Eduard Jakowlewitsch wurde am 11. März 1941 in der Ortschaft Gnadenfeld, Gebiet Saratow, geboren. Gnadenfeld war ein Groß-Dorf, und seine Bewohner sprachen ausschließlich Deutsch. Wie die Mehrheit der Ortsbewohner arbeiteten auch Eduard Jakowlewitschs Eltern in der Kolchose. Großvater, Jakob Braun, war Brigadeleiter; in den 1930er Jahren war die Kolchose in einem erbarmungswürdigen Zustand, die Menschen hungerten. Und so war jeder einzelne bemüht irgendwie zu überleben – es gab auch Fälle von Diebstahl. Trotzdem antwortete der Vorsitzende auf alle Bitten Jakobs, das Leben der Menschen zu erleichtern, mit großer Ablehnung. Und so entstand ein Konflikt zwischen dem Kolchosvorsitzenden und dem Brigadeführer. Den letzten Tropfen auf den heißen Stein bildete die Liebe zwischen dem ältesten Brigadier-Sohn und der Tochter des Vorsitzenden; die Hochzeit fand nicht statt. „Mein Onkel hatte sich in die Tochter des Vorsitzenden verliebt, aber der Großvater war dagegen, er hatte begriffen, dass die beiden kein Paar würden. Der Sohn hörte auf seinen Vater und – heiratete eine andere. Dem Vorsitzenden ging das gegen den Strich, und so stellte er eine Akte zusammen, die sogar von den besten Freunden und Nachbarn der Familie Braun unterschrieben wurde. Was Menschen vor lauter Hunger nicht alles tun… Man kann die Leute verstehen: wenn der Mensch schrecklichen Hunger hat, ist er fähig, aufs Ganze zu gehen – nur um zu überleben. Der Großvater wurde für schuldig befunden, und am 16. Februar 1937 um vier Uhr morgens erschossen. Er hinterließ die ganze große Familie mit Großmutter Katherina als Oberhaupt“. Eduard Jakowlewitschs Mutter, Maria Jakowlewna Braun (geb. 1915), und sein Vater, Jakob Andrejewitsch Jakobi, arbeiteten in der Kolchose. Eduard Jakowlewitsch hatte noch eine ältere Schwester namens Irotschka (geb. 1937). Mit ihnen zusammen lebten auch Onkel und Tante – Sofia Jakowlewna Braun und Jakob Jakowlewitsch. Sie hatten ein gutes Leben, besaßen ihr eigenes Haus, unterhielten eine Hofwirtschaft – Hühner, eine Kuh, ein paar Ferkel, ein kleines Stückchen Land.
Dann kam das Jahr 1941, und Eduard Jakowlewitschs Angehörige wurden nach Sibirien geschickt. Von der Mutter weiß er, dass sie in aller Eile ihre Habseligkeiten für die Fahrt zusammenpacken mussten. Er berichtet: „Der Bruder hatte nichts zum Mitnehmen, es herrschte ja solche Armut, und auch die Zeit zum Packen reichte nicht – sie nahmen ihre Kinder und dann noch das Allernötigste; ihre gesamte Kleidung trugen sie auf dem Leib“. Es war eine sehr lange Reise, ungefähr einen Monat müssen sie wohl unterwegs gewesen sein, bis sie schließlich im Kasatschinsker Bezirk, in dem Dorf Samoswanka eintrafen. E.Js Vater holten sie in die Arbeitsarmee; danach kam viele Jahre keine Nachricht mehr von ihm, aber später stellte es sich heraus, dass er am Leben geblieben war, erneut geheiratet hatte und in Kasachstan lebte.
Ein Jahr später wurde die gesamte Familie Jakobi in das Dorf Anguticha im Turuchansker Bezirk verlegt. Hier hatte schon J.W. Stalin eine zweijährige Verbannungsstrafe verbüßt, bevor man ihn dann nach Kurejka verlegte. E.J. erzählt: „Anfangs verbüßte J.W. Stalin seine Verbannungsstrafe in Anguticha, und die Ortsbewohner ahnten nicht einmal, dass er ein politischer Gefangener war; sie dachten, dass er lediglich als Zwangsarbeiter da war; er arbeitetebei einem Hauswirt namens Michail Michailowitsch Dawydow, der mir diese Geschichte auch berichtete. Er (Stalin) erledigte bei dem Hausherrn die ganze schwere Arbeit: Holz sägen, Netzt flicken, das Vieh versorgen; der Hausherr ließ auch so manches heftige Wort gegenüber seinem Arbeiter fallen, was er später lange bereute – er hatte schreckliche Angst, dass man ihn dafür bestrafen und sogar erschießen könnte… Aber er blieb unversehrt und erzählt uns, den Schülern der vierten Klasse, wenn auch nur äußerst ungern, während des Unterrichts vom Leben des Vaters aller Völker in Anguticha. Einige Zeit später lernte J.W. ein Mädchen kennen – Lidia Platonowna Dawydowa, mit der er dann dort etwa ein Jahr lang lebte. Aber viel länger dauerte die Beziehung auch nicht, denn man schickte Jakow Michailowitsch Swerdlow nach Turuchansk in die Verbannung, und J.W. fing an im Untergrund zu arbeiten. Lidia Platonowna erriet, dass nicht alles mit rechten Dingen zuging, dass er nicht bloß ein einfacher Strafarbeiter war; sie fürchtete sich und zog in ein anderes Dorf. Sie war übrigens zu dem Zeitpunkt bereits in anderen Umständen. Die Regierung erfuhr von der Verbindung zwischen Swerdlow und Stalin und schickte J.W. noch weiter fort, nach Kurejka. Er ging den ganzen Weg bei minus 50 Grad zu Fuß; heute steht in Kurejka immer noch Stalins Haus, das zum Museum geworden ist. Später berichteten Ortsansässige, dass er lange Zeit nach Lidia Platonowna gesucht, sie jedoch nicht gefunden hätte. Die Zeit verstrich, es kam das Jahr 1953 und in allen Höfen Angutichas verbreitete sich die Neuigkeit, dass Stalins Braut bei den Verwandten zu Besuch wäre – die Frau, die er geliebt hatte. Sie war nicht alleine gekommen, sondern zusammen mit ihrem Sohn, den alle Stasik nannten. Ich war ebenfalls dort und habe sie und ihren Sohn mit eigenen Augen gesehen – eine sehr schöne Frau, groß, stattlich, mit vollem, taillenlangem, zu Zöpfen geflochtenem Haar; und Sohn Stasik war meiner Meinung nach – eine leibhaftige Kopie J.Ws. Ja, so ist das, so ist das Leben…. Nachdem sie eine Zeit lang zu Gast gewesen war, fuhr sie wieder ab, und ihre Spuren verlieren sich irgendwo in Norilsk, und einige Leute bestätigen, dass sie wohl nie geheiratet hat…“
„In Anguticha stellte man uns ein ärmliches Haus zur Verfügung. Wir hatten ein ganz schlechtes Leben dort, aber eins wussten wir genau: man musste arbeiten, und nur dann, wenn du arbeitest, wirst du auch überleben. Denn es litten nicht nur die Deutschen, sondern gleichermaßen auch die Russen, die genau so viel durchmachen mussten wie alle anderen. Das war eben damals so eine Zeit…“. Aber alles wäre nicht so schlimm gewesen, wenn nicht der Vorsitzende der Kolchose in Anguticha ein derart bösartiger Mann gewesen wäre. Er hieß Aleksander Samoilow. „Im Norden hatten wir einen schlechten Vorsitzenden, er kränkte uns und hegte nicht die geringste Absicht uns irgendwie zu helfen. Alle hatten ein schweres Leben, nicht nur die Deutschen, aber für den Vorsitzenden waren Deutsche und Faschisten ein- und dasselbe. Er machte da keinen Unterschied. Deswegen gab man uns immer die schwersten Arbeiten und kürzte uns zudem noch die Essensration. Die Mutter steckten sie in die Holzbeschaffung, die Großmutter war vom Hunger gelähmt und dadurch ans Bett gefesselt. Der jüngste Bruder meiner Mutter, Onkel Jakob, wurde für die Fischbeschaffung eingeteilt. Aber selbst wenn er das Plansoll erfüllte, verlangte der Kolchosvorsitzende von ihm noch mehr Fische. Einmal zog Onkel Jakob zusammen mit drei Helfern bei schlechtem Wetter los, um den Befehl auszuführen – und keiner von ihnen kehrte zurück. Am Morgen des folgenden Tages fand ein Mädchen, eine der Arbeiterinnen, den Hirten. Das Mädchen war halb tot und stieß mit seinem letzten Atemzug hervor: „Er soll verflucht sein!!!!“ Den Deutschen wurde die Ration gekürzt, und es kam häufig vor, dass eine große Familie lediglich die halbe Norm erhielt; wenn sie dann von der Ausgabestelle zurückkamen, hatten sie Tränen in den Augen, denn sie wussten, dass sie ihre Angehörigen auf diese Weise nicht durch bringen konnten. Mehr als die Hälfte aller Deutschen starb den Hungertod…“
Jeder versuchte irgendwie zu überleben; anstatt auf Matratzen schliefen sie auf mit Heu ausgestopfter Sackleinwand; wenn das Heu noch frisch war, strömte es einen angenehmen Duft aus. Man sagt, dass der Teufel in der Not Fliegen frisst, und das ist tatsächlich so. Für das geringfügigsten Verfehlungen wurden die Rationen gekürzt, aber die Familie war groß, und jeder wollte doch nur, dass die Kinder am Leben blieben. „Wir durchstöberten den Müll, um Schalen und Abfälle heraus zu sammeln; die Mutter wusch alles sauber und briet oder kochte es dann auf dem Ofen. Die gelähmte Großmutter war ans Bett gefesselt. Zur Mittagszeit schoben Schwesterchen Ira und ich einen Schemel an ihr Bett. Dann brach sie für uns stückchenweise vom Brot ab, und das Schwesterchen, das gerade einmal vier Jahre alt war, gab mir die Hälfte. Klein-Irotschka wurde krank und starb schließlich an Unterernährung…“. Erst nach Kriegsende wurde das Leben etwas leichter, der Vorsitzende wurde abgelöst, und Maria Jakowlewna von der Holzbeschaffung als Melkerin auf den Viehhof versetzt.
Einmal schickten sie ins Dorf Anguticha drei politische Häftlinge, die nach § 58 verurteilt worden waren: einer von ihnen war Lette, ein hervorragender Arzt, ein Ukrainer, von Beruf Rechnungsführer, und E.Js zukünftiger Stiefvater – Wasilij Fjodorowitsch Dergatsch. Unweit von Anguticha befand sich ein Tierzucht-Betrieb, zu dem man E.Js Familie bald darauf, im Jahre 1952, verlegte. Wasilij Fjodorowitsch war anfangs als ungelernter Arbeiter beschäftigt; später wurde er Pferdepfleger.
Der Stiefvater – Wasilij Fjodorowitsch – war ein Mann von meisterhaftem Geschick und wirtschaftlichem Denken, jegliche Arbeit, die er in die Hände nahm, gelang. Deswegen bauten sie sich ein Haus, schafften sich einen Haushalt und hielten eine Kuh. Erst hier konnten sie sich mit Brot wieder satt essen; es war ein großes Glück, dass sie es nun dreimal am Tag zu sich nehmen konnten.
Die Schule besuchte E.J. nicht sehr lange, insgesamt durchlief sie nur 4 Schulklassen; danach begann sie sofort zu arbeiten – sie transportierte Wasser. „Ich war damals noch nicht einmal 14 Jahre alt, als ich anfing zu arbeiten; ich transportierte mit Pferden Wasser in Zwanzig-Liter-Fässern. Für meine Tätigkeit erhielt ich 150 Rubel im Monat“.
Über das Schicksal ihrer Tante Sophia Jakowlewna Braun berichtet E.J. folgendes: „Meine Tante heiratete einen gewissen Moskalenko und die beiden zogen nach Turuchansk. Dort arbeitete sie in einem Kindergarten, aber die beiden Eheleute lebten nicht lange zusammen – sie ließen sich scheiden. Meine Tante war schön und fleißig, und bald darauf heiratete sie ein zweites Mal – diesmal einen Deutschen namens Peter Josifowitsch Miller. Sie zogen in den Kasatschinsker Bezirk, und bei ihr wohnte ich dann auch eine Zeit lang, als ich nach Momotowo kam, um eine Ausbildung zum Fahrer zu machen. Aber die Schulbildung reichte nicht aus; ich hatte ja nur vier Klassen absolviert, benötigte aber sieben. Deshalb beendete ich die Traktoristen-Kurse, arbeitete dort die vorgesehene Zeit von drei Jahren in der Kolchose ab; aber der Norden ist meine wahre Heimat, und so fühlte ich mich von meinen heimatlichen Gefilden so stark angezogen, dass ich nach Hause zurück kehrte, in den Tierzuchtbetrieb… Und erst als dieser sich nicht mehr rentierte und auseinander fiel, zogen wir nach Jenisejsk um“.
Mit viel Wärme und Liebe erinnert sich E.J. an den Turuchansker Bezirk: an die Orte, die so reich an Wild, Beeren, Pilzen und Fisch sind; an die gastfreundlichen und gutmütigen Menschen, die fähig waren, einem Fremden, Unbekannten Essen und Wärme zu geben. Außerdem prägte sich die Kultur dieses Bezirks in E.Js Herz und Seele ein. Als er noch ein Kind war, lief er ins Kino, das einmal pro Woche mit einer Filmvorführung aus der Bezirkshauptstadt kam. Seine Liebe zur Kinematographie war riesengroß, so groß, dass sogar Temperaturen von minus 50 Grad ihn nicht zu Hause halten konnten. Ausgerechnet hier sah er Filme, an die er sich bis heute erinnert, die er bis heute liebt; aber am liebsten mochte er: „Die Karnevalsnacht“, „Heirat mit Mitgift“, „Herr Vierhundertzwanzig“, „Der Vagabund“. Ständig ging der Motor kaputt – mitunter dauerte eine Filmvorführung vier Stunden; die Kinomechaniker waren noch jung und unerfahren; dann musste ein Nachbar gerufen werden, damit der die Sache wieder in Ordnung brachte“. Aber nicht nur das Kino begeisterte E.J., das kleine Jungchen hegte auch eine Liebe zur Musik. Und alles begann, nachdem ein Volksmusik-Ensemble ins Dorf gekommen war und ein Konzert gegeben hatte. Wie verzaubert blickte E.J. auf die flinken Finger des Harmonika-Spielers, wie sie Tasten anschlugen, und als die Musikanten schließlich wieder abfuhren, lief Eduard Jakowlewitsch ganz bis zum Fluss hinter ihnen her und sah ihnen noch lange nach, als das Boot sie immer weiter davon trug. Und der Klang der Harmonika und der Gesang eines russischen Liedes wurden zu ihm hinübergetragen, das für immer sein Lieblingslied werden sollte:
„Was stehst du, dünne Eibe,
Dich schwingend hin und her,
Den Kopf gesenkt fast bis zur Erde…“
Lange Zeit träumte E.J. davon, selbst einmal das Spiel auf der Harmonika zu lernen, und als der Stiefvater das schließlich bemerkte, kaufte er ihm ein solches Instrument. E.J. brauchte lange, bis es ihm endlich gelang darauf zu spielen, er musste viel üben. Und als er den Bogen plötzlich heraus hatte,, da klappte es so gut, dass hinterher auch noch ein Bajan und ein Akkordeon gekauft wurden. E.J. brachte sich alles selber bei, und jetzt greift er in traurigen und fröhlichen Minuten immer zu seiner Harmonika, denn die Musik hilft ihm in seinem Leben. Über sein musikalisches Talent äußert er sich recht bescheiden, wobei er noch den Satz hinzufügt: „Ich spiele nur für mich, den Autodidakten, selber, schließlich bin ich ja nicht Pjotr Dranga (bekannter Akkordeonspieler; Anm. d. Übers.). So einer ist er also, ein ungewöhnlicher Mensch, der in unserer Stadt lebt, vieles durchgemacht hat, aber nie den Glauben an die Menschen, die Reinheit der Seele verlor… Und das ist die Hauptsache…
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken