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Emma Friedrichowna Mursina

Emma Friedrichowna Mursina (Mädchenname Happel) wurde am 3. September 1936 im Gebiet Saratow geboren, in der Ortschaft Grimm. Während E.F. sich an die Erzählungen der Eltern über das Dorf erinnerte, erwähnte sie, das es ziemlich groß war und dass auf der einen Seite Deutsche, auf der anderen Russen und Ukrainer gewohnt hätten, dass die Einwohner sowohl Russisch, Als auch Deutsch sprachen, aber dass man es in ihrer Familie vorgezogen hätte sich in der Muttersprache zu unterhalten. Wie Emma Friedrichowna sagt, lebten zu der Zeit nicht schlecht – besaßen ihre kleine Wirtschaft, ihren Gemüsegarten, einen Blumengarten, Vieh hatten sie allerdings nicht. Das Haus war groß, für ein ganzes Jahrhundert gebaut, so solide, dass es trotz aller Widrigkeiten, die das Leben mit sich brachte, heute noch dort steht, und inzwischen wohnen darin Ukrainer.

E.Fs Familie war nicht groß. Es gab die Eltern – Vater Friedrich Friedrichowitsch Happel, Mutter Charlotte Filippowna Reichel (geb. 1909). E.Fs Eltern waren fleißige Leute. Im Haus herrschte stets Ordnung. Aber wo sie nun ganz konkret im Wolgagebiet arbeiteten, das erinnert sie nicht mehr; sie wusste nur noch, dass die Mutter Hausfrau war.

Es gab in der Familie vier Kinder – Irma, Friedrich, Emma und Ella. Alle lebten einträchtig miteinander und hielten immer zusammen. Als E.F. von ihrer Familie erzählte, kam sie nicht umhin, auch ihre Großeltern zu erwähnen. E.F. hat ihren Großvater sehr geliebt; mit unglaublicher Wärme berichtete sie von einer, wie es scheint, ganz unbedeutenden Episode aus ihrer Kindheit: „Großvater hatte einen langen Bart. Im Winter war er oft ganz mit Reif bedeckt, und es bildeten sich daran sogar Eiszapfen. Wenn er kam, dann drängten wir Kinder uns immer um ihn und versuchten so schnell wie möglich ihm den größten Eiszapfen vom Bart herunter zu schlagen….“.

Unmittelbar vor der Deportation wurde der Großvater der von mir Befragten krank, und zwar so schwer, dass er ins Krankenhaus gebracht wurde und dort auch bleiben musste. Wann er gestorben ist und wo er begraben liegt, ist bis heute nicht bekannt.

Als die Deportation bekannt gegeben wurde, wollte niemand fortfahren und es wollte auch keiner glauben, dass sie sich an einen anderen Wohnort begeben sollten, und alle wurden nur von zwei Fragen gequält: für wie lange, werden wir zurückkehren ….Sie hatten nur wenig Zeit fürs Packen. Die Eltern schafften es gerade rechtzeitig ihre Kinder auf den Leiterwagen zu verladen, irgendein Nachbar warf ihnen noch einen Sack Mehl und zwei Kissen zu. Mit ihnen fuhr auch Großmutter Jekaterina. Wie meine Interview-Partnerin sagt, holten sie den Vater sofort in die Arbeitsarmee. An die Fahrt nach Krasnojarsk kann E.F. sich nicht mehr erinnern. Aber die Weiterfahrt nach Jenisejsk erinnert sie noch gut aus den Erzählungen der Mutter. „Sie transportierten uns auf Lastschiffen, wo wir in den Frachträumen untergebracht waren, und Mama meinte voller Angst, dass sie nun unter die Erde kämen: so dunkel war es dort unten…“.

An der Anlegestelle wurden sie ausgesetzt. Dort verbrachten sie auch die Nacht und warteten auf ihre Verteilung. Am Morgen schickten sie die Familie Happel an ihren neuen Wohnort – in das Dorf Gorskaja, in die Nebenwirtschaft der Jentorg (der Jenisejsker Handelsorganisation). Die Erdhütten,. in denen sie wohnten, waren folgendermaßen eingerichtet: es standen darin hölzerne Liegebetten, der Boden war mit Stroh ausgelegt, es gab ein in aller Eile zusammen gehauenes Tischchen … Die kleine Fensteröffnung gab so wenig Licht, dass das Zimmerchen von einer Kerze erhellt wurde. Anstatt auf Matratzen schliefen sie auf Stroh. Sie wohnten dort drei Jahre, und die Jentorg gab ihnen eine Kuh zur vorübergehenden Nutzung. Mit ihnen lebten dort auch die Familien Schuppe, Wolf und Eller. Gemeinsam mit diesen Menschen werden sie auch alle Schwierigkeiten und Nöte durchstehen. Einige Zeit später, ungefähr 1945, wurde Emma Friedrichownas Familie ins Dorf Kontschewo verlegt, wo jeweils zwei Familien in einem Haus wohnten. Die Mutter wurde zu Arbeit nach Ust-Kem geschickt. Im Winter beschafften sie Brennholz, im Sommer waren sie bei der Heumahd beschäftigt. Einmal die Woche, am freien Tag, kam Charlotte Filippowna mit ihren Kindern und brachte stets ein wenig aufgespartes Brot mit. Allmählich lebten sie sich ein. Aber dann brach neues Unheil über sie herein. Um das Haus von Mücken und Fliegenschwärmen zu befreien, entfachten die Kinder in einem Eimer einen Schwelbrand und ließen ihn im Haus stehen. Kolchos-Pferde gerieten versehentlich ins Haus hinein und stießen den Eimer um, ein Feuer brach aus. Nachbarn trugen alle Kinder hinaus. Niemand kam im Feuer ums Leben, alle wurden gerettet. Nur war alles, was sie sich bis dahin bereits angeschafft hatten, verbrannt. Sie blieben so zurück, wie ihre Mutter sie geboren hatte. Aber auch hier gab es gute Menschen, die sich nicht im Stich ließen; sie halfen, wie und womit sie nur konnten – manch einer gab ihnen zu essen, von anderen erhielten sie irgendein Kleidungsstück. Die Kinder arbeiteten genauso wie die Erwachsenen: die Einen pflückten Bärlauch, die Andern erledigten diese oder jene Arbeit. Die Erwachsenen lebten eine Woche im Wald, wo sie für die Beschaffung von Nutzholz sorgten, während die Kinder zuhause allein herumwirtschafteten. Irma (die älteste Schwester) war 10 Jahre alt, Ella gerade 1 Jahr, Friedrich 3. Nach einiger Zeit wurden sie erneut in die Nebenwirtschaft des Jentrog geschickt, die sich 1,5 kg von dem Dorf Gorskaja entfernt befand. Jeden Morgen E.F. ging von der Nebenwirtschaft zur Schule in Gorskaja. 1947 zogen sie in die Stadt Jenisejsk um und wohnten dort in einem Durchreise-Hof (das Haus ist bis heute erhalten – die Bleibe von Chudsinskij und Jakowlew), der sich unweit von der städtischen Heilanstalt befand. Dort schauten häufig Kolchosarbeiter herein, die Getreide in die Stadt, zur Abgabestelle, brachten. E.F. berichtete, dass sie ihnen etwas zu Essen machte und dafür im Gegenzug ein wenig Getreide erhielt, und so lebten sie. E.F. hat insgesamt drei Klassen Schulbildung erhalten. Nach einiger Zeit fand die Mutter Arbeit in der Holzfabrik, und sie zogen in die Kujbyschew-Straße um, wo sie in Baracken wohnten. In diesen Häusern gab es Gemeinschaftsküchen und Holland-Öfen. Als E.F. 13 Jahre alt war, begann sie in der Nebenwirtschaft zu arbeiten, half aber im Winter in der Ziegelfabrik. Drei Jahre später holte Kowalskij sie als Kassiererin ins Badehaus in der Mitschurin-Straße.1951, als E.F. gerade ihr 17. Lebensjahr vollendet hatte, nahm sie eine Arbeit in der Holzfabrik auf. Dort übte sie verschiedene Tätigkeiten aus: sie war in der Harzgewinnung tätig und zersägte Baumstämme. Sie war dort 34 Jahre beschäftigt. Sie erinnert sich, dass sich dort, wo heute das Wohnheim des pädagogischen Colleges in der Lenin-Straße, an der Einfahrt zur Stadt, steht, für alle Verbannten und diejenigen, die aus der „Trudarmee“ zurückkamen, ein Badehaus befand, und dass es die ziemlich grobe Bezeichnung „Entlausungsstelle“ trug. Dort wurde die Kleidung kochend heißem Dampf ausgesetzt, und die Soldaten hatten eine Waschgelegenheit. Die Truppe war in der Straße der Pioniere untergebracht. Emma Friedrichowna sagt, dass nicht nur Deutsche zu der Zeit ein schlechtes Leben hatten, sondern dass alle anderen auch nicht besser lebten. Erst in den 1950er Jahren begannen sie ein mehr oder weniger erträgliches Leben zu führen. Aber bis zu der Zeit schlugen sie sich durch so gut es ging, und um sich irgendwie zu ernähren, sammelten sie im Frühjahr auf den Feldern Kartoffeln, die vom Herbst übrig geblieben waren; die zerstampften sie und buken daraus Fladen oder kochten aus Häckseln Grütze. Aber trotz aller Erschwernisse überlebten sie. Das Verhältnis zu den Russen war anfangs äußerst angespannt. E.Fs Bruder Friedrich schrieb anstelle seines richtigen Vornamens immer den Vornamen Fjodor.

Heute meint Emma Friedrichowna, wenn sie sich an jene ferne Zeit erinnert, als sie aus dem heimatlichen Dorf deportiert wurden. Emma Friedrichowna sagt: „Ich weiß nicht, wovor sie solche Angst hatten, wir haben doch niemanden überfallen, wir waren doch genau solche Staatsbürger und Patrioten… Man müsste alle diejenigen kastrieren, die damals den Befehl zur Umsiedlung gaben …“

 

O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken


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