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Bericht von Emma Nikolajewna Schwabenland


Bericht von Emma Nikolajewna Schwabenland, geb. 1956. Emma Nikolajewna ist die Tochter von Jekaterina Genrichowna Gartwich (Hartwig), 1941 aus der Republik der Wolgadeutschen verschleppt in den Bezirk Karatus.

Emma Nikolajewna wurde bereits nach dem Krieg, im Jahre 1956, an der Goldmine Wjerchnij Amyl im Bezirk Karatus geboren. Ihr Vater verließ die Mutter noch vor der Geburt der Tochter, und bald darauf zogen die Familie – Mutter, Großmutter, Großvater, Urgroßmutter, Schwestern und Brüder – in die Ortschaft Sagaiskoje im selben Bezirk. Die erwachsenen Frauen gingen arbeiten; zu der Zeit waren alle auf der Tabakplantage tätig, und die schon gealterten Familienmitglieder blieben mit der kleinen Emma zu Hause. Großmutter und Urgroßmutter sprachen während der gesamten Verbannungsdauer Deutsch, und eigneten sich somit die russische Sprache nicht an. Ihnen ist es zu verdanken, dass die Enkelin fast von Geburt an ohne Mühe die deutsche Sprache erlernte, an die sie sich bis heute gut erinnert und die sie auch noch recht gewandt benutzen kann. Neben der Sprache wurde auch die deutsche Kultur weitergegeben – Großmutter und Urgroßmutter brachten ihr Gebete, Kirchenlieder und Gedichte bei. Immer vor dem Einschlafen bat die Großmutter sie ein Gebet zu sprechen, und dann wünschte sie ihrer Enkelin eine gute Nacht in deutscher Sprache.

Emma Nikolajewna erinnert sich, dass bei ihnen zu Hause immer das deutsche Weihnachtsfest gefeiert wurde. Sie lebten in sehr ärmlichen Verhältnissen, aber vor dem Feiertag wurde trotzdem immer ein wenig Karamell gekauft, man buk Kolatschen und machte im Haus gründlich sauber. In der Weihnachtsnacht lassen sie die Enkel auf der Bank Platz nehmen, um auf Snegurotschka – auf Deutsch: das Christkind – zu warten, das ihnen Geschenke mitbringt. Für die Geschenke mussten sie ein Gebet in deutscher Sprache aufsagen. Und einer der Erwachsenen verkleidete sich jedes Mal als Snegurotschka und kam dann herein, um die Geschenke zu überreichen. Emma erinnert sich noch gut an jene Tage, und auch wenn sie heute nicht mehr Weihnachten feiert, wie in ihrer Kindheit, so ist doch das Feiertagsgefühl nie von ihr gewichen – an diesem Tag arbeitet Emma grundsätzlich nicht.

So kam es, dass Emma, als sie erwachsen geworden war, einen Deutschen heiratete – einen Burschen aus einer ebenfalls aus dem Wolgagebiet verschleppten Familie, heiratete und zwanzig Jahre lang mit der Schwiegermutter unter einem Dach lebte. Sie lebten sehr einträchtig miteinander, unterstützten sich gegenseitig so gut sie konnten. Die Schwiegermutter – Theresa Petrowna Schwabenland – hatte ein schweres Los, wenngleich niemand über ein leichtes Leben unter den verschleppten Deutschen in jenen Jahren prahlen kann. Theresa Schwabenland wurde 1926 an der Wolga geboren. Nach Erzählungen der Schwiegermutter hatten sie an der Wolga ihr eigenes Haus, ihren Hof. Es herrschte ein warmes Klima, und man brauchte dort keine warme Kleidung. Brennholz gab es ebenfalls nicht; zum Heizen sammelten sie getrockneten Kuh- und Pferdemist. Sie fuhren in aller Eile nach Sibirien ab und ließen volle Kornspeicher und das gesamte Vieh zurück. Nach Sibirien geriet Theresa Petrowna im Herbst als fünfzehnjähriges Mädchen; sie erinnerte sich, dass sie sich bei der Ankunft, um etwas essen zu können, gefrorene Kartoffeln ausgruben, die auf den Feldern zurückgeblieben waren, aber nach einer solchen Mahlzeit starben viele infolge von Darminfektionen. Der Vater kam sofort in die Arbeitsarmee, wo er auf tragische Weise durch einen Unglücksfall ums Leben kam – er wurde von einer Lore überfahren. Nachdem Theresa 16 Jahre alt geworden war, schickte man sie ebenfalls in die Arbeitsarmee. Sie geriet nach Ufa. An die Zeit, die sie in der Arbeitsarmee verbrachte, erinnert sich die Schwiegermutter als schlimmste und hungerreichste. In den Baracken herrschte Kälte, alles war mit Raureif überzogen. Man verpflegte die Arbeitsarmisten mit Sauerampfer-Suppe und einem kleinen Stückchen Brot. Theresa Petrowna erzählte, dass sie sich in der Baracke zum Schlafen legte mit dem Wunsch zu sterben, und am Morgen sah sie dann die während der Nacht verstorbenen Gefangenen. Nach 1945 wurde es besser – sie gingen auf den Markt, kauften Lauch und gesalzene Butter; sie zerschnitten den Lauch, gossen zerlassene Butter darüber und tunkten ihr Brot hinein – das schmeckte gut und war nahrhaft. Während der Arbeitsarmeejahre starb in Sibirien die Mutter, aber die Söhne, die sie beerdigten, konnten sich nicht einmal daran erinnern, wo sich ihre Grabstätte befindet. So hat es sich Theresa Petrowna lebenslang zu Herzen genommen, dass sie das Grab ihrer Mutter nicht aufsuchen und ihr die Ehre erweisen kann. Eine Ausbildung erhielt sie nicht, ohne Eltern ging das nicht, sie musste arbeiten. Nach der Rückkehr aus Ufa ging Theresa Petrowna sogleich arbeiten und erlernte schnell die russische Sprache; sie lebte einige Jahre allein, daher konnte sie zu Hause mit niemandem Deutsch reden. In ihrem persönlichen Leben hatte sie auch kein Glück; nach der Geburt ihrer beiden Söhne verließ ihr Mann sie wegen einer anderen Frau, so dass Theresa Petrowna die Kinder allein großziehen musste. Dafür hat sie zu ihrer Schwiegertochter Emma ein sehr gutes und warmes Verhältnis, mit ihr konnte sie auch Deutsch sprechen, und die Kinder zogen sie gemeinsam groß. Emmas erstes Kind starb an einer Staphylokokken-Infektion, es war erst ein Jahr alt. Sie bestatteten es nach deutschem Brauch – die Verwandten kamen, man sang Kirchenlieder.

Nachdem die Sibirien-Deutschen angefangen hatten, massenhaft nach Deutschland auszureisen, reiste Emma Nikolajewna ebenfalls auf Einladung ihres Onkels nach Köln, aber ihre gesamte Familie wollte nicht dort bleiben und dorthin umziehen.

Aufgezeichnet von Jelena Sberowskaja und Marina Konstantinowa
05.07.2016, Sagaiskoje, Bezirk Karatus

 

Forschungsreise der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität Krasnojarsk und der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation zum Projekt „Anthropologische Wende in den sozial-humanitären Wissenschaften: die Methodik der Feld-Forschung und Praxis der Verwirklichung narrativer Interviews“ (gefördert durch den Michail-Prochorow-Fond).


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