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Pauline Iwanowna Runowa

Polina (Pauline) Iwanowna Runowa (Geringer) wurde 1941 in der Ortschaft Kasatschinskoje geboren, wohin ihre Familie deportiert worden war. Einzelheiten über das Leben zu der Zeit kann sie natürlich nicht erinnern, aber Pauline Iwanowna ist gern bereit, mit mir die Erinnerungen ihrer älteren Schwester Berta zu teilen, die damals 11 Jahre alt war. Diese Erinnerungen, einzelne Zeilen aus dem persönlichen Briefwechsel der Schwestern, habe ich versucht zu sammeln. In den Briefen, die Berta Iwanowna ihrer Schwester schrieb, kann man die Lebensgeschichte der Familie lesen.

Die Mutter, Emilie Reinhardowa Geringer (Ginter oder Günter), wurde am 30. April 1910 geboren; sie starb am 19. Dezember 2001 auf der Krim. Der Vater, Iwan Iwanwitsch Geringer, wurde am 3. Mai 1903 geboren und starb am 14. Juni 1946.

In der Familie gab es 7 Kinder: Viktor, Amalie, Iwan, Emma (sie lebt in Lettland), Berta (lebt auf der Krim), Pauline (meine Gesprächspartnerin, wohnhaft in Jenisejsk) und Marusja. Vor der Deportation lebte die Familie in der Ortschaft Gnadentau, Gebiet Wolgograd (heute heißt sie Staro-Poltawskoje).

In einem ihrer Briefe erzählt Berta Iwanowna vom Leben ihrer Verwandten im Dorf Gnadentau: „Die Familie war groß; Mutters Vater, Reinhard Alexandrowitsch, hatte neben der Mutter noch 6 Söhne und 6 Schwiegertöchter, und dazu kamen auch noch deren Kinder. Alle wohnten in einem großen, aus Stein gebauten Haus, in dem 6 Betten standen – und dazwischen 6 Hocker…“. In der Familie gab es immer viele Kinder und überhaupt viele Familienmitglieder. Pauline Iwanownas Mutter, Emilie Reinhardowna, wurde am 30. April 1910 geboren, und sie hat leider in ihrem Leben praktisch nichts Erfreuliches gesehen. Als sie gerade 11 Jahre alt war, wurden sie und ihr Bruder Alexander zu Waisen. Ihre Mutter starb an Tuberkulose.

Der Vater, Reinhard Alexandrowitsch befand sich zu der Zeit in Deutschland in Gefangenschaft (von 1914-1919); über sein Leben war der Familie nichts bekannt. Großmutter Amalie nahm die Kinder bei sich auf. Als die Mutter, Emilie Reinhardowna, starb, bat sie ihre Stiefschwester, Reinhard (ihren Ehemann) zu heiraten, sobald er aus der Kriegsgefangenschaft zurückkäme. Sie hatte bereits drei eigene Kinder: zwei Töchter und einen Sohn namens Hermann.

Es kam das Jahr 1918. Am Morgen gingen die Kinder der Ortschaft Gnadentau zur Schule, die in der Dorfschule untergebracht war. Dort wurden die Kinder bis zum 14. Lebensjahr unterrichtet; man sprach ausschließlich Deutsch, geschrieben wurde in gotischer Schrift. Auch Emilie besuchte, wie alle anderen, die Schule. Das Mädchen ahnte nicht, was für ein freudiges Ereignis sie an diesem Tag erwartete. Es war mitten in der Unterrichtsstunde. Und plötzlich kommt die Nachbarin zur Mama in die Schule gerannt und sagt, sie solle ganz schnell nach Hause laufen, weil der Vater heimgekommen sei. Emilie freute sich und lief so schnell wie möglich heim. Sie betritt das Haus und sieht zwei Männer im Zimmer stehen. Es waren der Vater und sein Freund. Und Emilia hatte doch ihren Papa das letzte Mal gesehen, als sie 5 Jahre alt gewesen war. Deswegen erkannte sie ihn nicht und wandte sich stattdessen an seinen Freund. Aber der Vater erkannte sein kleine Tochter, trat auf sie zu und umarmte sie. Bald darauf heiratete Reinhard Alexandrowitsch erneut, und in der Familie gab es von nun an 5 Kinder. So kam es, dass Emilie mit ihrer Stiefmutter zusammen lebte. Ihr Leben verlief ganz unterschiedlich; alles Mögliche kam darin vor – mal Gutes, mal Schlechtes. Die Stiefmutter benachteiligte Emma nicht, aber ihre Töchter – da passierte so manches. Die Familie bestand nun schon aus 21 Personen. Sie besaßen eine gesunde Hofwirtschaft, eine Menge Land (denn das wurde damals pro Person ausgeteilt). Es gab zwei Kamele, 5 Kühe, ein großes Haus – und viel Arbeit. Daher arbeiteten sie von Beginn des Frühjahrs bis in den späten Herbst hinein auf dem Feld. Jedes Mal fuhr die ganze Familie hinaus; dort stand ein kleines Häuschen, und für gewöhnlich blieben und wohnten dort den ganzen Sommer über einige der Schwiegertöchter. Hier hielten sie auch Kühe, und die Schwiegertöchter molken sie und produzierten Fleisch. Jeden Samstag kam Emilies Großvater mit der Kutsche angefahren, brachte ihnen Verpflegung und nahm das Fleisch mit nach Hause, während Großmutter Amalia in Haus und Hof die Kommandos gab. Da ihr Haus lag am Ufer des Jeruslan gelegen war, fingen sie Fische. In besonders erntereichen Jahren fuhr der Familienvater in die Stadt, um dort das Getreide zu verkaufen, und wenn alles gut ausgegangen war, dann kaufte er Zucker in großen Krügen und alles Mögliche an Materialien. Zu Hause teilte die Großmutter dann alles auf die 6 Schwiegertöchter auf, für jede Familie ein Stück. Jede Woche schlachteten sie ein Schaf, u daraus Fleisch zu gewinnen.

Als die Sowjets an die Macht kamen, wurde die Familie enteignet. Eines Nachts, im Jahre 1937, wurde bei den Richters an die Tür geklopft; man kam, um den Hausherrn Reinhard und seinen Sohn Andrej zu verhaften. Das Leben wurde danach für sie sehr schwierig.

Als Emilia Reinhardowna 22 Jahre alt wurde, heiratete sie Iwan Iwanowitsch Geringer, der bereits einmal verheiratet gewesen war. Seiner ersten Ehe entstammten zwei Kinder – ein Junge und ein Mädchen. Seine erste Frau hatte ihn verlassen und den Sohn mitgenommen, aber Tochter Emma war bei ihrem Vater geblieben. Das Schicksal dieses Mädchens nahm eine4n äußerst tragischen Verlauf. In einem seiner Briefe erzählt Berta Iwanowna davon, wie ihre Halbschwester Emma ums Leben kam: „Es war ein heißer Sommertag, Mama war im Haus beschäftigt. Die Mädchen beschlossen baden zu gehen, aber die Mutter meinte, sie sollten lieber warten, bis der Vater nach Hause käme. Doch die Mädchen liefen trotzdem allein zum Flüsschen. Sie badeten, tauchten; Emma verschwand im Wasser und tauchte nicht wieder auf. Unter Wasser befand sich eine trichterförmige Senke, und sie selbst hatte wohl einen Anfall erlitten. Amalie bekam schreckliche Angst und lief zu ihrer Mutter, anschließend zum Dorfrat, zum Papa, der bereits durch einen Freund von dem Vorfalle erfahren hatte. Er rannte im Laufschritt zum Flussufer, tauchte und zog sie selber an die Oberfläche. Das Schwesterchen wurde beerdigt. Ich kann mich noch daran erinnern, wie sie, an der Schule vorbei, durch die Querstraße zum Friedhof trugen; später zeigte man uns, wo ihr Grab lag – ein Haufen Sand, kein Gras. Ich brachte den Sand mit bloßen Händen ein wenig in Ordnung, weinte und sagte: „Hier liegt unser Schwesterchen…“

Pauline Iwanownas Vater, Iwan Iwanowitsch, arbeitete im Dorfrat als Sekretär; er war ein sehr geachteter Mann. Sie besaßen ein solide gebautes Haus, eine kleine Hofwirtschaft.

Doch mit einem Mal änderte sich alles, und das kam so: „Der Taufpate erwarb eine Kuh und kam zum Vater, um die Papiere für das Tier ausstellen zu lassen. Aber später stellte sich heraus, dass er sie gestohlen hatte. Da beschuldigten sie das Väterchen, die Dokumente gefälscht zu haben und steckten ihn für zwei Jahre ins Gefängnis. Als er aus dem Lager zurückkehrte (1932-1933), brachte er allen Verwandten als Geschenk ein Stückchen Haushaltsseife mit. Schon bald darauf kehrte er an seinen Arbeitsplatz im Dorfrat zurück, und alle gestanden ein, dass er unschuldig gewesen war …“.

Während der zwei Jahren, in denen Iwan Iwanowitsch sich im Lager befand, wohnte Emilie Reinhardowna bei ihren Angehörigen. Als Gegenleistung dafür kümmerte sie sich um das Vieh und fütterte gleichzeitig auch ihre kleine Kuh mit durch. 1932-1933 herrschte eine große Hungersnot, alle hatten ein sehr schwieriges Leben. 1934 wurde die erste gemeinsame Tochter des meines Vaters und meiner Stiefmutter geboren – Berta.

Die Jahre gingen dahin, die Familie lebte einträchtig miteinander. Über das Leben zu der Zeit lesen wir: „Wir hatten eine große Sommerküche, unsere Tante Katja und ihr Mann Andrej wussten nicht, wo sie wohnen sollten, und da stellten Papa und Mama ihnen die Sommerküche zur Verfügung. Sie nahmen dort einige Reparaturen und Renovierungsarbeiten vor, und als der Winter kam, versprachen sie einzuziehen… Ich gab auf ihre Kinder acht (Edik und Pascha), während sie im Hof Lehm kneteten. In unserem kleinen Zimmer stand ein Kanonenofen. Dort kochten Mama zusammen mit Tante Charlotte an Weihnachten, Ostern und zum Neuen Jahr…“. Bald darauf wurde Emma geboren, und 1937 kam Wanja. 1938 wurde Jakob geboren, aber dem kleinen war kein langes Leben vergönnt. Er erkrankte an Masern und starb. 1939 erblickte Olja das Licht der Welt, aber auch sie lebte nicht lange. „Wir spielten alle auf der Straße im Sand; Oma Pauline kommt auf uns zu, fragt, was meine Mama macht, und ich antworte ihr, dass sie das Essen vorbereitet. Ich erinnere4 mich noch, dass sie unter dem Arm ein Bündel Kattunstoff mit einem grünen Streifen trug, etwa 10 m lang… Die Großmama trat ein und ging zusammen mit der Mutter ins Zimmer. Es war entsetzlich heiß; wegen der Hitze waren die Fensterläden geschlossen… Sie traten ans Bett des kleinen Mädchens heran – es war tot---„.

1941 war Emilie Reinhardowna schwanger, bis zur Geburt blieben ihr noch 1 Monat und 10 Tage. Es ist schwierig, die tiefe Erschütterung zu beschreiben, welche die Familie Geringer ergriff, als sie von der Deportation erfuhr. Eine einzige Zeile aus einem von Berta Iwanownas Briefen erregt unsere Gemüter, und es ist, als ob man selber diesen schrecklichen Tag miterlebt hätte: „Am 1. September ließen sie uns auf dem Dorfplatz zusammen kommen, in dessen Mitte eine Büste Stalins stand; darum herum wuchsen Blumen, gegenüber – der Dorfrat, rechts davon – die Schule, ein langgezogenes, eingeschossiges Gebäude, und zur Linken – die Kirche. Aber der Morgen wird unvergesslich bleiben: so viele Tränen, und bis heute hat man das Schreien der Menschen in den Ohren. Neben uns auf dem Platz die Nachbarn, Kamele, Ochsen. Sogleich wurden Verse verfasst, und man sang Lieder darüber, dass sie uns zur Zwangsarbeit nach Sibirien bringen und wir dort erfrieren würden. Wir hatten fünf Pferde, viele Sachen. Wir packten alles ein, was wir konnten. Ich weiß noch, dass Mama an dem Tag einen cremefarbenen Morgenmantel aus Seide trug…“.

Viel Zeit gaben sie uns zum Packen nicht. Wir fuhren lange, und das Leben unterwegs war kein Zuckerschlecken. Es fällt schwer zu glauben, wie Emilie Reinhardowna, die in anderen Umständen war, alle Erschwernisse der Reise überstand. Denn sie konnten sich nicht waschen, auch die Wäsche nicht; in den Waggons war es tagsüber stickig, man konnte kaum Luft bekommen, und nachts herrschte Kälte… Im Waggon wurde für uns ein Eckchen abgetrennt… auf einer Seite stand eine Truhe mit Mehl, auf der anderen eine Kommode… wir saßen alle auf dem Boden … es war so schwer, man hatte nicht einmal die Möglichkeit sich zu waschen. Papa war der Älteste im Waggon; er stieg bei jedem Zug-Halt aus, um in der Kantine Mittag- oder Abendessen zu bekommen. In unserem Waggon befanden sich 10 Familien; wenn sie ihre Notdurft verrichten mussten setzten sie sich auf einen Topf, und sobald der Zug fuhr, leerten sie ihn aus – die Tür war immer offen…

Am späten Abend trafen wir in Krasnojarsk ein; in der Nacht wurden alle auf ein Schiff verladen. Am 1. Oktober setzten sie uns mitten in der Nacht an der Überwinterungsstelle am Ufer des Jenisej ab. Und am Morgen kam jemand vom NKWD aus Kasatschinskoje und verteilte alle, die mit uns gekommen waren. Leute, die ursprünglich mit uns im gleichen Dorf gewohnt hatten, kamen nach Dudowka oder Kemskoje, manche wurden auch noch weiter nach Norden gebracht …“. Und so geriet die Familie nach Sibirien.

Vater Iwan Iwanowitsch war zu der Zeit in Krasnojarsk, aus irgendwelchen Gründen hatte man ihn dort gelassen, und deswegen wollten die Angehörigen, die Verwandten beider Seiten ebenfalls gern nach Krasnojarsk. Trotzdem blieb es dabei – es wurde angeordnet, dass sie dort bleiben sollten, denn auch dort wurden Menschen gebraucht. Einen Monat später verlegten sie Iwan Iwanowitsch in die Ortschaft Kasatschinskoje, und noch einen Monat später, im Dezember, zogen er und die ganze Familie mit Pferden dorthin um. Am späten Abend trafen sie ein; die Familie musste irgendwo untergebracht werden. Im Dorf gab es einen Kindergarten, in dessen Hof eine Notunterkunft errichtet wurde. Und hier sollte die Familie Geringer dann auch wohnen.

Am 10. Oktober 1941, mitten in der Nacht, brachte Emilie Reinhardowna zwei Mädchen zur Welt- Pauline und Amalie. Dieses Ereignis beschreibt Berta Iwanowna sehr rührend in einem ihrer Briefe: „Als wir Am Morgen des 10. Oktober erwachten, standen neben der Mama zwei aus der Kommode herausgenommene Schubladen; in jeder lag ein kleines Mädchen. Emma und ich teilten die beiden sogleich untereinander auf und bestimmten, wer sich um wen kümmern sollte. Mir fiel Pauline zu, Emma bekam Amalie. Iwan Iwanowitsch bestellte für die Neugeborenen ein Bett; für alle anderen baute er um den Ofen herum eine Art Zelt, in dem sie schlafen konnten. Amalie lebte nicht lange. 1943, als sie zwei Jahre alt war, wurde sie krank. Ich kann mich noch daran erinnern, dass sie trinken wollte; Mama flößte ihr ein Schlückchen Wasser ein, aber sie schrie immer weiter – so lange, bis sie alles ausgetrunken hatte. … Danach ging Mama wieder und kümmerte sich für kurze Zeit u ihren Haushalt, und als sie zurückkam, lag Amalie schon ganz bleich da; sie war tot …“. Die Familie Geringer lebte in einem kleinen Häuschen mit zwei Zimmern und Küche; im Nebenzimmer wohnten Großmutter Pauline und Großvater Iwan; die Tanten Emma, Raja und Natalia hatten sich in dem anderen Zimmer eingerichtet, und uns sowie der Familie von Onkel Andrej war die Küche zuteil geworden. Alle Kinder schliefen auf dem russischen Ofen. Es herrschte schrecklicher Hunger, und um wenigstens irgendwie zu überleben, ging Großmutter Pauline los und tauschte alle möglichen Sachen – Töpfe, Bettwäsche, Kleidung – gegen Futterrüben und Kartoffeln. Wenn sie für irgendetwas Mehl bekam, buken sie Brot. Iwan Iwanowitsch fand eine Arbeit als Rechnungsführer, Tante Natalia als Köchin im Krankenhaus und Onkel Andrej als Mähdrescher-Fahrer. Tante Natascha brachte häufig Essen mit nach Hause, das die Kranken nicht gegessen hatten. Das nicht verwertete Essen wurde in einen Behälter geworfen, und Tante Natascha fischte dann daraus Brocken heraus, um sie mit nach Hause zu nehmen. „Mama tauschte oft verbliebene Sachen gegen Bärlauch ein; es kam vor, dass sie einen Eimer voll eingesalzenen Bärlauchs nach Hause brachte; wir aßen ihn und waren alle sehr zufrieden. Wahrscheinlich wurden wir deswegen auch nicht krank…“. Die Großeltern wurden in die Ortschaft Mokruschino verlegt.

Um irgendwie zu überleben, baute die Familie Tabak an, trocknete die Blättchen neben dem Ofen und zerkleinerte sie dann in einem Trog. Anschließend tauschten sie die zerstoßenen Blätter gegen Milch ein. Der Vater arbeitete bei der Straßennutzungsabteilung, welche der Familie zum Wohnen ein halbes Haus zuteilte. In der zweiten Hälfte wohnten evakuierte alte Aserbaidschaner. Aslan, er war Invalide, und Ibragim, litten ebenfalls Hunger; sie gingen auf Vogelfang. Als sie 1944 in ihre Heimat aufbrachen, nahm Iwan Iwanowitsch einen Kredit auf und kaufte das gesamte Haus. Das Haus, in dem die Familie Geringer lebte, lag an der Partisanskaja, der Hauptstraße des Dorfes, direkt gegenüber befand sich die Straßennutzungsabteilung, ein wenig weiter die Straße hoch lag die Kantine, in der Tante Natascha als Wächterin arbeitete, die Schwester von Pauline Iwanownas Vater. Das Häuschen war nicht sonderlich groß: es gab nur ein einziges Zimmer und eine Diele. Die Einrichtung war äußerst bescheiden: der große russische Ofen nahm schon das halbe Zimmer ein; in einer Ecke, am Ofen, stand das Kinderbettchen, in der anderen eine Art aus Brettern zusammengehauenes Zelt. Daneben ein Tisch – an dem aßen sie, und dort wurden auch die Hausaufgaben gemacht. Und in der Diele überwinterte ihre Ernährerin, die Kuh, die, wenn auch mehr schlecht als recht, aber doch immerhin ein wenig Milch gab.

Berta Iwanowna besuchte damals die zweite Schulklasse; sie war es, die alle Briefe an Tante Katja ins Altai-Gebiet schrieb und die Umschläge mit gekochten Kartoffel-Stückchen zuklebte. Einmal in der Woche war Badetag. Die Mutter schleppte das Wasser mit dem Schulterjoch herbei, nachdem sie die Eimer in Eislöchern gefüllt hatte. Das Flüsschen war weit von Zuhause entfernt, und um das Wasser für alle herbeizuschaffen, brauchte sie den ganzen Tag. Seife gab es nicht, stattdessen wuschen sie sich mit einer Waschlauge und reinigten darin auch ihre wenigen Wäschestücke, und hinterher juckte immer der ganze Körper. Die Kinder wurden von Emilie Reinhardowna alle in einem großen Zuber gebadet. Wenn die Kinder aus der Schule nach Hause gesprungen kamen, dann erwartete sie auf dem Tisch schon ein bescheidenes Mittagessen – Fladen aus zerkleinerten Kartoffeln , die unmittelbar auf dem Ofen gebacken wurde.

Im ersten Frühjahr teilte man der Familie ein kleines Stück Land für den Gemüsegarten zu, und jeden Morgen, bis zum Beginn seiner Arbeit, grub Iwan Iwanowitsch einen kleinen Teil des Bodens um. Ein Gemüsegarten stellte zu der damaligen Zeit eine große Unterstützung dar – sie bauten Kartoffeln, Steckrüben und Tabak an. Und den ganzen Sommer hindurch bearbeiteten die Kinder den Gemüsegarten – wässerten die Pflanzen, jäteten Unkraut, häufelten Kartoffeln auf. Und im Herbst waren alle über die ersten selbst gezogenen Kartoffeln froh und glücklich. Zum Winter besorgte der Vater allen Kindern Filzstiefel, und für Berta kaufte er zwei Schaffelle, aus denen er ihr einen Pelzmantel nähte; er war furchtbar steif und fest und stand ab wie ein Brett, aber er wärmte. Eines Tages rissen die Kinder Berta in der schule einen Ärmel aus dem Mantel; sie befestigte ihn notdürftig wieder und gelangte damit irgendwie nach Hause. Als der Vater das sah, ließ er sie fünf Tage lang nicht mehr zur Schule gehen. Wenn sie zur Schule gingen, verließen sie das Haus in aller Frühe und schauten unterwegs noch kurz am Arbeitsplatz des Vaters bei der Straßennutzungsabteilung vorbei: er goss den Kindern ein wenig schwarze Tinte ein und gab auch jedem von ihnen ein Löschblatt, so lange niemand es sah. Papiere gab es damals überhaupt nicht, sämtliche Hausaufgaben wurden auf Zeitungspapier erledigt. Schreibhefte für Russisch und Arithmetik bekamen sie nur in der Schule zur Verfügung gestellt, damit sie während des Unterrichts darin schreiben konnten. Sie hatten ein sehr schweres Leben, und alle, Groß wie Klein, begriffen, dass man arbeiten musste. So gingen sie zusammen mit dem Vater 2-3 Kilometer in den Wald, um Brennholz zu holen, das sie dann mit dem Leiterwagen nach Hause schafften. Berta Iwanowna erinnert sich: „Damit wir nicht faulenzten, sagte der Vater oft zu uns, dass er demjenigen, der heute seine Arbeit am besten machte, als Belohnung die obere Brotkruste zuteilen würde – sie schien nämlich größer zu sein, als die untere“. Auf den Kolchos-Feldern wurde damals Hanf für den Hausgebrauch angebaut, und sobald er zu reifen begann, rissen die hungrigen Kinder die Hanfsamen ab und kauten darauf herum, was ihnen ein Gefühl des Gesättigt-Seins verschaffte. Wenn es kein Brennholz gab, zogen sie los, um Kuhfladen zu sammeln und damit den Ofen anzuheizen. Im Sommer wurde Marusja geboren, das Mädchen war sehr schwächlich; sie fingen an, ihr Fischtran zu trinken zu geben – und da kam sie sehr bald zu Kräften, aber ihre ersten Schritte machte sie erst im Alter von 5 Jahren. Als Marusja krank wurde, lag Mama mit ihr zusammen im Krankenhaus, während ich zu Hause blieb und mich um den Haushalt kümmerte. Ich weiß noch, wie ich aus Pilzen, Kartoffeln und Erbsen eine Suppe kochte. Papi kommt zum Mittagessen und sagt: „Da hast du aber eine leckere Suppe gekocht…“. In diesen Jahren verlief das Leben in Sibirien ganz unterschiedlich: es gab viel Leid, aber auch viel Freude.

Aber das Schlimmste geschah nach dem unerwarteten Tod des Familien-Oberhaupts, des geliebten Vaters und Ehemannes. Über dieses tragische Ereignis schreibt Berta Iwanowna: „1945-1946 erkrankte der Vater, offenbar litt er an akuten Blinddarm-Reizungen … es kam vor, dass er, wenn es ganz unerträglich wurde, auf die Straße hinaustrat und sich dort ins Gras legte; das war im Juni. Dann lag er da ein Weilchen, und wenn der Schmerz nachgelassen hatte, dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Zu uns sagte er oft: „Wenn ich sterbe, dann pflückt Feldblumen und legt meinen Sarg damit aus … Am 12. Juni ging er morgens zeitig zur Arbeit, wir schliefen no9ch. Alles war wie immer: er kleidete sich in aller Ruhe an – in der Art wie Frunse, mit Reithose, einem Hemd im Militärschnitt, das von einem breiten Gürtel gehalten wurde, Mantel und Lederstiefeln. Nichts deutete auf ein Unheil hin. Ungeduldig warteten wir darauf, dass er von der Arbeit zurückkehrte, aber er kam am Abend nicht heim. Da ging ich zum Kirchhof am Ende von Kasatschinsk, von wo aus man weiter nach Jenisejsk fährt. Ich sollte drei Liter Milch wegbringen und hatte schon die halbe Strecke auf dieser Straße zurückgelegt, als mir ein Mann von Papas Arbeitsstelle entgegen kam. Er selber war mit seiner Familie aus Leningrad evakuiert worden. Als er mich sah, meinte er: ich bringe euch hier die Kleidungsstücke von eurem Vater; sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Ich ging mit ihm nach Hause zurück. Mama und ich liefen sofort im Laufschritt hinter den Kolchos-Gemüsegärten vorbei zum Krankenhaus; man wollte Mama nicht hineinlassen, aber sie fand trotzdem ihren Weg zu ihm ins Krankenzimmer. m frühen Morgen sagten sie uns, dass Papa gestorben sei. Sie brachten ihn aus dem Leichenhaus nach Hause. legten ihn in einer Ecke auf den sandigen Fußboden, zogen ihm seinen alten weißen Anzug an und legten alles mit Blumen aus, so wie er es gesagt hatte… Es herrschte große Hitze … Wir erwarteten die Großmutter aus Mokruschino, sie lief damals in aller Heimlichkeit 10 km im Laufschritt, denn der Kommandant hatte ihr nicht erlaubt fortzugehen… Wir beerdigten den Vater am 14. Juni. Es war ein sehr schöner Tag, die Sonne schien. Wir gingen hinter dem Fuhrwerk her: Mama, Tante Natascha, Emma, Wanja, ich und die Großmama … Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern, aber ich weiß noch, dass Marusja auf meinen Knien saß, sie war damals zwei Jahre alt, und weinte. Sie begruben den Vater zwischen zwei Birken, ohne Kreuz, versprachen aber einen Stein zu setzen, aber leider – wem nützte das … 1947 gab es eine Überschwemmung, Vaters Grab wurde fortgeschwemmt, alles wurde dem Erdboden gleichgemacht, und so wissen wir bis heute nicht, wo sich das Grab unseres Vaters befindet …“.

Nach dem Tod des Ernährers wurde das Leben erst recht unheilvoll; Mama fing an in der Kolchose als ungelernte Arbeiterin zu arbeiten… Bald darauf nahm man der Familie das Haus fort, weil sie den Kredit noch nicht vollständig zurückgezahlt hatte; womit hätten sie ihn auch abzahlen sollen. Die Kinvaters (Kindvaters?), mit denen sie bekannt waren, nahmen sie bei sich auf. Die Familie litt schrecklichen Hunger, und deswegen beschloss Emilie Reinhardowna, Wanja in der allerersten Zeit zur Großmutter nach Mokruschino zu schicken. Aber dann entschieden sie, Wanja ins Internat nach Dudowka zu geben. Berta und Emma wollten ihn dorthin begleiten; sie waren lange unterwegs, und als sie ankamen, war bereits Abend, der Direktor brachte sie für die Nacht in der medizinischen Untersuchungsstelle unter, wo sie bis zum Morgen bleiben konnten. Am folgenden Tag, als sie erwachten, waren die Zöglinge des Internats bereits bei ihrer Morgen-Gymnastik – alle in weißen Trikot-Hemdchen und kurzen Hosen; anschließend begaben sich alle zum Frühstück, und sie beide wurden auch mit dazu gesetzt. Als alle am Essen waren, meinte der Direktor des Internets, dass sie den Jungen ohne die notwendigen Dokumente nicht aufnehmen würden. Und so mussten sie Wanja wieder nach Mokruschino zurück begleiten. Sie selber machten sich danach wieder auf den Heimweg; während sie gingen, sah Berta etwas auf der Straße liegen. Es war eine Krähe; sie hob sie auf, legte sie in ihre Tasche und pflückte auch noch ein wenig Sauerampfer. Todmüdem aber glücklich, kamen sie Zuhause an, weil sich etwas zum Abendessen gefunden hatte. Sie rupften die Krähe und kochten davon eine Suppe.

Berta Iwanowna half als Älteste, so schwierig es auch war, Emilia Reinhardowna bei der Erziehung der Kinder – ihrer Geschwister. Kein einziges der Kinder wurde in ein Kinderheim gegeben, alle zogen sie selber groß. Berta Iwanowna erinnert sich, dass Tante Milja niemals im Leben die Gewohnheit ablegte Lieder zu singen; eines dieser Lieder hat sie bis heute nicht vergessen: „Stille Nacht“. Dieses Lied begleitete sie in Freud und Leid. Und nun, da Emilia Reinhardowna tot ist, singt ihre Tochter, eben diese Berta, wenn sie ihr Grab besucht, immer dieses Lied zum Gedenken an die Mutter.

O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken


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