajewna erinnert sich, dass der Vater selber Wein anbaute. Sie hatten auch zwei Kühe, Ferkel und Hühner.
Ganz klar in ihrem Gedächtnis sind die Fahrten des Vaters zum Markt in ihrem Gedächtnis haften geblieben, von wo er den Kindern jedes Mal etwas Schönes mitbrachte – mal ein Kleidchen, mal ein paar Pfefferkuchen …
Die Ortschaft Neu-Kandel war nicht so groß, aber der kleinen Bernadetta kam es aufgrund ihres kindlichen Alters ziemlich weitläufig vor – es hatte breite Straßen, viele, gute Menschen lebten dort, und sie alle sprachen ausschließlich Deutsch. Bernadetta Nikolajewna konnte sich auch noch erinnern, wie die ganze fein herausgeputzte Familie sich an den Sonntagen auf ihr Pferdefuhrwerk setzte und dann nach Alt-Kandel fuhr, wo Großmutter Theresa und Großvater Jakob Sitter wohnten. Und dort gingen sie dann alle zusammen zum Sonntagsgebet in die katholische Kirche. Und so lebte ihre kleine, fleißige Familie.
Aber dann kam das Jahr 1941, der Krieg brach aus. Deutsche Truppen besetzten die Ortschaft Kandel und führten dort nach ihren Vorstellungen Ordnung ein. Sie stoppten die Tätigkeiten in der Kolchose und teilten den Kolchosbesitz unter den Leuten auf – der eine bekam eine Kuh, andere ein paar Hühner. Bernadetta Nikolajewna sagt, dass in den Dörfern auf okkupiertem Territorium die Spezialisierung“ eingeführt wurde: in der Ortschaft Kandel baute man Getreide an, im Nachbardorf, wo Ukrainer wohnten, zog man Obstbäume groß.
Bei ihrem Rückzug zwangen die Wehrmachtstruppen die Russland-Deutschen, die
auf besetztem Gebiet lebten, mit ihnen zu ziehen. Und so geriet Bernadette
Nikolajewnas Familie nach Deutschland. Bernadetta Nikolajewna weiß noch, dass
sie es nicht mehr rechtzeitig schafften, irgendetwas mitzunehmen: nur ein
kleines Bündel und die Kuh. Sie hatten eine lange, beschwerliche Reise vor sich,
fuhren mit Fuhrwerken durch die Tschechoslowakei und Polen. Bernadetta
Nikolajewna wusste noch, dass ihr Vater zu Fuß ging und die Kuh hinter sich
herzog, und als sie nicht mehr gehen konnte, brach sie zusammen; da verkaufte er
sie an ein paar Soldaten und bekam dafür einen Laib Brot und ein Stückchen Speck.
Abends, wenn der lange Treck endlich Halt machte, entfachten sie Lagerfeuer und
kochten sich ein kümmerliches Essen. Die deutschen Truppen änderten häufig ihre
Fahrtrichtung, und die Menschen folgten ihnen, ordneten sich ihren Befehlen
unter; auf diese Weise reisten sie wie Nomaden durch ganz Europa, immer in den
Spuren der deutschen Wehrmachtstruppen, und betraten erst 1945 deutschen Boden.
Die Eltern wurden zum Arbeiten auf einem Bauernhof eingeteilt und mussten dort
alle möglichen Hilfsarbeiten erledigen; mit ihnen arbeiteten auch zwei
sowjetische Kriegsgefangene. Bernadetta Nikolajewna erinnert sich an Gespräche
der Eltern mit den Hauswirten. Die Hausfrau hatte schreckliche Angst vor den
Russen und fragte Bernadettas Eltern immer wieder, was die Russen denn
eigentlich für Menschen wären; sie fürchtete sich davor, dass alle erschossen
würden, wenn die Russen kämen. Aber Bernadettes Eltern antworteten ihr, dass die
Russen genau solche Menschen wären, wie alle anderen auch.
Diese Unterhaltungen kamen nicht von ungefähr: in der Luft hingen bereits
Vorahnungen, dass die Russen wohl den Krieg gewinnen, den Sieg erlangen würden.
Bernadettas Familie wartete, wann denn nun endlich die sowjetischen Menschen aus
ihrer Heimat kämen und sie nach Hause zurückschickten – in die Region Odessa.
Doch entgegen aller Erwartungen wurden sie nach dem Sieg zuerst in einem Lager
festgehalten und anschließend nach Sibirien geschickt…
Man brachte sie zuerst in Krasnojarsk zum Bahnhof, und dann weiter mit dem Dampfer „Maria Uljanowa“ auf dem Jenisej bis in die Stadt Jenisejsk. Sie brachten sie in dem Haus unter, das an der Stelle stand, wo sich heute die Apotheke und der Kindergarten befinden; den anderen Teil der Repatriierten brachten sie in der Kirche unter.
Jede Familie in der Baracke, in der Bernadetta untergekommen war, hatte ein kleines Eckchen für sich zur Verfügung. Bernadetta erinnert sich, dass direkt an den Wänden mehrere Reihen mit Pritschen standen, und sich in der Mitte des Zimmers ein Kanonenofen befand, aber es gab nur wenig Brennholz, und deswegen froren sie nachts ganz erbärmlich. Es waren die schwersten Jahre in ihrem Leben: die Ortsansässigen fürchteten sich vor den Deutschen, meinten, dass ihnen „Hörner wachsen“ würden; die Kinder prügelten sich untereinander – der Anlass dafür waren so beleidigende, kränkende und bittere Worte, wie „Deutscher!“ oder „Faschist!“. In der Kommandantur mussten sie sich einmal im Monat melden und registrieren lassen. Sie lag bei der Holzfabrik; der Kommandant hieß mit Nachnamen Sigotschenko.
Bernadettas Vater, Nikolaj Iwanowitsch, war in der Holzfabrik tätig, ihre Mutter, Dorothea Jakowlewna, erledigte ungelernte Arbeiten bei der Abteilung für kommunale Wohnungswirtschaft. Zu der Zeit wurde das Wasser aus dem Jenisej mit Pferden befördert, und Dorothea Jakowlewna musste im Winter die Eislöcher „offen halten“ und beim Ofensetzen helfen. 1947 fand Nikolaj Iwanowitsch aufgrund der schweren Arbeit und der mangelhaften Ernährung den Tod, und später starb auch Bernadettes jüngere Schwester Theresa. Bernadetta Nikolajewna erzählte, dass sie mehrere Tage nichts gegessen hätten, weil es nichts gab; aber dann schließlich sei es der Mama gelungen, gesalzenen Bärlauch zu beschaffen. Die kleine Theresa bekam eine Darmverschlingung. Um nur irgendwie zu überleben, verkaufte die Mutter nach und nach alle Sachen, die sie mit hierher gebracht hatten – Kleider, Bettwäsche.
Bernadetta Nikolajwenas Arbeitsleben begann schon früh. In der Schule besuchte sie lediglich 2 Klassen. Um nicht vor lauter Hunger zu sterben und der Familie zu helfen, ging sie als Kindermädchen, aber als die Hausfrau sich ihr gegenüber schlecht verhielt, holte die Mutter sie wieder nach Hause. Von da an arbeitete Bernadetta in der Hilfswirtschaft. Im Sommer war sie auf dem Feld tätig, im Winter erledigte sie verschiedene Hilfsarbeiten; sie musste auch Kartoffeln sortieren und vieles andere mehr. In dieser Hilfswirtschaft arbeitete sie bis zum 16. Lebensjahr, danach ging sie in die Holzfabrik und war dort in der Holzbeschaffung tätig; sie fischte das Holz aus dem Wasser und arbeitete genauso wie die Männer. Hier lernte sie dann auch ihren zukünftigen Ehemann kennen und wurde 1952 die Ehefrau von Andrej Christianowitsch Arnst. Bernadetta Nikolajewna erinnerte sich, dass sie keine passende Kleidung fürs Standesamt besaß. Deswegen bat sie eine Nachbarin um deren neue Strickjacke.
1956 wurde sie rehabilitiert. Bernadetta Nikolajewna hat fünf Kinder, 8 Enkel und 8 Urenkel. Und wenn ihre große Familie sich zusammenfindet, sagt Bernadetta Nikolajewna, dann ist so wenig Platz, dass nicht einmal ein Apfel zu Boden fallen könnte.
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken