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Maria Petrowna Iwanowa

Maria Petrowna Iwanowna wurde 1944 in Kasachstan, in der Ortschaft Bara-Kul, geboren. Ihre Eltern, Peter Andrejewitsch Rudi (geb. 1910) und Emma Kondratewna Kromm (geb. 1911) lebten vor der Deportation im Gebiet Saratow, in der Ortschaft Schöndorf (Krasiwoje). Der Vater absolvierte Mechanisatoren-Kurse, arbeitete in der Kolchose, während die Mutter Hausfrau war, denn zu dem Zeitpunkt hatte sie bereits fünf Kinder und das sechste trug sie unter dem Herzen. Über die bevorstehende Deportation wusste die Familie Rudi nur wenig:

innerhalb von 24 Stunden sollten sie bereit sein; angeblich wäre es nicht nötig viele Sachen mitzunehmen, denn sie würden lediglich für drei Monate fortfahren (so hieß es) … Die Vorbereitungen zur Abreise verliefen in aller Eile. Emma Kondratewna briet Fleisch und übergoss es mit Fett. Die gesamte Hofwirtschaft mussten sie zurücklassen – das Vieh, das Haus. Und sie erhielten dafür eine Bescheinigung mit dem Versprechen, dass sie alles zurückbekommen würden. Einen Teil des Besitzes erhielten sie bereits in Kasachstan zurück – man teilte ihnen ein paar Hammel zu. Nach den Worten der Eltern war es eine lange Fahrt, gelegentlich hielt der Zug, und die Passagiere stiegen aus, um ein Feuer zu entfachen und rechtzeitig bis zur Abfahrt etwas zu kochen. Die Familie Rudi wurde nach Kasachstan geschickt – in die Ortschaft Bara-Kul (weißer See); dort brachte man sie im Haus einer Frau unter, die eine große Familie besaß und deren Mann an der Front kämpfte. „Für die ortsansässige Bevölkerung waren wir Faschisten, und mit den Familienangehörigen der Wohnungswirtin befanden wir uns in einer sehr angespannten Situation…“. Emma Kondratewna (Maria Petrownas Mutter) erzählte davon, dass kleine Kinder mit rüpelhaftem Benehmen an der Wolga immer mit dem Auftauchen von Kasachen erschreckt wurden, indem man zu ihnen sagte: „Wenn du dich nicht anständig aufführst, kommt der Kasache und nimmt dich mit…“. Und deswegen hatten die Deutschen große Angst vor den Kasachen. Aber in der Ortschaft wohnten nicht nur Kasachen, sondern auch Polen, Inguschen und Ukrainer.

Es gab in der Familie viele Kinder; von den elf, die geboren wurden, überlebten neun: Friedrich, Robert, Selma, Hermine, Rosa, Maria, Elsa, Jekaterina, Ida. Und die Eltern sahen sich vor eine schwierige Aufgabe gestellt – sie mussten sie alle ernähren, einkleiden, mit Schuhwerk ausstatten… Und all dieses Elend und Unglück stand die Familie gemeinsam durch…

Der Vater arbeitete als Mechanisator in der Kolchose, mehrfach wollten sie ihn, den Ernährer, in die Arbeitsarmee mobilisieren, aber das ließ der Vorsitzende nicht zu, denn Spezialisten waren dringend nötig - und überhaupt … Und einmal kam ihm ein Zufall zu Hilfe: „Damals arbeiteten sie sehr viel; der Vater war gerade dabei zusammen mit seinem Kollegen den Boden umzupflügen, als er beschloss, sich in einer Furche niederzulassen, um sich ein wenig auszuruhen. Der Arbeitskollege bemerkte den liegenden Vater nicht und überfuhr seinen Arm, der schwer verletzt wurde; die Knochen brachen“. Eine Menge erzählte Maria Petrownas Mutter von anderen Deportierten. Zum Beispiel wie sie eine junge Frau in die Arbeitsarmee schickten, ohne Rücksicht darauf, dass sie einen Säugling hatte, und wie sie ihm den kleinen Sohn brachten, damit sie ihn zum allerletzten Mal nähren konnte (!) – so etwas vergisst man nicht. Vergisst man etwa, wie viel Angst Maria Petrownas Kusine, ein sehr schönes Mädchen durchmachen musste, das die Kasachen rauben wollten; wie sie nachts im Schneesturm heimlich mit ihren Eltern in ein anderes Dorf davonlief?

Nur mit Mühe überstanden sie den ersten Winter; zum Frühjahr bauten sie sich eine Erd-Hütte, in die sie einzogen. In ihrem eigenen „Haus“ war das Leben einfacher. Um zu überleben angelten sie Fische aus dem See. Die Öfen heizten sie gewöhnlich mit Schilf und getrocknetem Kuhmist. Die Deutschen hatten die Technologie mitgebracht, wie man ein derartiges Heizmaterial gewinnt: der Stallmist wurde mit Stroh vermischt, geformt und in der Sonne getrocknet.

Im Nachbardorf Wlasowka gab es eine Maschinen- und Traktoren-Station, und Peter Andrejewitsch wurde zum Arbeiten dorthin verlegt. Bald darauf, im Jahre 1951, ließ er die gesamte Familie nachkommen. Sie beschlossen ihre eigenes Haus zu bauen, nachdem sie zuvor schon Freunde, Angehörige, Nachbarn dazu eingeladen hatten – die ganze Welt half ihnen. Sie bauten ihr Haus aus ungebrannten Lehmziegeln; um diese Ziegel herzustellen, hoben sie eine große Grube aus – dann gaben sie Lehm und Stroh hinzu und vermischten diese Masse mit Hilfe von Pferden. Die geformten Ziegel ließen sie in der Sonne trocknen, und bauten dann mit viel Mühe das Haus zusammen; das Dach wurde zuerst mit Rasensoden abgedeckt, zum Schluss kam Blech darauf. „Uns, den Kindern, wurde von frühester Kindheit an die Liebe zur Arbeit anerzogen. In der Hof- und Hauswirtschaft gab es eine Menge zu tun, und deswegen erstellten die Mädchen einen Stundenplan – wer im Haus arbeiten und wer sich um das Vieh kümmern sollte. Aber trotz allen Elends, trotz der zahlreichen Erschwernisse im Lebensalltag, feierten sie die Festtage, und wie schwierig es für die Eltern auch sein mochte – sie hatten immer ein paar kleine Geschenke für uns. Zu Weihnachten putzte sich Großmama Justina ganz in Weiß heraus und hüllte sich dabei so ein, dass die Kinder sie nicht erkennen konnten; sie kam ins Haus und sagte mit feinem Stimmchen ein Weihnachtsgedicht auf; anschließend forderte sie jede Kind auf, ebenfalls ein Gedicht in deutscher Sprache zu zitieren, und dann bekam jeder ein Stück Konfekt oder eine Brezel. Zu Neujahr gab es in der Familie ebenfalls eine Tradition – jedes Kind sollte frühmorgens an die Tür der Eltern herantreten, mit dem Fuß an die Tür klopfen und ihnen auf Deutsch zum neuen Jahr Glück wünschen, und je früher sie das taten, desto besser. In der Regel bekamen sie von den Eltern dann etwas Geld. Zu Ostern wurden abends die Mützen zurechtgelegt, und dann warteten sie ungeduldig darauf, dass der Osterhase ihnen gefärbte Eier brachte, und am nächsten Morgen, wenn sie erwachten, fanden die Kinder bunt bemalte Eier in ihren Mützen. Auch Pfingsten wurde gefeiert: am Abend wurde Thymian gepflückt und in den Zimmern ausgelegt, und der Duft war unbeschreiblich. Aber obwohl sie am Hungertuch nagten, obwohl ihr Lebensalltag von so viele Erschwernissen begleitet war, kochte Mama morgens im Kaffee aus Gerste, denn wir mit Milch tranken, und abends gab es für gewöhnlich Tee“.

Die ganze große Familie musste eingekleidet und mit Schuhwerk ausgestattet werden, und deswegen strickte Mama ihnen Schühchen und nähte Sohlen darunter. Normalerweise kauften sie immer viel Material und für alle, deswegen sah die Kleidung aller Kinder auch gleich aus, und man sagte über sie „wie aus dem Brutapparat“. Als M.P. in die erste Klasse ging, kauften die Eltern ihr Stiefel aus grobem Schweineleder und einen grauen Jungen-Mantel, aber für das Mädchen bedeutete das ein großes Glück. Nachdem Maria Petrowna die neuen Sachen angezogen hatte, drehte sie sich vor lauter Freude im Hof im Kreis.

Emma Kondratewna (M.Ps Mutter) bekam als Mutter zahlreicher Kinder einen Orden und zwei Medaillen verliehen. Mutter und Vater sagten immer: „Haltet euch immer an eure Nation, dann wird euch auch niemand Faschist nennen. Die älteren Schwestern heirateten Männer aus den Reihen der Ihren (Deutsche), aber ich wollte das nicht …“. Nach Beendigung der Schule fuhr Maria Petrowna nach Nowosibirsk und schrieb sich am Technikum ein. Hier in Nowosibirsk begegnete sie auch ihrem zukünftigen Mann Wladimir. Er absolvierte das Institut für Nachrichtenwesen, und im Dezember heirateten sie. Die junge Familie begab sich auf Zuweisung gemäß Verteilerschlüssel nach Jenisejsk, um dort eine Arbeit aufzunehmen.

 

O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken


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