Jelena Ottowa Jesejewa (geb. 1944, Mädchenname Honeker) wurde in der Ortschaft Nischneschadrino, Bezirk Jenisejsk geboren. Der Großvater väterlicherseits, Christian Christianowitsch Honeker (geb. 1861), und Großmutter Frederika Iwanowna Honeker (geb. 1884) waren Lehrer, sie hatten vier Kinder und lebten im Dorf Kolesowka, Grigorenopolsker Bezirk, Gebiet Odessa.
Friedlich lebend und arbeitend begegneten sie der Revolution im Jahre 1917. In diesem schwierigen Zeitraum spaltete sich die Familie Honeker in zwei Lager – Christian Christianowitsch unterstützte die Roten, weil er einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besaß, während sein leiblicher Bruder (an seinen Namen kann die von mir Befragte sich nicht erinnern) war für die Weißen; und so emigrierte er einige Zeit später mit seiner Familie in die USA.
Die Familie Honeker war eine sehr fleißige Familie, und Menschen, die ihre Arbeit lieben, besitzen auch eine Hofwirtschaft, die tadellos in Ordnung und gesund ist. Im Jahre 1928 wurden die Honekers, wie viele andere Familien auch, als Großbauern enteignet und nach Sibirien geschickt. Es war eine lange Reise, sie hatten Hunger und schweres Leid zu ertragen – aufgrund der unzureichenden Ernährung starben zwei Kinder, die im Bahndamm bestattet wurden; zwei weitere Jungen, Gustav und Otto, überlebten. Anfangs wurden die Honekers in Krasnojarsk untergebracht und dann, ein Jahr später, im Jahre 1929, in eine noch weiter entfernte Ortschaft geschickt – nach Nischneschadrino im Jenisejsker Bezirk. Die Ortseinwohner schätzen die Familie Honeker sehr, weil sie zur deutschen Intelligenz gehörten. Christian Christianowitsch arbeitete als Lehrer an der lokalen Schule, Frederika Iwanowna war Hausfrau, denn sie fand keine Arbeit… Bald darauf, 1938, klopfte neues Unheil an die Tür der Familie Honeker – Christian Christianowitsch wurde zum Volksfeind erklärt und im Mai zum Tod durch Erschießen verurteilt. Am 6. September wurde der Urteilsspruch vollstreckt…
1941 wurde die erste Partie deportierter Wolgadeutscher nach Nischneschadrino gebracht und dor am Ufer abgesetzt. „Nach dem, was mir meine Bekannten erzählen, wurden die Menschen ohne Rücksicht auf familiäre Bindungen auf die Ortschaften verteilt und deswegen zahlreiche Familien auseinander gerissen …“. Dorthin brachten sie auch Jelena Ottownas Mutter – Olga Josifowna Gärtner (geb. 1925), sie war verwaist. 1933 nahm die Hungersnot ihr die Eltern fort, und auch alle elf Geschwister kamen ums Leben… Das Mädchen wurde in der Familie seines Onkels Oskar Petrowitsch Gärtner und Tante Theresa Jakowlewna großgezogen. Die Gärtners besaßen eine große Familie. Theresa Jakowlewna arbeitete als Lehrerin für russische Sprache und Literatur, Onkel Oskar war Schuster. Zuerst schickte man die Gärtners nach Chakassien (in den Oskijsker Bezirk). Aber es wurde beschlossen, Theresa Jakowlewna noch weiter fort zu schicken, so dass die Mutter von ihren Kindern getrennt wurde. Da entschied Olga Josifowna: sie darf anstelle der Tante fahren.
Und so kam es auch, aber um diesen Austausch tatsächlich möglich zu machen, musste sie die Behörden auf Knien anflehen. Und so gelangte Olga Josifowna nach Nischneschadrino. Man brachte sie in der Wohnung der Honekers unter. Olga Josifowna war sehr schön, und schon bald fand der älteste Wirtssohn, Otto Christianowitsch, Gefallen an ihr. Wenig später heirateten die beiden. 1944 wurde Jelena Ottowna geboren, und nach ihr folgten noch weitere acht Kinder. Die letzte Geburt allerdings verlief sehr schwierig, und nachdem Olga Josifowna sich ein halbes Jahr lang gequält hatte, starb sie schließlich.
Olga Josifownas Tante Theresa Jakowlewna wurde 1941 beschuldigt, dass sie sich über den Einmarsch von Hitlers Truppen in Moskau freuen würde; aufgrund einer Denunzierung wurde sie zur Arbeit beim Bau eines Kanals verurteilt (die von mir Befragte erinnert sich nicht an die Bezeichnung), sie bekam acht Jahre, nach deren Ablauf sie krank und völlig entkräftet zurückkehrte.
Jelena Ottownas Vater – Otto Christianowitsch – war als Traktorist tätig und hat diese Arbeit bis zu seinem Tode (er starb 1992) beibehalten. Für seine Arbeitsverdienste hat er von der Regierung einen Orden erhalten, und sein Name fand auch in dem Buch „Bestarbeiter des Jenisejsker Bezirks“ einen Platz.
Jelena Ottowna erhielt eine Schulbildung, die sich über sieben Klassen erstreckte; nach Beendigung der Schule begab sie sich zum Arbeiten in die Stadt Jenisejsk. Ihr Leben lang arbeitete sie in der Holzfabrik, heiratete und bekam zwei Kinder. Die Kinder sind für Jelena Ottowna der ganze Stolz, immer wollte sie für ihre Kinder und Enkelkinder nur das Beste, dass sie all das bekommen, was ihr selber genommen wurde, und das Wichtigste dabei war – eine gehobene Ausbildung …
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken