Arthur Adamowitsch Scheffer wurde am 24. März 1929 im Pallasowsker Bezirk, Gebiet Saratow, Ortschaft Pallasowka, geboren. Die Familie bestand aus sechs Personen. Als sie noch in Pallasowka wohnten arbeitete der Vater, Adam Friedrichowitsch Scheffer, als Milizionär, die Mutter, Maria Christianowna, die aus dem Gouvernement Wolhynien, Gebiet Schitomir, stammte, war im Krankenhaus tätig; sie hatten vier Kinder – Adina und Alma waren Zwillinge, Arthur und Erna, das jüngste Kind.
1935 zogen sie in die Ukraine um und wohnten dort im Gebiet Dnjepropetrowsk, in der Kolchose „Ukraine“.
1937 gingen sie wieder zurück, blieben aber diesmal an der Bahnstation Gmelinka. Es war eine große Station, Straßennamen und Aushänge in den Geschäften waren alle zweisprachig, auf Russisch und Deutsch. Eine Kirche gab s im Ort nicht. Man sprach sowohl Deutsch als auch Russisch. Es gab zwei Schulen: eine russische und eine deutsche. Arthur Adamowitsch lernte an der deutschen Schule. Das Leben fügte sich so zusammen, dass er lediglich vier Schulklassen absolvieren konnte.
Aus seiner relativ sorglosen Kindheit erinnert A.A. noch, wie im Sommer alle Schüler in der Kolchose arbeiteten: sie brachten das Heu ein, jäteten Unkraut … Sie lebten dort während der Woche in Zelten, samstags und sonntags gingen sie nach Hause. Und in ihrer Freizeit versammelten sie sich auf einem unbebauten Platz und spielten Schlagball, Städtchen und Fangen und knackten dabei Sonnenblumenkerne.
Sielebten ihr Leben, ohne darüber nachdenklich zu werden, welcher Nationalität sie angehörten, sprachen ein Gemisch aus Russisch und Deutsch und verstanden einander häufig auch ganz ohne Worte. Und sie waren glücklich, denn sie waren Kinder. Ja, und die Erwachsenen, Russen wie Deutsche, dachten, wenn sie die Ehe miteinander eingingen, überhaupt nicht darüber nach, welcher Nationalität ihre Kinder sein würden. (Im Übrigen richtete sich die Nationalität im Ausweis nach der des Vaters).
Nachdem sie 1937 nach Gmelinka gekommen waren, bauten sie ein Haus aus ungebrannten Lehmziegeln, denn dort gab es nur wenige Bäume; das Haus war nicht sonderlich groß (Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer) und hatte die Form des russischen Buchstabens „Ó. A.A. erinnert sich daran, „ dass es für gewöhnlich in dieser Gegend im Winter heftige Schneefälle gab, besonders im Februar, und deswegen achteten sie beim Hausbau darauf, dass sich die Tür nach innen öffnen ließ. Gelegentlich kam es auch vor, dass das Haus bis zum Dach hinauf mit Schnee zuwehte und nur noch ein einziger Schornstein zu sehen war. Aus diesem Grund wurden die Dächer nicht mit Stroh oder Holz gedeckt, sondern bestanden ebenfalls aus ungebrannten Lehmziegeln. Aber es kam nicht mehr dazu, dass der Vater lange in diesem Hause lebte. Im Herbst zogen wir dort ein, und im Monat März trugen sie ihn hinaus, um ihn zu beerdigen. Die letzte Zeit arbeitete der Vater als Wärter beim Bezirksexekutiv-Komitee, davor war er Milizionär gewesen. Einmal, als er Menschen vor dem Feuer aus einem brennenden Haus rettete, atmete er Schwefel ein und war danach viele Jahre krank; er siechte langsam dahin und starb schließlich“.
Sie waren nicht reich, besaßen nur ein einziges Stück Vieh – ein Zicklein. Die Mutter wurde im Mai 1941 eingesperrt, sie bekam ein Jahr aufgebrummt; warum – das ist nicht bekannt. (Trotzdem gelang es mir unter großen Mühen bei A.A. herauszufinden, weshalb ihre Mutter ins Gefängnis kam. 1941, im Mai, wurde Maria Christianowna Rose verhaftet, weil sie aus der Kantine für ihre kleinen, hungernden Kinder ein Stückchen Butter mitgenommen hatte. Die Behörden hatten damals nicht darüber nachgedacht, dass nun vier Kinder ohne Mutter zurückblieben. Zuerst brachten sie sie zur Bahnstation Besymjanka; sie wurde zu einem Jahr verurteilt – die Strafe verbüßte sie in Nowosibirsk. Dorthin schrieb A.A. ihr Briefe und erhielt zur Antwort: abgemeldet, Verbleib unbekannt. Er vermutet, dass sie 1942 in die Trudarmee eingezogen wurde. Arthur Adamowitsch weiß somit bis zum heutigen Tage nichts über das Schicksal seiner Mutter.
Aber die Tante – Emilie Christianowna Schmal, gab die vier Kinder, die nun als Waisen zurückblieben, nicht ins Heim, obwohl sie zu dem Zeitpunkt selber vier Kinder hatte. Der Onkel hieß Andrej Filippowitsch Schmal.
Im Herbst, im August 1941, wurde ihre Familie, wie alle anderen Wolga-Deutschen auch, deportiert. „Sie sagten. – so erinnert sich A.A., - dass wir keine schweren Dinge mitnehmen sollten, aber da wir ganz dicht an der Bahnstation wohnten, besaßen wir die Möglichkeit, noch schnell nach Hause zu laufen und noch ein paar Sachen einzupacken. Wir nahmen Kissen, Wäsche, Kleidung, Bettwäsche mit“.
Am 3. September wurde die Familie auf einen Zug verladen und in Güterwaggons abtransportiert. Die Fahrtroute führte durch Kasachstan. Einmal innerhalb von vierundzwanzig Stunden bekamen sie eine warme Mahlzeit, meistens Suppe, ein wenig Brot; als Toilette diente ein Eimer, der hinausgetragen wurde, wenn der Zug auf einem Bahnhof hielt. Todesfälle gab es während der Fahrt nicht“. In Krasnojarsk trafen sie am 14. Oktober ein, wo sie an der Station „Jenisej“ hielten. Im weiteren Verlauf verfrachtete man sie auf einen Lastkahn, der sie innerhalb von drei Tagen bis in das Dorf Juksejewo brachte. Danach wurden sie mit Fuhrwerken (jeweils zwei Familien auf einem) auf die umliegenden Ortschaften verteilt.
Die Familie Schmal, und mit ihr auch Arthur Adamowitsch, gerieten in das Dorf Studenowka im Bolschemurtinsker Bezirk, wo sie um fünf Uhr morgens eintrafen. Zunächst wurden sie im Gebäude der ehemaligen Schule untergebracht. Die Ortsbevölkerung verhielt sich sehr gut gegenüber d3en Neuankömmlingen, vielleicht auch deswegen, weil es in diesem Dorf lediglich zwei russische Familien gab, bei allen anderen handelte es sich um Litauer, Esten… Arthur Adamowitsch erinnert sich: „Als wir am Morgen des folgenden Tages erwachten, stellten wir äußerst verwundert fest, dass die Ortsansässigen uns alle erdenklichen Lebensmittel gebracht hatten – Fleisch, Milch und auch Kartoffeln“.
Aber es war der Familie nicht lange vergönnt, in diesem gastfreundlichen Dorf zu leben. 1942 wollte der Ehemann der Tante, Andrej Filippowitsch, nicht in der Kolchose arbeiten und beschloss in einen Industriebetrieb zu gehen. Daher musste er nach Bolschaja Murta umziehen. Und was ganz unglaublich erscheint – er nahm die gesamte Familie mit. Sie wohnten in einer Erd-Hütte, später gab man ihnen eine Wohnung. Der Onkel fand eine Stelle als Wirtschaftsleiter im Bezirkskrankenhaus, die Tante als Nachtwächterin in einer Garagenhalle. Sie lebten in ärmlichen Verhältnissen, die Kinder mussten häufig hungern. Dort, wo die Tante arbeitete, wurden nachts in den Fahrzeugen immer leere Getreide-Säcke zurückgelassen, aber es fand sich stets in den Ecken noch ein paar Körnchen. Deswegen klaubten Arthur Adamowitsch und die Tante während der Nacht aus diesen Säcken die kleinen Körnchen heraus, bis sie nach und nach ein kleines Säckchen gefüllt hatten, das Arthur dann nach Hause trug. In Bolschaja Murta fand der Onkel für Arthur eine Stellung als Wasserfahrer. Der Junge brachte das Wasser mit Pferden zur Krankenhaus-Küche. Die Frauen, die dort arbeiteten, hatten Mitleid mit dem Jungen, und wenn Arthur mit dem Wasser angefahren kam, gaben sie ihm eine Schüssel Suppe, und während er aß, füllten sie schon selber das Wasser um. Zum Lernen reichte weder die Kraft noch die Zeit, denn er musste auch noch in den Wald, um Brennholz zu holen, und nachts mehrmals zur Tante in die Garagenhalle laufen. Mit Bitterkeit erinnert sich A.A., wie seine Schulzeit zu Ende ging: „Ich weiß noch, wie sie mir in der Kolchose Filzstiefel aushändigten, meine Freude kannte keine Grenzen. Nor konnte ich nicht lange mit diesem neuen Schuhwerk herumlaufen. Als die älteste Schwester – Adina – 1943 in die Trudarmee (Choltoson, Burjatien) eingezogen wurde, zog sie mir die Stiefel direkt von den Füßen, und danach ging ich dann auch nicht mehr zur Schule“.
Bald darauf wurde das Leben ganz unerträglich, und der 13-jährige Arthur ging, zusammen mit seiner jüngeren Schwester Erna, von Dorf zu Dorf und bat um Almosen. Manch einer gab ihnen ein Stückchen Brot, andere ließen sie am Tisch niedersitzen und gaben ihnen dort zu essen. Irgendwie hatten sie Glück: es gelang Erna, sich als Hausmädchen beim Briefträger zu verdingen, während Arthur als Hirte arbeitete. A.A. erinnert sich: „Ich weiß noch, wie wir die Milch aus dem Euter der Kuh direkt in unseren Mund molken. Wie hätten wir es auch anders machen sollen? 1945 ging der Krieg zu Ende, die Leute kehrten nach und nach zurück, und die Notwendigkeit Hausangestellte zu beschäftigen entfiel. Und da zogen wir wieder los, um uns in den Dörfern mit Betteln durchzuschlagen.
Zum Winter waren wir schlecht gekleidet, besonders Schwesterchen Erna (sie trug nur ein dünnes Röckchen und besaß noch nicht einmal Strümpfe, dabei hatten wie bereits Dezember, und es war schrecklich kalt). Im Winter 1946 gingen wir bis nach Jenisejsk. Wir gehen den Weg entlang, und das Schwesterchen bleibt immer wieder stehen und weint ununterbrochen. In einem Haus baten wir um ein Nachtlager, und dort entdeckten wir dann auch, dass Ernas Füße erfroren waren. Der Dorfratsvorsitzende besaß Gänse, und Arthur begab sich zu ihm. Er bat ihn um irgendetwas und versprach, dafür Brennholz zu hacken.
1947 arbeitete Arthur Adamowitsch als Viehwärter; zu seinen Pflichten gehörte es auch, das Vieh mit Gehäckseltem zu füttern. Arthur Adamowitsch erzählte, dass manchmal ein paar Stückchen Häcksel in den Schaft der Filzstiefel fielen, aber es waren nur ganz wenige – nur etwas staub, aber ausgerechnet dieser Staub, der in den Stiefeln hängen blieb, spielte ihm einen bösen Streich, um es genauer zu sagen: er diente als Beweisstück für eine Anklage wegen des Diebstahls von Kolchoseigentum – eben diesen gehäckselten Getreidekörnern. Das Gericht, das an Ort und Stelle in Bolschaja Murta stattfand, verkündete die Strafe ohne weitere Verhandlung – 1 Jahr. Er verbüßte die Strafe in Krasnojarsk – baute am ersten Mühlenkombinat neben dem Bahnhof, dem Radiomast in Bogutschany mit; später verlegten sie ihn in die Siedlung Sarala, danach in die Ortschaft Ladejka, wo er dann auch wieder in Freiheit gelangte.
1950 wi9ederholte sich die Geschichte: dieses Mal wurde Arthur Adamowitsch verurteilt, weil irgendjemand Kolchos-Kartoffeln gestohlen hatte. Artur Adamowitsch sagt, dass das damals so eine Zeit war – sie verhafteten jeden ohne Ausnahme, um sich nur irgendwie bei ihren Vorgesetzten einzuschmeicheln. Eines Tages kam der Kommandant zu Arthur Adamowitsch, der überhaupt nicht begriff, worum es ging, und meinte: mach dich fertig – und dann fuhren sie nach Uderejsk (im Süden von Jenisejsk), niemand gab eine Erklärung ab, warum und weshalb sie ihn verhafteten und wohin sie ihn brachten. Er bekam 8 Jahre. Seine Strafe verbüßte er an den Bauprojekten von Maklakowo – mit seinen Händen war er am Bau der Holzfabrik und des Krankenhauses in der Pirogowo-Straße beteiligt; mit Ziegelsteinen, die er auf seinen Schultern getragen hatte, wurden Häuser mit etlichen Wohnungen sowie eine Schule errichtet. Arthur Adamowitsch erinnerte sich, wie in einem Sommer in Maklakowo ein Feuer ausbrach, das innerhalb weniger Tage praktisch alle Fertigbau-Häuschen vernichtete, die mit der Handarbeit von Häftlingen gebaut worden waren; nur die Holzfabrik hatte man retten können. Mit dem ganzen Lager hatten sie zum Brandlöschen gehen wollen, um ihrer Hände Arbeit vor der Vernichtung zu bewahren. Der Chef der Konvoi-Mannschaft hatte schon seine Einwilligung gegeben, aber der Lagerleiter verbot es, er hatte Angst, dass die Gefangenen fliehen würden. Die armen Leute blickten mit Tränen in den Augen darauf, wie ihre mit so viel Mühen geleistete Arbeit Opfer der Flammen wurde…. 1953 gab es eine Amnestie, und Arthur Adamowitsch wurde aus der Inhaftierung freigelassen.
Viele lange Wege und Entbehrungen hat es in A.A. Scheffers Leben gegeben… 1974 traf er in Jenisejsk ein, fand eine Arbeit beim SPK, wo er bis zu seinem Renteneintritt blieb.
Heute, wenn er auf all seine Lebensjahre zurückblickt, hält Arthur Adamowitsch das, was mit seinem Volk 1941 geschah, für eine grausame Ungerechtigkeit und einen schrecklichen Fehler. „Das war echte Schädlingstätigkeit: wie viele Kolchosen wurden damals im Wolga-Gebiet liquidiert, wie viel Vieh und Getreide gingen verloren.. Und das Schicksal der Menschen? Wie soll man diesen gewaltigen Schmerz ermessen? Womit ihn heilen? Wir Deusche hätten weitaus größeren Nutzen gebracht, wenn man uns in unserer historischen Heimat gelassen hätte“.
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken