Lilia Genrichowna Seidenzahl wurde am 19. Dezember 1941 geboren. Elter: Mutter Emilia Christoforowna Richter (geb. 1898) und Vater Heinrich Genrichowitsch Richter (geb. 1896) arbeiteten in der Kolchose; die Familie bestand aus 9 Personen. Es gab 7 Kinder: Lydia Genrichowna (geb.1924), Erna Genrichowna (geb. 1937), Emilia Genrichowna (geb. 1919), Willi Genrichowitsch (geb. 1922), Frieda Genrichowna (geb. 1931), Ella Genrichowna (geb. 1939), und die kleine Lilia hatte noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt, denn sie wurde erst in Sibirien geboren.
Vor der Deportation lebte die Familie in der Ortschaft Schulz, im Kanton Krasnojar, Gebiet Saratow. Sie besaßen eine Hofwirtschaft: eine Kuh, ein paar Schafe, einen Garten und ein Haus mit zwei Zimmern.
Mit den Worten ihrer Verwandten ließ Lilia Genrichowna mich an den Erinnerungen darüber teilhaben, was sie damals mitgenommen haben: „Mama gelang es den Milchentrahmer einzupacken, und seinetwegen überlebten sie letztendlich auch. Sie mussten sich sehr schnell fertig machen, nahmen ein Bündel Kleidung mit und ein paar Sachen zum Essen“. Am 12. September 1941 trafen sie in Viehwaggons mit Zug Nr. 883 in der Stadt Barnaul ein, von wo die Familie Richter dann in den Pirowsker Bezirk geschickt wurde. Dort geriet sie in ein kleines Tatarendorf namens Kurennaja Oschma. „Man gab uns ein altes Häuschen; die Tataren sind ein sehr freundliches Volk, sie halfen uns. Mama arbeitete in der Kolchose, Vater war als Pferdepfleger in der Kolchose „Nowaja Pjatiletka“ tätig. Der Arbeitslohn wurde in Tagesarbeitseinheiten (Tagewerken) berechnet, und sie bekamen dafür ein wenig Getreide. Bald darauf holten sie den Vater, den Bruder und die Schwestern Emilia und Lydia in die Arbeitsarmee, nach Burjatien, wo sie Bäume fällen mussten.
Ich konnte weder Russisch noch Deutsch, sprach nur Tatarisch. Die Eltern sprachen untereinander Deutsch. Damit ich vor Schulantritt noch Russische lernte, sprachen die Eltern nicht mit mir – sie streikten mir gegenüber. Einmal rannte ein Hund hinter mir her; er hätte mich um ein Haar gebissen. Ich rannte nach Hause, erzählte es Mama, aber die tat so, als ob sie mich überhaupt nicht verstehen würde. Da ergriff ich ihren Daumen und biss hinein…“. Die Kinder der damaligen Zeit stellten ihr Spielzeug selber her – Puppen wurden genäht, aus Kuhhaut entstanden kleine Bälle. Mit der Kleidung hielt man es ganz einfach – es wurde angezogen, was Gott einem schickte. Häufig nähten sie ihre Sachen selber, und das galt auch für Schuhwerk. „Sie fertigten Schuhe aus bearbeiteter Schweinehaut an – sogenannte Tschuni; als ich bereits zur Schule ging, kauften sie mir Stiefel aus grobem Schweineleder. Ich freute mich über die neuen Sachen, war Stolz darauf und ging sehr sorgfältig mit ihnen um …“. Mama lehrte die Kinder auf Deutsch zu beten – es kam nicht vor, dass man sich ohne Gebet an den Tisch setzte.
In der Kommandantur, in der Bezirksstadt, mussten sie sich regelmäßig melden und registrieren lassen. Später, im Jahre 1947, wurde die ganze Familie in das Dorf Kusnezowo verlegt; nach Jenisejsk zogen sie 1959 um, zu Schwester Frieda, und da lebte dann die ganze große Familie einträchtig miteinander. Lilia Genrichowna besuchte die 10. und 11. Klasse in Jenisejsk. Eine Arbeit fand sie zuerst als Tellerwäscherin, später als Verkäuferin bei der Jenisejsker Verwaltung für den Handel mit Industriewaren. 1957 wurde sie rehabilitiert. Auf die Frage nach ihrer Heimat antwortete Lilia Genrichowna: „Ich denke, dass Sibirien meine Heimat ist, weil ich hier auch geboren bin, und damit ist alles gesagt. Wenn sie uns nicht deportiert hätten, dann hätte sich unser Schicksal vielleicht ganz anders zusammengefügt … Was kommen soll, das kommt“.
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken