Alexander Lwowitsch (Sohn von Leo) Schnaider (geb. 1938) wurde in der Familie eines Kolchosarbeiters geboren. Sein Vater hieß Leo Karlowitsch Schnaider, seine Mutter Amalie Petrowna Schnaider (geb. 1916).
Vor der Deprtation lebte er zusammen mit den Eltern an der Wolga – in der Ortschaft Blumenfeld („Zwetnoje“), Bezirk Gmelin, Gebiet Wolgograd. Außer ihm gab es in der Familie ein weiteres Kind – sein Zwillingsbrüderchen. Als es starb, war er gerade drei Monate alt. Sie besaßen ein großes Fünfwand-Haus, auf dessen Dachboden Weizen gelagert wurde, der für die ganze Familie für 3-4 Jahre gereichet hätte, um ihnen ein wohlgenährtes Dasein zu sichern. Sie verfügten über eine Kuh, ein paar Hammel, Gänse, Enten. Es gab auch einen großen Garten, in dem verschiedenen Obstbäume gediehen.
Als die Deportation verkündet wurde, war Alexander Lwowitsch drei Jahre alt, so dass er von den Ereignissen jener Tage hauptsächlich aus Erzählungen seiner Mutter Amalie Petrowna weiß. Sie berichtete ihm, dass man ihnen befahl, sich innerhalb von 24 Stunden zur Abfahrt fertig zu machen; der gesamte Haushalt wurde inventarisiert, alles genau aufgeschrieben, und man sagte ihnen, dass sie bei Ankunft an Ihrem neuen Wohnort alles ersetzt bekämen. Aber sie erhielten überhaupt nichts zurück. Es gelang ihnen, ein kleines Bündel mit Kleidung und Kinderwäsche mitzunehmen und natürlich das Wichtigste – ihre zukünftige Ernährerin, eine Nähmaschine der Marke „Singer“, die auch heute noch ehrerbietig in Alexander Lwowitschs Haus als Familienrelikt aufbewahrt wird.
Die Ankündigung von der Deportation kam völlig überraschend – wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie fuhren ins Unbekannte, niemand wusste, was weiter mit ihnen geschehen würde. Wie würden sie so weit von ihrem eigenen Zuhause entfernt leben?
Sie wurden in „Kälber“-Waggons abtransportiert; die Menschen begriffen nicht, wohin man sie brachte und warum. Unterwegs bekamen sie nichts zu essen, und um zu überleben tauschten die Familien ihre Sachen gegen Brot ein. Zuerst schickten sie die gesamte Familie in die Ortschaft Aleksandrowka, im Bezirk Berjosowka, Region Krasnojarsk. Von dort holten sie Leo Karlowitsch, den Vater des kleinen Sascha, in die Trudarmee, obwohl er lungenkrank war. Und so kehrte der Vater auch nicht wieder zurück. Die Mutter wurde 1942 mit dem kleinen Sascha noch weiter fort geschickt – in den Norden. Und diesmal gerieten sie ins Tajmyr-Gebiet, Bezirk Dudinka, Ortschaft Nikolksoje. Gemeinsam mit ihnen schickten sie auch die Schwester des Vaters dorthin – Tante Lida Schnaider.
„Sie war sehr lese- und rechtschreibkundig und hatte in Blumenfeld al Lehrerin gearbeitet. Sie war genau wie wir an die Meldepflicht in der Kommandantur gebunden. Von dem schweren Leben müde geworden beschloss sie zu fliehen, aber sie wurde gefasst und in einem kalten, ehemaligen Badehaus eingesperrt. Dennoch gelang es ihr von dort fort zu laufen. Sie wurde nicht gefunden und man ging davon aus, dass sie in die Taiga geraten und erfroren war. Aber unlängst erfuhren wir, dass sie in die Region Tscheljabinsk geriet, in die Kolchose Bjelonosowo, und ihren Nachnamen in Miller abänderte; sie arbeitete dort in einer Kolchose als Brigadeleiterin.
Bis nach Nikolskoje fuhren sie mit einem großen Raddampfer, nach den Erinnerungen der Mutter dauerte die Fahrt nicht lange – insgesamt 3 Tage“.
Bei ihrer Ankunft wurden die Deportierten in Baracken untergebracht, in denen zuvor Häftlinge gewohnt hatten, aber die hatte man nach Norilsk geschickt. Die Ortsbewohner, Tungusen und Ewenken, hatten schreckliche Angst vor ihnen, aber später kamen die Beziehungen zwischen den Menschen nach und nach ins Lot. In den Baracken herrschten grauenvolle Bedingungen: es war darin so eisig kalt, dass einem beim Atmen weißer Dampf aus dem Mund quoll, auf den Tischen gefroren das Brot und die dort liegenden Lappen. Brennholz gab es nicht; sie versuchten es sich selber zu beschaffen; das war äußerst schwierig, denn sie waren ja alle entweder Frauen oder Kinder. Aber irgendwie musste man ja leben! Deswegen gelang es ihr bei den Ortsansässigen eine Säge auf zu treiben; später bauten sie aus eigener Kraft Häuser, bis schließlich eine kleine Siedlung entstand.
Gerade durch die fleißigen Hände deutscher Frauen wurde die Kirow-Kolchose gegründet. Die Arbeit war sehr hart. Wenn Amalie Petrowna das Haus verließ, um ihren Arbeitsplatz aufzusuchen, nahm sie auch ihren kleinen Sohn mit, denn es gab niemanden, bei dem sie ihn hätte lassen können. Anfangs holten sie die Deutschen zur Fischbeschaffung, wobei man sie zwang, nur die großen, dicken Fische zu fangen, während sie die kleineren zurück ins Wasser werfen mussten. Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen, und deswegen aßen sie diese kleinen, noch lebenden Fischchen, wenn niemand hinschaute, noch während der Arbeit auf dem Eis – sogar im Mund zappelten sie noch.
Nachdem die Kolchose gegründet worden war, arbeitete Amalie Petrowna zuerst als ungelernte Arbeiterin, sie mistete den Stall aus, fütterte das Vieh, transportierte Wasser. Und der Sohn half ihr. Alexander Lwowitsch erzählte, dass strenger Frost herrschte, manchmal bis -50°C. Gerade erst hatte man ein Eisloch gehackt – da war es auch schon wieder zugefroren; eben füllt man den zweiten Eimer mit Wasser, da ist der erste bereits mit einer Eisschicht bedeckt. In der Kolchose gab es einen Bullen; er war sehr bösartig und aggressiv, und alle hatten Angst sich mit ihm abzugeben, aber Amalie Petrowna kümmerte sich um ihn auf eigene Gefahr. Man arbeitete gegen Anrechnung von Tagewerken, Geld gab es nicht; aber für gewöhnlich erhielten sie für die geleistete Tagesarbeit Ölkuchen und ein wenig Mehl. Die Mutter häkelte Spitzen und nähte Kleidungsstücke – und die verkaufte sie dann.
In Nikolskoje besuchte Alexander Lwowitsch die Grundschule von der 1. Bis zur 4. Klasse, aber es war ihm nicht möglich, danach weiter zu lernen. Es war sehr schwierig, wenigstens die Kinder irgendwie zu ernähren; in der großen Schulpause bekam jeder ein Stückchen Brot, das mit Zucker oder Salz bestreut war. Schulhefte gab es kaum, lediglich an Feiertagen wurden sie in der Schule ausgegeben, aber die meiste Zeit schrieben die Kinder auf zusammengenähten Zeitungen.
„Die Tinte lief auseinander, wir wurden ausgeschimpft, mussten in der Ecke stehen; ich kann mich auch heute noch ganz genau an meine Lehrerin Anna Jefimowna erinnern. In der Siedlung wurde ein Klubhaus errichtet, und die Jugend besuchte dort Tanzveranstaltungen, man pflegte Kontakt mit den Ortsansässigen und gewöhnte sich aneinander. Die Leute waren damals sehr freundlich und halfen sich gegenseitig aus aller Not“.
Als Alexander Lwowitsch 11 Jahre alt wurde, holte man ihn zum Arbeiten in eine Fischfang-Brigade. Natürlich wurde ihm das Tagessoll nicht vollständig angerechnet, sondern nur die Hälfte. Aber auch das war für die Familie eine gute Unterstützung. Wenn man einen Stör erwischte und er nicht vom Schwanz bis zur Schnauze 72 cm maß, mussten sie ihn ins Wasser zurückwerfen, sonst hätte das als ungesetzlicher Fang gegolten. Es gab ein staatliches Plansoll; wenn man die vorgegebene Norm nicht erfüllte, dann kürzte man die anzurechnenden Tagewerke, und das hieß – hungern. Wenn man es schaffte, konnte man ab und an Fisch mit nach Hause nehmen. Als im Frühjahr das erste Schiff vorüberglitt, schwammen sie heran, besprachen sich mit dem Kantinenpersonal, und dann wurde Fisch gegen Kartoffeln eingetauscht, denn Kartoffeln wachsen im Tajmyr-Gebiet nicht.
Nach Alexander Lwowoitschs Worten, war der Fluss für sie der wahre Ernährer. Alexander Lwowitsch konnte sich noch an einen Vorfall erinnern. Im Jahre 1955 kam die „Rodina“ und hatte hinter sich 12 Lastkähne im Schlepptau. Diese ganze Schiffskarawane erinnerte an einen Zug. Beladen waren sie mit Lebensmitteln und Kleidung für Norilsk und Dudinka. Aber während eines heftigen Sturms wurden all diese Kähne schwer beschädigt und ans Ufer geworfen, so dass schließlich die gesamte Ladung auf dem Fluss schwamm. Wenn man Glück hatte, gelang es einem hin und wieder am Ufer eine Dose mit eingewecktem, geschmortem Fleisch, Kondensmilch oder Erdnüssen zu finden, sogar Kleider oder einen Mantel. Es versteht sich von selbst, dass die Finder ihre Fundstücke mit nach Hause schleppten. Alexander Lwowitsch fand einen ganzen Packen Kleider, den er müde und glücklich mit großer Mühe zur Mutter heimtrug. Sie war sehr erschrocken, hatte Angst, dass man die Sachen finden und sie dafür einsperren würde. Dann nahm sie zwei Waschschüsseln, legte die Kleider hinein, deckte sie mit der zweiten Schüssel ab und vergrub alles im Stallmist. Manch ein anderer versteckte das, was er gefunden hatte, im Wald; es kam vor, dass es gefunden wurde und man es ihnen durchgehen ließ und ein Auge zudrückte.
Als die Familie 1957 nach Kasachstan abfuhr, blieb dieser Kleiderballen dort zurück. „In Kasachstan arbeitete ich in einer Traktoren-Brigade. Dort bekam ich zum ersten Mal Geld zu sehen. In der Stadt Uralsk machte ich eine Chauffeur-Ausbildung und begegnete dort auch meiner besseren Hälfte – Emma Alexandrowna“.
Ausweise gab es nicht, stattdessen hatten sie sogenannte „Wolfspässe“ – einfach ein weißes zusammenklappbares Heftchen, das für 6 Monate gültig war und dann ausgetauscht wurde, und als sie 1957 aus dem Hohen Norden nach Kasachstan abreisten, erhielten sie einen Pass. Zuerst nur für 3, später für 5, dann für 10 Jahre. Es war ihnen nicht verboten Deutsch zu sprechen, und so benutzte Alexander Lwowitschs Mutter diese Sprache bis ans Ende ihrer Tage; Russisch konnte sie nur sehr schlecht. Oft sang sie deutsche Lieder.
1967 zog die Familie Schnaider in die Stadt Jenisejsk, wo sie auch heute noch lebt. Aber die Gedanken an die ferne Heimat, jene Heimat, die er im Alter von 3 Jahren verließ, an die er sich überhaupt nicht erinnern kann, die er nie kennengelernt hat, lebten in seinem Herzen weiter. Und einmal, als er zufällig in Moskau war, beschloss er, zusammen mit der Mutter nach Blumenfeld zu reisen. Die Mutter ging durch das Dorf und konnte es nicht wieder erkennen. „Ungepflegt sah es aus, verkommen, von niemandem gewollt, und man merkte, dass es dort keine Bewohner gab, dass das ganze Dorf verwaist war, und unser Haus gab es schon lange nicht mehr“. „Aus heutiger Sicht erscheint mir alles, was damals geschehen ist, äußerst grauenvoll und ungerecht, und so sind sie nicht nur mit den Deutschen umgegangen, sondern auch mit den Kalmücken und anderen Völkern. Möge Gott darüber wachen, dass sich all das nicht wiederholt, möge er verhindern, dass unsere Nachfahren so etwas auch einmal am eigenen Leibe erfahren“.
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken