Emilia Alexandrowna Urmakowo (Mädchenname Ibe) wurde am 31. Oktober 1935 im Gebiet Saratow, in der Ortschaft Alt-Urbach, geboren. Der Vater der von mir Befragten, Alexander (an seinen Vatersnamen kann sie sich nicht erinnern), arbeitete anfangs als Abschnittsbevollmächtigter Milizionär, so dass er häufig nicht zu Hause war, denn er war in anderen Ortschaften unterwegs. Wenn er von seinen Dienstreisen zurückkehrte, brachte er seinen Kindern immer irgendwelche Kleinigkeiten mit, denn er liebte sie sehr. Mama hieß Emilie Gottliebowna, sie wuchs in einer Familie mit vielen Kindern auf (11 Geschwister); sie war Hausfrau, arbeitete jedoch auch auf dem Feld, genau wie alle anderen Frauen des Dorfes auch. Wenn sie zur Arbeit ging, übergab sie ihre Kinder der Großmutter.
In der Familie gab es vier Kinder – Elvira (geb. 1931), Viktor (geb. 1933), Emilie (geb. 1935) und noch ein kleines Mädchen, das jüngste (an dessen Vornamen sich Emilie Alexandrowna nicht mehr erinnern kann, denn es starb beinahe gleich nach der Geburt). Kurz vor Kriegsausbruch begann der Vater der von mir Befragten als Traktorist zu arbeiten; er zog sich eine schwere Erkältung zu und starb unmittelbar vor Kriegsbeginn. E.As kindliche Erinnerung hat einige Momente aus diesem Leben bewahrt: „Ich erkrankte sehr schwer an Skrofulose, weil der Vater mir so viele Süßigkeiten zu essen gegeben hatte. Mein ganzer Körper war mit Grind übersät. Es kam vor, dass ich mir die Haut bis aufs Blut aufkratzte. Und bei uns an der Wolga gab es Fliegen, sie klebten überall an mir, und eine kroch mir sogar ins Ohr. Es bildeten sich Maden, die mein Trommelfell zernagten. Ärzte gab es nicht … aber Mama bemerkte es und zog sie aus dem Ohr heraus…“.
Kaum dass sie im Dorf elektrische Leitungen verlegt hatten, kam es zu einer Tragödie – Emilies Großmutter saß während eines Gewitters neben der Steckdose, als durch das geöffnete Fenster ein Kugelblitz ins Haus einschlug, der sich genau an der alten Frau entlud. Von diesem tragischen Ereignis erinnert E.A. noch folgendes: „Ich weiß noch, wie sie sie in den Hof hinaus trugen und im Sand eingruben, weil sie der Meinung waren, dass sie wieder zum Leben erwacht, aber sie tat es nicht…“
E.A. Schwester war gut in der Schule, und für ihre Fünfer (nach deutschem Noten-System Einser; Anm. d. Übers.) gab der Vater ihr Geld. Die Häuser im Dorf waren solide gebaut, und so jammerschade es auch war von der vertrauten Hofwirtschaft und der heimatlichen Umgebung Abschied nehmen zu müssen – dem Befehl musste man sich fügen. E.A. erinnert sich, wie schrecklich es war, als sie sich für die weite Reise fertig machten: „Auf der Straße stehen Pferde mit Fuhrwerken, und alle laden immer mehr Sachen auf; jeder von ihnen hat einen Haufen Kinder – damals haben doch alle viele Kinder bekommen. Und das Gebrüll, das Vieh brüllt, und Mama wirft ein ganzes Fass mit Milch für die Tiere um. Alle gehen fort ins Ungewisse, und das Vieh ahnt es und brüllt…“. Sie nahmen alle gebrauchstüchtigen und teuren Dinge mit, die sie später eintauschten – einen Mantel mit reich besetztem Kragen, eine Nähmaschine, gutes Schuhwerk.
„Sie fuhren uns von einem Dorf ins andere, und jedes Mal gesellten sich weitere Trecks mit ebensolchen Menschen hinzu, wie wir es waren. So gelangten wir schließlich bis zum ersten Bahnhof. Und dann gelangten wir in den Zug, der seine Fahrt in Krasnojarsk beendete, von wo aus wir nach der Verteilung nach Jenisejsk gerieten…“
In Jenisejsk wurde die Familie Ibe in einer Baracke neben dem alten Badehaus auf dem Kaschtak (turksprachlich für „winterlicher Berg“, hier Name eines Hügels; Anm. d. Übers.) untergebracht. In diesem Badehaus wuschen sie sich auch. Ihre Kleidung ließen sie in der Kleiderbehandlung „durchbraten“, so dass sie von Läusen und anderen Parasiten befreit wurde. Mit den im Zimmer in Hülle und Fülle vorhandenen Läusen und Wanzen kämpfte man mit folgender Methode: abends, nachdem sich alle zum Schlafen niedergelegt hatten, legten sie alles mit stark riechenden Kräutern aus und gossen ringsumher Wasser aus.
Anfangs arbeitete die Mutter der von mir Befragten, Emilie Gottliebowna, in der Holzfabrik. Dann wechselte sie als Melkerin zur Nebenwirtschaft. „Dort gab es Milch und Quark, aber Mama war dermaßen schüchtern, dass sie nicht einmal ein winziges Schlückchen von dort mitnahm; ich gehe dorthin zu ihr, bleibe an der Tür stehen. Eine Frau sagt zu ihr: „Milja, du solltest wenigstens deinem Töchterchen etwas geben…“. Aber sie hat Angst…“.
Die traurigste und schlimmste Erinnerung aus jener Zeit ist für E.A. der Hungertod ihres jüngsten Schwesterchens, und dies erzählt sie uns darüber: „Mama ging zur Arbeit, die älteren Kinder waren in der Schule, und ich war mit der Kleinen zuhause geblieben, um auf sie Acht zu geben. Mama sage beim Fortgehen: „Pass gut auf sie auf“. Obwohl wir hungrig waren, mochten wir trotzdem gern spielen. Ich laufe und laufe und renne zum Haus zurück. Sie, die arme Kleine, hat Hunger; sie sitzt auf ihren Kissen, aber es ist nichts zum Essen da. Mama versuchte uns mit allerletzter Kraft zu ernähren: sie kochte Sauerampfer und streute Mehl hinein. Und das gab ich dem Schwesterchen nun auch zu essen, aber es schiebt den Teller fort, dass er zu Boden fällt. Ich sage ihr, dass ich nichts mehr für sie habe, und gehe wieder zum Spielen auf die Straße. Und sie sieht mir mit einem Blick nach, der an den eines Muselmanns im Konzentrationslager erinnert… Als ich genug gespielt hatte, ging ich wieder nach Hause; ich betrete das Zimmer, in dem sie liegt – sie ist tot. Ich rannte zur Holzfabrik, zur Mama, sie arbeitete dort, und ich sage: „Mama, sie ist tot“. Mama weinte nicht einmal, denn sie hatte schon so viel durchgemacht, und es hatte sie so sehr geschmerzt mit anzusehen, wie ihr Kindchen sich quälte… Das erinnere ich jetzt, aber ich weiß nicht mehr, wie sie die Kleine beerdigt hat…“
Emilies älteste Schwester besuchte die Schule. Und weil beide Kinder zusammen nur ein Paar Gummistiefel besaßen, konnte die Kleinste nicht mit zur Schule kommen. So war Emilie Alexandrowna nicht ein einziges Schuljahr vergönnt.
Im Frühling, wenn auf den Feldern noch Eis lag, streifte die ältere Schwester Elvira in den Gummistiefeln mitten durch das vereiste Wasser und sammelte Ähren auf. Einmal bekam sie ganz kalte Füße, und im Auge bildete sich eine weißliche Trübung. Sie begab sich ins Krankenhaus, und der Arzt meint zu ihr, dass man das nur entfernen könne, eine Heilung sei nicht möglich. Man entfernte ihr das Auge, und so lebt sie auch heute noch – mit einem geschlossenen Auge. Aber trotz allem hat sie geheiratet und lebt jetzt in Deutschland. Es gab zu Hause nichts zu essen; deswegen zog E.A. zusammen mit ihrem Bruder durch die Dörfer und bat um Almosen. „Ich ging mit dem Bruder von Dorf zu Dorf, um hier und da ein paar Bröckchen zu erbetteln. Ich bin noch klein, ich gehe und weine, und da nimmt er mich auf den Rücken und trägt mich weiter, und ich weine; schließlich fällt ihm das doch schwer, er möchte ja auch essen. Und er sagt zu mir, dass wir ins Dorf zurück müssen, sonst sind wir gezwungen im Wald im Dunkeln zu übernachten. Wir gehen weiter, ich trotte hinter ihm her und weine. Wir erreichen das Dorf, aber die Leute dort waren nicht sonderlich gut. Es herrschte Krieg, jeder hatte seinen Ehemann oder Bruder an der Front. Manch einer gibt uns etwas, hat Mitleid, andere verfluchen uns auf alle nur erdenkliche Weise … Ach, gebe Gott, dass wir wenigstens ein paar Stückchen gesammelt haben, wenn wir noch durch ein paar weitere Dörfer gezogen sind… Für gewöhnlich gaben sie uns eine Steckrübe oder einen Rettich. Manchmal bekamen wir auch ein Stückchen Brot oder sie gossen uns etwas Milch in einen Krug.
Als E.A. gerade siebzehneinhalb Jahre alt war, ging sie zum Arbeiten in die Holzfabrik. Ihr Bruder Viktor fand Arbeit als Hirte, und erlernte später den Beruf eines Fahrers. Die älteste Schwester Elvira arbeitete in der Ziegelfabrik. 1957 heiratete Emilie Alexandrowna Pjotr Akimowitsch Urmakow und begab sich mit ihm in die Siedlung Strelka; sie bekamen zwei Söhne. Heute lebt sie wieder in Jenisejsk.
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken