Eva Filippowna Konradi wurde am 6. Juli 1924 in der Ortschaft Bauer, Bezirk Kamenka, Gebiet Saratow, in einer fleißigen, wohlhabenden Familie geboren. Sie besaß Pferde, ein Stück Land, mehr als 10 Hundertstel Hektar, Kühe, Ziegen, Hühner, ein großes Haus aus ungebrannten Lehmziegeln…
Der Vater hieß Filipp Filippowitsch Stieben (1896-1960). Die Mutter – Maria Jegorowna Stieben (Mädchenname Becker, 1894-1977) webte Kattunstoff, wie viele Frauen im Dorf. In der Familie gab es sechs Kinder – Maria, geb. 1915, Amalia, geb. 1922, Eva, geb. 1924, Alexander, geb. 1926, Andrej, geb. 1927, und Jakob, geb.1934.
Während der Kollektivierung, ungefähr in den Jahren 1929-1930, genau kann Eva Filippowna sich nicht mehr erinnern, wurde die Familie enteignet. Alles wurde beschlagnahmt und mitgenommen, und man ließ sie nackt und bloß in die Welt hinaus ziehen.
Und damit begann eine lange Zeit des Umherirrens. Der leibliche Bruder des Vaters, Onkel Jegor, beherbergte die Familie bei sich. Die Kinder gingen los und bettelten um Almosen. Eva Filippowna wusste noch, wie sie jeden Morgen zur Bahnstation ging, um sich dort mit Betteln durchzuschlagen. Bald darauf kannten die Maschinisten sie schon ganz gut und warfen ihr immer, wenn sie vorbei fuhren, eine Scheibe Brot zu. Sie litten furchtbaren Hunger. Um die Qualen ihres kleinen Sohnes, der ununterbrochen um etwas zu essen bat und schrecklich weinte, nicht mit ansehen zu müssen, begab die Mutter sich auf die Straße. Aber der Kleine wurde immer hysterischer und schrie und schrie: „Mama – Brot!!! Mama – gib mir doch Brot!!!“ Und schließlich verhungerte das arme Kerlchen. Eva Filippowna sagt, dass sie bis auf den heutigen Tag, jedes Mal wenn sie dieser tragischen Episode wieder erinnert, das durchdringende Kindergeschrei des kleinen Bruders in ihren Ohren hat.
1936 wurde die Familie Stieben von neuem Unheil heimgesucht. Eva Filippownas Vater war für die damalige Zeit ein lese- und rechtschreibkundiger Mann (er hatte 10 Schulklassen absolviert). Außerdem war er ein tief gläubiger, sehr frommer Mensch, der leicht verständlich das Wort Gottes anderen erklären konnte und dadurch auch andere mit in die Reihen der katholischen Kirche hineinzog. Weil damals „Gott verboten“ wurde, denunzierte ihn, wie sich später herausstellte, einer seiner Mitstreiter, den man extra zu diesem Zweck in diesen Kreis eingeschleust hatte; er wurde verurteilt und bekam 5 Jahre Gefängnis. Für Filipp Filippowitschs Familie war das eine Katastrophe – man hatte den Ernährer fortgeholt. Aber das Schlimmste war, dass sie auch Gottes Wort (Bücher) mitgenommen hatten, woran sich J.F. heute noch mit großem Bedauern erinnert. Dennoch gelang es Eva Filippowna eines dieser Bücher zu verstecken, und von dieser Bibel trennt sie sich keine Minute mehr. Das Leben der Familie gestaltete sich bis zu dem Zeitpunkt schwierig, als Eva anfing, bei wohlhabenden Nachbarn als Kindermädchen zu arbeiten.
Jeden Tag ging Eva Filippowna am Morgen zum Bahnhof, nicht nur wegen eines
Stückchens Brot, sondern weil sie sich so sehr nach dem Vater sehnte und auf
seine Rückkehr wartete. Und immer wieder hatte sie dabei das Gefühl, dass er
heute ganz bestimmt kommen würde. Jeden Tag sah sie aufs Neue mit
hoffnungsvoller Sehnsucht auf die Gleise. Aber er kam und kam nicht. 1941
schließlich war es so weit, es brach der Tag an, auf den die gesamte Familie
fünf lange Jahre gewartet hatte. Eva ging, wie gewohnt, am frühen Morgen zur
Bahnstation. Plötzlich sah sie den Vater auf dem Bahnsteig laufen. Sie stürzte
auf ihn zu … Aber er erkannte sie nicht und nannte sie Amalia (weil er sie mit
dem Schwesterchen verwechselte).
„Du bist gar nicht Amalia- oder?“ – Sie trat an ihn heran, umarmte ihn. Und als
er begriff, dass er sich geirrt hatte und vor ihm Eva stand, begann er zu
weinen.
Doch die frisch vereinte Familie war nicht lange glücklich. Laut Ukas vom 28. August 1941 wurde die Familie Stieben im September aus dem Gebiet Saratow in den Kuraginsker Bezirk, Region Krasnojarsk deportiert. Eva Filippowna weiß noch, wie man ihnen sagte, dass sie ihre Sachen zusammenpacken sollten: „Trocknet Brot und sammelt eure Sachen für eine lange Reise zusammen…“. „Wir waren lange unterwegs, man beförderte uns in „Güterwaggons“. Unterwegs geschah alles Mögliche …“
1942 wurden sie in das Dorf Tamarowo, Bezirk Jarzewo, verlegt. Bal darauf schickten sie Eva Filippowna in die Arbeitsarmee, in das Dorf Schertschanka, wo sie in einer Holzbeschaffungs-brigade arbeitete. Anfangs fällte sie Bäume, später wurde sie zum Holztransport verlegt. Die Stämme wurden auf dem Fluss Kas geflößt. Im Winter transporteierte man sie mit Schlitten. E.F. kann sich sogar noch an den Namen des Pferdes erinnern – es hieß Bajan und war ein sehr kluges Tier. Einmal beschloss Eva Filippowna das Plansoll etwas schneller zu erfüllen und lud Bajan zu viel Gewicht auf, so dass er sich nicht von der Stelle bewegen konnte. Er rührte sich nicht, stand still – wie angewurzelt und schlug mit dem Huf gegen die Wagendeichsel. „Ich sag‘ zu ihm: Bajan, Bajascha … Aber es bleibt stehen, das Scheusal. Da musste ich alles wieder abladen“.
Dort, in Tamarowo, heiratete E.F. ihren Jakob Filippowitsch Konradi. Zwei Kinder wurden geboren, aber das erste starb an Rachitis, denn Eva Filippowna arbeitete zu der Zeit im Wald in einer Brigade und konnte das Kind nicht stillen. E.F. band die Heugarben so geschickt zusammen, dass man sofort erkennen konnte, wer die Arbeit verrichtet hatte – die Garben waren ganz akkurat gebunden, keine einzige Ähre ging verloren. „Ich arbeitete langsam, aber sehr genau“.
1949 wurde das zweite Kind geboren – Peter. Eva Filippowna wollte kein weiteres Kind mehr verlieren, sie musste immer an den Verlust des Erstgeboren denken. Deswegen begab sie sich zum Vorsitzenden und sagte: „Auch wenn sie mich erschießen, ich werde nicht weiter im Wald, in der Brigade, arbeiten: ich habe ein kleines Kind. Der Vorsitzende hatte Mitleid und fand für sie eine andere Arbeit. Sie kümmerte sich um einen Bullen, den alle fürchteten. Eva Filippowna begriff, dass das Wichtigste für sie das Aufziehen ihres Kindes war; deswegen willigte sie ein. „Jeden Tag musste ich dem Tier 5 Liter Milch und 10 Eier geben“. Und Eva Filippowna ließ nie auch nur ein einziges Ei mitgehen. Und dabei hatte sie doch zuhause hungernde Kinder …
Später wurde die ganze Familie Konradi nach Nasimowo verlegt, das liegt schon etwas näher an Jenisejsk. Hier wurden noch weitere drei Mädchen geboren, eines von ihnen starb im Alter von eineinhalb Jahren an Tuberkulose; am Leben blieben nur Natalia und Tatjana. Und bald darauf verließ der Ehemann und Vater der Kinder, Jakob Filippowitsch, die Familie. Und so blieb Eva Filippowna mit drei kleinen Kindern am Rockzipfel allein zurück. 1959 zog sie zusammen mit ihren Eltern ins Kuban-Gebiet, in die kleine Siedlung Timeschbek, um. Aber sie konnten sich dort nicht einleben. So blieben sie dort nur bis Mai 1958 und kehrten dann nach Sibirien zurück.
Anfangs wollten sie nach Nasimowo zurückgehen, aber in Jenisejsk wohnten Verwandte von ihnen, und deswegen fuhren sie dort hin. Eineinhalb Jahre später teilte man der Familie eine Ein-Zimmer-Wohnung für 7 Personen im Haus Leninstraße 153 zu – die Wohnung Nr. 5. Hier wohnten sie genau 23 Jahre. Ihre Eltern halfen Eva Filippowna bei der Erziehung der Kinder. Eva Filippownas Mutter starb 1977 im Alter von 83 Jahren, ihr Vater Filipp Filippowitsch starb 1960.
Eva Filippowna spricht hervorragend Deutsch- sie singt deutsche Volkslieder, spricht fließend, sagt Gebete auf, außerdem konnte sie kunstvolle Handarbeiten anfertigen – sie wusste, wie man Spitzen klöppelt. E.F. hält sich für einen reichen Menschen – sie hat sieben Enkel- und zehn Urenkel-Kinder.
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken