Eugenia Karlowna Wanina (Mädchenname Stoll) wurde 1940 im Nikolajewsker Gebiet, Bolschoj Aleksandrowsker Bezirk, Ortschaft Romanowka geboren.
Die Familie war klein: Vater Karl Juliusowitsch Stoll (geb. 1912) lebte lange in Ufa und absolvierte dort das landwirtschaftliche Institut auf einem breit gefächerten Fachgebiet; Mutter Natalia Jakowlewna Schnell (geb. 1915) stammte aus einer wohlhabenden Familie. Nachdem die beiden geheiratet hatten, zog die junge Familie per Verteilungsschlüssel nach Romanowka. Der Vater arbeitete als Traktorist, während die Mutter im Winter Hausfrau war und im Sommer auf den Feldern arbeitete. Es gab insgesamt vier Kinder in der Familie: Gerhard (geb. 1935), Vera (geb. 1938), Eugenia (geb. 1940) und Lina (geb. 1943). Die Großmutter hieß Eugenia, der Großvater Julius Danilowitsch.
1941 marschierten deutsche Truppen in das Dorf ein, in dem die Familie Stoll wohnte. Eugenie Karlowna erinnert sich an Gespräche ihrer Verwandten: „Die Situation im Dorf war gespannt. Die Faschisten trieben ihren Hohn und Spott mit den jungen Mädchen und machten mit ihnen alles, was sie wollten….“. So lebten sie bis zum Rückzug der Wehrmachtstruppen, und als der Befehl ertönte, dass alle Volksdeutschen sich zur Abfahrt bereitmachen sollten, da suchten die völlig unschuldigen Menschen, denen man wirklich nichts vorwerfen konnte, in aller Eile ein paar Sachen zusammen und folgten den Soldaten über die zerstörten Militärstraßen aus der UdSSR. Eugenie Karlownas Großmutter erzählte davon, dass sie mitunter direkt über Leichen hinwegfuhren und sich dabei die Eingeweide der Toten an den Achsen des Fuhrwerks aufwickelten… Eugenie Karlownas kindliches Gedächtnis hat noch eine Episode bewahrt, bei der sie unter Beschuss genommen wurden und sie mit ihren Verwandten unter dem Leiterwagen gelegen hatte, während über ihren Köpfen die Kugeln hinwegpfiffen; es gab damals viele Opfer … „Einmal mussten wir eine Schlucht überwinden, aber die Brücke, die hinüberführte, war zerstört. An ihrer Stelle wurde eine Art Drahtseilbahn gebaut, die Überfahrt damit war ganz schrecklich. Ganz unfreiwillig tauchte vor einem das Bild auf, wie eine Familie während der Überfahrt in den Abgrund stürzt …
Es wurde auch mitunter Rast gehalten, und die Menschen bemühten sich dann irgendetwas zu kochen. Einmal wuschen sie sich in einem Badehaus, aber die Art, wie sie dort behandelt wurden, löste große Empörung unter ihnen aus. Man benahm sich ihnen gegenüber unmenschlich, denn alle, Groß und Klein, Männer und Frauen, wurden dazu in einen einzigen Raum getrieben….“.
Als sie durch Rumänien kamen, fror Eugenie Karlownas Schwester sich die Zehen ab, und zwar so schlimm, dass man sie schon ins Krankenhaus bringen wollte, aber die Mutter erlaubte das nicht. Es ist schwer zu glauben, dass es unter derart schwierigen Bedingungen nicht nur gelang, das Mädchen zu retten, sondern sie auch bei ihrer Familie zu lassen. In Deutschland arbeitete die Familie Stoll bei einer deutschen Familie; die Hauswirtin war eine gute Frau, die oft zu ihnen sagte, sie sollten doch in Deutschland bleiben, selbst wenn die Russen kämen. Aber sie warteten auf den Moment, wo sie wieder in ihre Heimat zurückkonnten … An das Leben in Deutschland gibt es viele schöne, aber auch schlimme Erinnerungen, zum Beispiel dieser Vorfall, welcher Eugenie Karlownas Tante passierte: „Die Tante lebte bei einer anderen Familie, und einmal schickten sie sie los, um die Tochter der Hausherrin – eine kleine Deutsche – zu begleiten. Auf den Armen hielt die Tante das Hündchen des Mädchens, der plötzlich anfing wütend zu kläffen. Da beschimpfte die Hausherrin die Tante mit den Worten „Russenschwein!“, aber meine Tante antwortete kampfesmutig: „Russische Schweine führen keine Hunde ohne Maulkorb aus, aber Sie tun das. Wer also ist ein Schwein – Sie oder ich?“ Nach diesem Wortwechsel ließ sie den Hund aus ihren Armen fallen. Für dieses Verhalten wollte man die Tante bestrafen, aber dann ging doch alles gut aus …“.
Zu dieser Zeit diente Eugenie Karlownas Vater, Karl Juliusowitsch, in der Roten Armee und erfuhr auf irgendeine Art und Weise, dass sich seine Familie in Deutschland befand. Heute kann man nur mit Mühe glauben, dass er es schaffte die Grenze zu überqueren, um seine Angehörigen wiederzusehen, aber auf dem Rückweg wurde K.J. entdeckt und automatisch zum Volksfeind abgestempelt – zur Strafe schickte man ihn ins Lager Magadan. Dort erlebte er den Sieg, blieb jedoch in völliger Unkenntnis darüber, über seine Familie noch am Leben war, ob er sie alle jemals wiedersehen würde…. Es war sehr schwierig im Lager zu überleben, aber er nahm sich zusammen, denn in seinem Herzen brannte die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seinen Lieben … Ein Zufall half im ebenfalls zu überleben – man benötigte Fahrer, und so holten sie K.J. zum Arbeiten an einen anderen Ort …
Mittlerweile hatte man K.Js gesamte Familie von Deutschland nach Sibirien
transportiert und damit all ihre Erwartungen auf eine Rückkehr nach Hause, in
die Ukraine, zunichte gemacht … Lange waren sie unterwegs; man brachte sie mit
dem Zug bis nach Krasnojarsk und dann mit einem Lastkahn weiter nach Jenisejsk,
wo man sie am Flussufer nahe der Schiffswerft von Bord gehen ließ. Anfangs
brachte man sie im Klubhaus in der Mitschurin-Straße unter:
„ …Der Klub war nicht groß, aber von Menschen überfüllt, es gab nur einen
einzigen Ofen, aber alle lebten einträchtig miteinander … wir, die Kinder,
schliefen auf dem einzigen vorhandenen Bett, welches direkt auf der Bühne stand…“.
In der Hauptsache hatten sie alte Leute, Kinder und Frauen hierher gebracht; die
Männer wurden alle in die Trudarmee mobilisiert. Fast alle arbeiteten auf der
Schiffswerft – in der Mitschurin-Straße bauten sie sich später Häuser für den
Eigenbedarf … Der Brigadeführer war ein Mann namens Scheel (oder Schell); das
erste fertiggebaute Haus wurde für seine Familie errichtet, das zweite für J.Ks
Familie. Die Ausstattung war einfach – anstelle eines Bettes gab es zwei Reihen
zusammengenagelter Pritschen – darauf schliefen jeweils drei Personen. Strom gab
es nicht. Anstelle von Federbetten schnitten sie sich langes Sumpfgras zurecht,
trockneten es, legten es auf die Holzpritschen und bedeckten die Schicht mit
Lumpen. Aber ungeachtet aller Not waren die Kinder immer sauber, die Kleider
wurden, auch wenn sie alt aussahen, jeden Abend gewaschen; und anschließend
wusch man auch die Haare in der Waschlauge….
Im ersten Jahr litten sie Hunger – sie tauschten alle Sachen gegen Lebensmittel ein, die sie mit hierher gebracht hatten: „ …. das allerletzte Federbett tauschte Mama gegen einen Eimer Kartoffelschalen, um uns irgendwie zu ernähren. Im Frühjahr, wenn die Kolchose mit dem Umpflügen der Kartoffelfelder beschäftigt war (am Truppenplatz), liefen wir barfuß umher und sammelten die verbliebenen Kartoffeln vorm Vorjahr auf; daraus wurde Stärkemehl hergestellt. Es wurde mit gehackter Melde vermischt und dann auf dem Ofen gebacken“. Man benahm sich den Deutschen gegenüber auf unterschiedliche Weise: mancher war bereit zu tauschen, andere halfen einem zu überleben. Mit viel Wärme und großer Dankbarkeit erinnert sich J.K. an die Direktorin des Kindergartens Kowalskaja; allein ihretwegen überlebten die Kinder; sie sorgte dafür, dass sie einen Kindergartenplatz bekamen und dort durchgefüttert werden konnten: 2 Kinder waren rund um die Uhr in ihrer Obhut, 2 weitere nur tagsüber…..
Alle Erwachsenen waren der Kommandantur unterstellt und mussten sich regelmäßig melden und registrieren lassen; ganz schrecklich war der Gedanke daran, dass man einmal zu spät zur Registrierung kommen könnte ….
J.Ks Mutter, Natalia Jakowlewna, wurde nach einiger Zeit krank, das Arbeiten fiel ihr schwer, und deswegen suchte sich J.Ks ältester Bruder Gerhard eine Arbeit als Hirte. Sein heranwachsender Organismus verlangte ständig nach Essen, er wollte immer etwas zu Kauen haben, und so aß er häufig Sauerampfer; aber einmal irrte er sich und verwechselte ihn mit einer anderen Pflanzen, die giftig war. Er musste sich erbrechen, aber irgendeiner der Ortsansässigen gab ihm ein Gläschchen Milch zu trinken und versorgte ihn mit flüssiger Nahrung.
Als die Kinder heranwuchsen und dann auch in die Schule gingen, wurden sie von den Kindern der Ortsansässigen als „Faschisten“ beschimpft. J.K. erinnert sich, dass sie ganz besonders schlimm von den Peschkow-Jungen verspottet und beleidigt wurden; auf dem Weg zur Schule wurden sie abgefangen, geschlagen und in den Schnee geworfen …. Wenn sie aufstanden, war ihre Kleidung ganz nass. Deswegen war der Schulweg eine wahre Strafe für sie.
J.Fs Mutter stand im Briefwechsel mit ihren Angehörigen aus Ufa; dorthin schrieb auch der Vater, und so fanden sie einander schließlich wieder; und im Jahre 1953 kam Karl Juliusowitsch nach der Amnestie nach Sibirien zu seiner Familie, wo er sich eine Arbeit bei der Autotransport-Abteilung suchte. Das Leben wurde leichter – nach und nach schafften sie sich einen Haushalt und eine kleine Wirtschaft an.
Eugenie Karlowna absolvierte 7 Schulklassen. Danach arbeitete sie in der Holzfabrik: anfangs war sie mit dem Abdichten von Lastkähnen beschäftigt, später verset6zte man sie in die Möbelwerkstatt. Hier in der Holzfabrik arbeitete sie dann auch bis zur Rente. Sie gehörte zu den angesehen Arbeiterinnen, erhielt ständig Prämien und Ehrenurkunden.
Sie heiratete und bekam zwei Kinder. Im Großen und Ganzen ist ihr Leben erfolgreich verlaufen – dank ihres Fleißes, ihrer Liebe zum Leben und ihres Optimismus.
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken