Ella Friedrichowna Tetradow (Mädchenname Happel) wurde am 8. September 1940 im Gebiet Saratow, in der Ortschaft Grimm, geboren. Über das Leben vor der Deportation weiß sie nur wenig, nur das, was die Verwandten ihr erzählt haben, denn sie war damals ja noch nicht einmal ein Jahr alt.
Eltern: Vater Friedrich Friedrichowitsch Happel und Mutter Charlotte Filippowna Raichel (oder Reichel, geb. 1909) waren fleißige Leute, aber leider weiß die von mir Befragte nicht mehr, als was sie damals an der Wolga arbeiteten. Aber aus dem Munde der verwandten hat sie gehört, dass sie im Wohlstand lebten und keineswegs in ärmlichen Verhältnissen. In der Familie gab es vier Kinder – Irma, Friedrich, Emma und Ella.
Und als ihre Familie deportiert wurde, gelang es nicht irgendetwas mitzunehmen, sie konnten die Sachen nicht rechtzeitig zusammenpacken. Nur die Kinder wurden in den Leiterwagen gesetzt. Die Kinder – das war doch ihr ganzer Reichtum. Es ist sehr schwer zu glauben, dass E.Fs Eltern es verstanden haben, all ihre Kinder auf diesem schweren und langen Weg am Leben zu halten. Die Angehörigen erzählten, dass sie in „Kälber“-Waggons bis nach Krasnojarsk transportiert wurden, und von dort bis nach Jenisejsk im Laderaum eines Lastkahns. E.Fs Vater wurde sofort in die Arbeitsarmee eingezogen, in die Stadt Tomsk. Er kehrte nie zurück. E hinterließ seine Kinder auf den Schultern der gebrechlichen Mutter.
Die erste Nacht verbrachten sie unmittelbar an der Anlegestelle der Stadt
Jenisejsk. Dann geriet die Familie Happel nach dem Verteilungsschlüssel in das
Dorf Gorskaja, die Nebenwirtschaft des Jentorg (Jenisejsker
Handelsorganisation), wo sie sich Erdhütten bauten.
Diese Erdbehausungen wurden folgendermaßen eingerichtet: man stellte hölzerne
Liegebetten auf, der Boden wurde mit Stroh ausgelegt und in aller Eile ein
Tischchen zusammengenagelt. Die kleine Fensteröffnung spendete so wenig Licht,
dass sie das Zimmerchen mit einer Kerze erhellten. Anstatt auf Matratzen
schliefen sie auf Stroh.
Dort wohnten sie drei Jahre, und das Jentorg stellte ihnen zur vorübergehenden Nutzung eine Kuh zur Verfügung. Mit ihnen wohnten auch die Familien Schuppe, Wolf und Eller. Und mit diesen Familien werden sie auch gemeinsam alle Schwierigkeiten und Nöte durchstehen. Einige Zeit später, zum Jahr 1945 hin, verlegte man die Familie der von mir Befragten in das Dorf Kontschewo. Dort wohnten jeweils zwei Familien in einem Haus. E.Fs Mutter schickten sie zum Arbeiten nach Ust-Kem, wo sie im Winter in der Holzbeschaffung tätig waren; im Winter halfen sie bei der Heumahd. Einmal pro Woche, am freien Tag, begab sich Charlotte Filippowna zu ihren Kindern und brachte ihnen ein wenig aufgespartes Brot mit. Über ihr Leben sagt E.F. folgendes: „Es war ein wunderschöner Ort, dort floss ein Flüsschen vorbei, man baute eine Brücke, über die Lebensmittel aus der Stadt herangefahren wurden. Ich sang in einem fort das Lied „Papa, Mama sind nicht da, morgen früh kein Brot ist da…“. Nebenan stand das eigenen Haus der Familie Eller, während wir alle zusammen in Baracken wohnten. Es gab nur eine Pritsche, auf der wir alle lagen, und wir beleuchteten den Raum mit Öllampen oder indem wir ein Streichholz in eine Kartoffel steckten. Barfuß zogen wir los, um im Frühling und im Herbst nach der Ernte Ähren zu sammeln. Meistens spielten wir so: wir buken Fladen aus Erdklumpen oder warfen Glasstückchen; wenn du ein Glasstückchen findest, springst du hoch – so ein Spielzeug hatten wir“.
Ab dem dreizehnten Lebensjahr arbeitete E.F. in der Nebenwirtschaft, gleich im Anschluss an die fünfte Klasse. Sie arbeiteten sowohl im Winter als auch im Sommer. Meistens erledigten sie Erdarbeiten – gruben den Boden um, im Frühjahr hackten sie den Stallmist mit der Spitzhacke durch und breiteten ihn dann auf den Feldern aus; damals bekamen sie neun Rubel bezahlt, manchmal auch weniger.
Die Schule besuchte sie in der Stadt Jenisejsk. Sie befand sich in der Mitschurin-Straße, die erste Lehrerin hieß Agrippina Aleksejewna Kosmina. E.F. erinnert sich, dass es in der Schule keinen elektrischen Strom gab, stattdessen hatten sie dort Kerosin-Lampen. Sie schrieben mit Federn auf Zeitungspapier, Schreibhefte gab es nicht. E.F. sammelte, wie alle anderen Kinder auch, Bonbon-Papier. „ …Wir selber aßen kein Konfekt, aber wir wollten uns wenigstens das Einwickelpapier anschauen…“ Den ersten Zucker in ihrem Leben probierte sie, nachdem vor Jenisejsk ein Lastschiff untergegangen war. „Der Zucker war feucht, und sie verkauften ihn ganz billig; Mama bastelte eine Art Stellage, auf dem sie den Zucker trocknen ließ, und wenn es schon Zucker gibt – wie sollten die Kinder sich daran wohl nicht sattessen?“ Das Brot reichte nicht für alle; also musste man sich nachts in die Schlange stellen. Mitunter kam es auch vor, das das Brot gebracht wurde, aber es reichte nicht. Das Brot wurde mit Draufgaben ausgegeben, sie waren mit Streichhölzern am Brotlaib befestigt. Einmal brachte E.F. die Zugabe nicht mit nach Hause, sondern aß es unterwegs auf; dafür wurde sie von der Mutter ausgeschimpft. Sie sammelten auch gefrorene Kartoffeln, wenn sie im Frühjahr den Acker umgruben. Die Mutter gab jedem von ihnen ein Eimerchen: mach, wie du willst, aber das Eimerchen muss ganz voll werden. Sie aßen auch Kuhpastinaken, Kartoffelschalen, alles.
Aber so schwierig das Leben auch war, sie verstanden es trotzdem fröhlich zu sein. An den Abenden organisierten sie auf der Anhöhe Tanzveranstaltungen, eine Harmonika spielte, sie sangen Lieder … 1960 heiratete Ella Friedrichowna Pjotr Wasiljewitsch Tetradow. Zwei Kinder wurden geboren, sie zogen sie groß und stellten sie auf ihre eigenen Füße.
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken