Adolf Franzewitsch wurde 1923 im Gebiet Saratow, in dem Dorf Rohleder geboren. Der Vater, Franz Johannowitsch war Dorfratsvorsitzender, die Mutter, Rosa Konradewna Paul, Hausfrau. Die Familie war groß, denn neben ihren eigenen sechs Kindern – Roman (geb. 1917), Pauline (geb. 1914), Leo (geb. 1922), Adolf (geb. 1923), Eduard (geb. 1926) und Olga (geb. 1932) – zog Franz Johannowitsch auch noch die Kinder (Alexandra und Alberta) seines früh verstorbenen Bruders Josef auf. Auch ihre Mutter Barbara gehörte dazu. 1932 zog Adolf Franzewitschs Familie ins Moskauer Gebiet.
Als sie mit ihrer ganzen großen, aus 22 Personen bestehenden Familie in Moskau eintrafen, stießen sie sogleich auf Schwierigkeiten – niemand wollte F.J. einstellen. Schließlich war er mit 11 nicht arbeitenden Familienmitgliedern angekommen. In diesen zwei Monaten in Moskau fingen die Kinder an Hunger zu leiden, und man brachte sie schließlich in einem Kinderhort unter. Da bot man auch F.J. einen Arbeitsplatz in einer Moskauer Vorort-Kolchose an (an ihre genaue Bezeichnung kann der von mir Befragte sich nicht mehr erinnern), die unweit der Bahnstation Roschdestwenskaja gelegen war. Dort richteten sie sich recht gut ein, hatten keinen Hunger mehr – man gab ihnen jeden Tag zwei Eimer voll Milch. A.F. erinnert sich, das sie damals sogar Marmelade aßen. Adolf Franzewitschs Vater war ein vielseitiger Meister – Tischler, Zimmermann, Schmied. Für den Vorsitzenden der Kolchose, in der er tätig war, baute er, als diesem ein Kind geboren wurde, einen Schlitten mit einem Korb aus Weidenruten – das ergab einen schönen Kinderwagen. In der Kolchose gab es einen Pferdestall, und einmal brach sich einer der Hengste ein Bein, so dass das Tier geschlachtet werden musste. Franz Johannowitsch brachte den Vorsitzenden auf den Gedanken, aus dem Fleisch Wurst herzustellen und diese anschließend zu verkaufen. Als die Wurst fertig war, brachte F.I. sie nach Moskau und schaute zuerst bei seiner ältesten Tochter Pauline herein (sie arbeitete als Hausangestellte beim Direktor der Zuckerfabrik, dessen Nachnamen A.F. nicht mehr weiß). Die Wurst gefiel der Hauswirtin dermaßen gut, dass sie alles auf einmal kaufte und das Geld überwies. Kurz darauf wurde Franz Johannowitsch befördert und in eine andere Kolchose versetzt. Aber dort wohnten sie nicht lange – insgesamt lediglich ein Jahr. Und im Jahr 1933-1934 nahm man ihnen aus nicht bekannten Gründen die Ausweise fort und schickte sie zurück an die Wolga. Im Wolgagebiet herrschte zu der Zeit eine schreckliche Hungersnot: „Die Menschen starben wie die Fliegen“. Und bei dem kleinen Adolf prägte sich eine Episode besonders tief im Gedächtnis ein: „Sie gingen zum Saratower Bahnhof, und ringsherum lagen Menschen nebeneinander, streckten die Hände aus und baten um ein paar Wassermelonen-Schalen – sie aßen sie an Ort und Stelle auf…“
Die Familie richtete sich in der Stadt Engels ein und machte aus einem Speicher ein großes Haus. Nach und nach schafften sie sich ihren Haushalt an und lebten sich ein. Franz Johannowitsch hatte zwei Arbeitsstellen: tagsüber war er als Tischler tätig, nachts als Wächter. Die Familie hielt 40 Hühner, 2 Ziegen, 4 Zicklein, eine Kuh und ein Schwein. Als die Meldung heraus kam, dass sie den Ort verlassen müssten, verkauften sie die Kuh; das Schwein wurde geschlachtet, Fleisch und Speck eingesalzen und in einer Kanne mit Fett übergossen, damit es nicht verdarb. Das solide, mit viel Liebe gebaute Haus, beschloss das Familienoberhaupt einer russischen Nachbarin mit 4 Kindern zu überlassen, aber sie konnte dort nicht lange wohnen. Schon sehr bald wurde das Haus zu einem Hospital umorganisiert. Es gelangen ihnen, die Werkzeuge des Vaters, ein Kissen, den Behälter mit dem Fleisch und Kleidung mitzunehmen.
Am 3. September 1941 fuhr der Zug mit den ganzen „Kälber“-Waggons vom städtischen Bahnhof ab; in einem von ihnen befand sich auch die Familie Schrainer. Adolf Franzewitsch erinnert sich, das die Waggontüren nicht geschlossen wurden, so dass durch den Wind sehr häufig Sachen hinausgeweht wurden. Und nachdem der Zug dann vorbeigefahren war, war die ganze Bahnstrecke von verloren gegangen kleinen Behältern, Mänteln, Kissen übersät. Als Adolf Franzewitschs Vater das sah, fertigte er eine Art Trennwand an, mit der er die Türöffnung verschloss. Im Oktober lud man die Menschen an der Bahnstation Bogotol, Bezirk Tjuchtjet aus und teilte sie für die Kolchose „Erster Mai“ ein. Die Ankömmlinge wurden im Schulhaus untergebracht. A.Fs Vater war erstaunt darüber, dass hier das Vieh unter freiem Himmel stand, während die großen Scheunen leer waren. Franz Johannowitsch schlug sofort vor sie in Kuhställe umzubauen, aber die Ortsansässigen hatten Angst, dass dem Vieh in der Wärme das Fell ausgehen könnte.
Aber schließlich wurden die Kuhställe gebaut, der Milchertrag stieg an. Für die geleisteten Tagewerke bekamen die Leute in dieser Kolchose Hafer; die Ortsbewohner hatten sich dem angepasst – sie kochten daraus Kissel (eine süß-saure Nachspeise; Anm. d. Übers.) und Grütze, aber A.Fs Mutter kannte das nicht und beschloss, gleich am ersten Tag Brot davon zu backen. Aber das Brot misslang, und alle mussten hungern. Der Hunger war der Anlass dafür, dass man die Familie Schrainer in eine andere Kolchose verlegte (A.F. weiß nicht mehr, welche Bezeichnung sie trug); dort nahm ein Deutscher namens Schemberger den Posten des Kolchosvorsitzenden ein. Hier gab man ihnen Weizen. A.F. war als Pferdepfleger tätig, zusammenmit dem Vater baute er einen Mähdrescher zusammen – und damit ging die Arbeit dann leichter vonstatten.
Im Januar 1941 wurde A.F., und mit ihm alle Männer der Familie, in die Arbeitsarmee mobilisiert und in den Kajsker Bezirk, Bahnstation Bogotol, gebracht. Die Baracken waren bereits fertig und teilweise auch schon bewohnt, aber die Mehrheit der Häftlinge lag kraftlos, an Skorbut erkrankt, danieder. Im Kajsker Bezirk gab es insgesamt 14 Lager. A.F. kam ins erste. A.F. erinnert sich, dass dort Spezialkleidung verteilt wurde – wattierte Strümpfe, Wattejacken, Schnürschuhe. In den Baracken war es kalt, sie schliefen auf zweistöckigen Pritschen. Für gewöhnlich mussten sie Arbeiten in der Holzfällerei verrichten, manchmal mussten sie Gewehrkolben für Automatik-Gewehre aus Birkenholz schneiden – 4 Stück waren die Norm. Im Sommer wurden sie bei Beschaffungsarbeiten eingesetzt – 11 Mann aus der Brigade sollten Beeren und Pilze sammeln, und A.F. gehörte zu den Pilzsuchern; an einem Tag sammelten sie zwischen 40 und 50 kg Pilze, die Norm betrug 20 kg. Insgesamt kamen so 37 Tonnen zusammen; die Pilze wurden sofort verarbeitet und in großen Fässern verschickt. Wenn man das Plansoll erfüllte, bekam man 900 g Brot, wenn man es überfüllte, dann gab es zum Mittagessen noch einen kleinen Extra-Laib von 200 g Gewicht. Abends ging man zum Brotholen in die Brotschneiderei, die Zugaben waren mit Streichhölzern angeheftet. A.F. kann sich an einen Fall von Brot-Diebstahl unter den Arbeitern erinnern. Auf dem Weg von der Brotschneiderei zur Baracke verschwanden Brotrationen, und es ging sogar so weit, dass niemand mehr losgehen wollte, um das Brot zu holen. Es stellte sich heraus, dass sich auf dem Turm ein „kluger Kopf“ bereithielt, und wenn unter ihm einer mit Brot im Arm vorbeiging, spießte dieser „Schlaumeier“ das Stückchen auf und zog es zu sich nach oben. Solche Vorfälle waren keine Seltenheit. Es kam manchmal auch vor, dass einer anstelle des Brigadeleiters die Brotration abholte und dann versuchte den Leib, der für 36 Mann gedacht war, aufzuessen. Er wurde aufgegriffen und verprügelt. Es gab auch Fälle von Desertion. Gelegentlich hieben Leute sich selber die Finger einer Hand ab, damit man sie nur nach Hause schickte. Verpflegt wurde man entsprechend seiner Arbeitsleistung. Es gab drei verschiedene Verpflegungsvarianten; in die Grütze wurde ein Teelöffel Pflanzenfett gegeben. Aufgrund der Schwerstarbeit und der unzureichenden Ernährung wurden viele von tödlich ausgehenden Krankheiten befallen, so dass während einer einzigen Nacht mehrere Menschen starben. Am Morgen wurden sie in den Anbau neben der Baracke geschleppt, am Abend wurden sie abtransportiert und in den Sumpf geworden oder unter einer Moosschicht versteckt. Der Bruder von A.Fs Mutter starb in der Arbeitsarmee an Unterernährung, und er war deswegen so schlecht ernährt, wie er rauchte und 300 g seiner Brotration für eine einzige dünne Zigarette hergab.
A.F. kehrte zusammen mit seinem Vater aus der Trudarmee in die Orschaft Mirnoje im Turuchansker Bezirk zurück, wohin seine Familie während seiner Zeit in der Arbeitsarmee gezogen war. Sie lebten in einer Erdhütte am Flussufer, einer seiner Brüder war Fischer in der Nähe von Dickson. Als der Vater sah, was das für ein Leben war, fuhr er mit dem Motorschiff „Maria Uljanowa“ nach Turuchansk. Nachdem er dort eine Arbeit gefunden hatte, holte er auch seine Familie nach. Dort gab man ihnen eine kleine Wohnung. 1944 bestellte man A.F. ins Kriegskommissariat und schickte ihn zum Arbeiten als Heizer auf das Schiff „Lesnik“ (Förster; Anm. d. Übers.). Aber es war alles nicht so einfach: das Schiffskommando ging auf Fahrt, mit ihm auch A.F. Aber in seinem Ausweis befand sich ein Stempel, der seine Bewegungsfreiheit einschränkte – er durfte sich nicht über den Bezirk Turuchansk hinaus entfernen. Und während einer Kontrolle geschah es, dass sie ihn festnahmen und erst wieder entließen, als der Direktor ihn persönlich abholte. So fuhr A.F. bis 1947 zur See. In Turuchansk war er als Pferdepfleger tätig, später als Elektriker; er baute ein kleines Häuschen und heiratete Elisabeth Alexandrowna (geb. 1919). Im Jahre 1956 zogen sie nach Jenisejsk, und nahmen beide eine Arbeit auf der Schiffswerft auf. Arbeit Franzewitsch arbeitete dort als Zimmermann. Ihre erste Wohnung erhielten sie in der Baracke N° 5 im zweiten Stock in der Kujbyschew-Straße. Sie war 40 qm groß, es gab keine Trennwände. Alle Wände waren mit Wanzen und Kakerlaken und erinnerten an einen lebendigen Teppich. Sie beseitigten das Problem, indem sie die Wände mit DDT in Pulverform weißten. 1957 begannen sie ihr eigenes Haus zu bauen, in dem A.F. bis zum heutigen Tage lebt; sie schafften sich nach und nach ihr Haushaltsinventar an und hielten eine Kuh. A.F. wurde zu einer Industriekolchose versetzt, die sich arg im Rückstand befand, weil sie das Plansoll nicht geschafft hatte. Er leitete die Zimmermannsbrigade und arbeitete dort bis zur Rente. Adolf Franzewitsch ist ein äußerst fleißiger Mann; er gehört zu denen, für die Arbeit keine Erschwernis, sondern vielmehr Freude bedeutet. Beweis dafür sind eine Vielzahl von Auszeichnungen und Belobigungen.
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken