Wadim Michailowitsch SOLOWJOW (geb. 1919), der Neffe von J.A. Preobraschenskij, studierte im 2. Kurs am Medizinischen Institut in LENINGRAD.
Am 20.06.1938 wurde er verhaftet und ins Untersuchungsgefängnis am Litejnij-Prospekt gesteckt. Im April 1939 schickten sie ihn ins KRESTY (aus kreuzförmigen Gebäuden angelegtes Gefängnis in St. Petersburg; Anm. d. Übers.), und verlegten ihn im August ins Frauengefängnis, in dem ein Teil der Zellen für Männer zur Verfügung gestellt wurde, denn KRESTY war hoffnungslos überfüllt. Im Frauengefängnis verkündete man ihm die Haftdauer: 10 Jahre nach § 58-8 (auf Beschluß eines Sonder-Kollegiums vom 29.10.1939). Anschließend, im November 1939, schickten sie Wadim Michailowitsch in ein Durchgangsgefängnis, wo entsprechende Etappen ins Lager zusammengestellt wurden.
Seine gesamte Familie wurde ebenfalls eingesperrt, der Bruder erschossen.
Etwa am 01.12.1939 schickte man ihn auf Etappe. Mehrere Tage wurden die Häftlinge im SWERDLOWSKER Transitgefängnis festgehalten, danach im NOWOSIBIRSKER.
In einem dieser Durchgangsgefängnisse, in einer Zelle - groß wie ein Saal, wo die Gefangenen unmittelbar auf dem Boden liegen und sitzen mußten, begannen Kriminelle irgendeinen aus den Reihen der „Politischen“ zu attackieren, um ihm seine Sachen wegzunehmen. Alle saßen schweigend da, aber plötzlich stand ein Mann auf und fing an, den Dieben ins Gewissen zu reden. Es war der „Trotzkist“ KOGAN (geb. ~1910), den sie mit derselben leningrader Etappe gebracht hatten, mit der auch Wadim Michailowitsch gekommen war. In ihren Worten steckte eine dermaßen moralische Kraft, dass die Räuber verlegen wurden und die Politischen nicht mehr anrührten.
In der Zelle des NOWOSIBIRSKER Durchgangsgefängnisses saßen auf den oberen Pritschen Gauner, auf den unteren die ehemalige Führung, die nach § 58 hinter Schloß und Riegel gebracht worden war. Auf den oberen Pritschen fraßen sie Wurst und Konfekt – aus Paketen. Aber Wadim Michailowitsch hatte bereits im zweiten Jahr keine Pakete erhalten: es gab bereits keine Familienangehörigen mehr, die noch in Freiheit lebten. Er saß auf einer der unteren Pritschen – hungrig und zerlumpt.
Das bemerkte ein junger Dieb von den oberen Pritschen. Er rief Wadim Michailowitsch zu sich nach oben und gab ihm einen kleinen Kanten Brot mit Mus.
Am 14.12.1939 wurde die Etappe in KANSK abgeladen, wo sich damals die Lager-Verwaltung des KRASLAG (Y-235, Postfach 235) und des zentralen Durchgangs-gefängnisses befand. Nach der Qurantäne, kurz vor Neujahr, wurden die Häftlinge zufuß in den ILANSKER Kreis getrieben, zum Lagerpunkt AKSCHA im südlichen Teil.
In der Wohnzone standen 3 oder 4 hölzerne Baracken mit Fußböden aus blanker Erde und durchgehenden, zweistöckigen Pritschen. In jeder Baracke waren etwa 200 Mann untergebracht. Den ganzen Winter über fällten die Häftlinge Bäume und schafften sie über den vereisten Weg (10-11 km) zum Ufer des Taiga-Flüßchens Pojma (linker Nebenfluß der Birjussa), wo es eine kleine Lager-Nebenstelle mit einer Baracke unter einem Zeltplanen-Dach gab. Sie hieß genauso – POJMA. Und im Frühjahr, mit dem Hochwasser, wurde das vorbereitete Holz zur Eisenbahnstation NISCHNIJ INGASCH abgeflößt.
Der Lagerpunkt AKSCHA gehörte zum Bestand des ILANSKER Sonder-Lagerpunktes des KRASLAG. Die Sanitätsabteilung in AKSCHA wurde von dem Feldscher MIRONENKO (geb. ~1880), den man in der Ukraine verhaftet hatte, geleitet; und später von dem Arzt WASILJEW. Beide saßen wegen des § 58 ein.
Der „Trotzkist“ KOGAN geriet ebenfalls nach AKSCHA und arbeitete dort als Fuhrmann – er transportierte Holz auf dem vereisten Weg nach Pojma. Im Lager freundete er sich mit dem Sekretär des Zentralkomitees des bulgarischen kommunistischen (Untergrund-) Jugendverbandes an, dem Bulgaren DIMOW (geb. ~1910). Man hatte ihm zunächst eine Haftstrafe von 25 Jahren aufgebrummt, schickte ihn jedoch 1939 aus dem Lager nach Moskau, wobei er nur einen Wachmann mitbekam und in einem gewöhnlichen Personenzug fuhr, und verkürzte seine Strafe auf 10 Jahre. Zurück ins Lager wurde er mit einer gewöhnlichen Etappe gebracht. Wie er berichtete, war er in der vollen Überzeugung nach Moskau gefahren, dass man ihn freilassen würde. Aber wenn er gewußt hätte, dass es so ausgeht, dann wäre er unterwegs geflohen – nichts wäre einfacher als das gewesen!
Dieser Bulgare, ein sehr lebhafter und aktiver Mensch, arbeitete als Brigadier in der Holzfällerei. Offenbar war er auch äußerst findig: nicht nur einmal verließ er nachts die Zone, um ins benachbarte Dorf zu gehen, noch dazu ohne jegliche Erlaubnis, d.h. eigentlich flüchtete er sogar – ungeachtet all der Wachen, Wachtürme und Zäune. Im Dorf tauschte er irgendwelche Kleinigkeiten gegen Tabak oder Lebensmittel ein und kehrte dann auf demselben, nur ihm bekannten, Weg wieder in die Lagerzone zurück.
Später verdächtigte ihn die Lagerleitung die Absicht gehabt zu haben, tatsächlich zu fliehen, und sie schickten ihn nach RESCHOTY, an einen der dortigen Lagerpunkte. Von dort konnte er dennoch fliehen, wobei er zu dieser Sache vier Diebe überredet hatte. Sie gruben zu fünft ein Schlupfloch unter den Pritschen hindurch, aus der Baracke direkt bis zum Wachturm, warteten, bis die Nacht hereingebrochen war, und verließen die Zone. Drei der Diebe wurden später gefaßt, aber DIMOW und den vierten Dieb fanden sie nicht. Von dieser Flucht erzählten Wadim Michailowitsch viele Leute, unter anderem auch militarisierten Wachen. Im gesamten KRASLAG war es damals zu einem Tumult gekommen.
Wadim Michailowitsch lebte in AKSCHA zusammen mit KOGAN in einer Baracke; sie unterhielten sich oft. Einmal führten sie ein Gespräch darüber, was ihnen wohl die Zukunft bringen und ob es ihnen wohl vergönnt sein würde, irgendwann die Freiheit wiederzuerlangen. KOGAN meinte (das war im Jahre 1940): „Bald wird ein großer Krieg ausbrechen, und in einer solchen Zeit sind große Veränderungen möglich“. Leider sollte er nur zum Teil recht behalten.
1940 gab es in AKSCHA und den benachbarten Lagern des ILANSKER Sonder-Lagerpunktes keine Fälle von Häftlingsentlassungen, höchstens ein paar vereinzelte. Zumindest hörte niemand etwas von möglichen Freilassungen, und es dachte auch kein Mensch daran.
Einen beträchtlichen Teil der Gefangenen des ILANSKER Sonder-Lagerpunktes stellten Burjaten aus der Baikal-Region dar. Sie zeichneten sich durch ihre Ruhe und ihr Wohlwollen aus. Die meisten von ihnen konnten kaum Russisch. In AKSCHA arbeitete eine ganze burjatische Brigade bei Kolonnenarbeiten. Auch in der „Kraftlosen“-Brigade, in die Wadim Michailowitsch 1940 kam, gab es Burjaten.
In AKSCHA saß Wadim Michailowitsch nicht lange, nur bis zum Frühjahr 1940. Von dort schickte man ihn zum Lagerpunkt TSCHEREMSCHANYJ KLJUTSCH, weiter oben am Flußlauf der Pojma, in das Dörfchen JUSCHNO-ALEXANDROWKA (es liegt geradewegs in der Mitte zwischen AKSCHA und TSCH. KLJUTSCH). Heute verläuft hier die Eisenbahnlinie Abakan-Tajschet (die Stationen CHAJRJUSOWKA, JELNIKI). TSCHERMSCHANYJ KLJUTSCH befand sich ganz am Oberlauf der Pojma, noch oberhalb des Dörfchens WERCHNJAJA POJMA. Es war ebenfalls ein Holzfällerlager.
Im Herbst 1940 kam Wadim Michailowitsch in eine Holzfäller-Lageraußenstelle, wo ungefähr 200 Häftlinge in einer großen Bretterbude (der Fußboden bestand aus Erdreich) mit zweistöckigen, durchgehenden Pritschen lebten, aber gegen Ende des Jahres schickten sie ihn nach AKSCHA zurück.
Dort geriet er wieder zur Holzfällerei und begriff kurze Zeit darauf ganz klar, dass er bei diesen Kolonnenarbeiten nicht bis zum Frühjahr durchhalten würde. Im Januar 1941 zwang ihn die Verzweiflung ein Gesuch an die Sanitätsabteilung zu schreiben; schließlich war er doch Student des 4. Kurses (d.h. ein fast vollständig ausgebildeter Arzt) gewesen. Kurz zuvor hatten sie gerade von der „abgelegenen Landwirtschaftssiedlung“ den Feldscher verjagt – es gab also einen freien Platz.
In der Sanitätsabteilung las man das Gesuch und bestellte Wadim Michailowitsch in die zentrale Lagerzone des ILANSKER Sonder-Lagerpunktes, nach CHROMOWO am Flüßchen Pojma, etwa 7 km östlich von dem Dörfchen ALGASY. Die ganze Nacht war er unter Wachbegleitung von AKSCHA aus unterwegs (ca. 40 km).
Als Oberarzt war im ILANSKER Sonder-Lagerpunkt der Chirurg und Gynäkologe Georgij Dmitrijewitsch JOSIFIDI (1903-1967) tätig, seiner Herkunft nach ein Grieche. 1937 hatte man ihn in ODESSA verhaftet (siehe Verbannungs- / Lagerhaftbericht von W.K. Mattern) und ihm 10 Jahre gegeben. Er stellte Wadim Michailowitsch ein paar Fragen und begriff sofort, dass er vom 4. Kurs recht weit entfernt war. Er sagte jedoch nichts, sondern befahl ihm zu warten. Dann ging er selbst zur Leiterin der Sanitätsabteilung des Sonder-Lagerstützpunktes – CHIMOWSKA / KAJA. Einige Brocken ihrer Unterredung klangen zu Wadim Michailowitsch herüber. Zum Schluß sagte JOSIFIDI laut: „Das mit dem 4. Kurs hat er vorgelogen, aber der Bursche ist gescheit und vernünftig, er kann hier arbeiten!“
Infolgedessen begann Wadim Michailowitsch ab 04.02.1941 als Feldscher („Arzthelfer“) in der „Landwirtschaftssiedlung“ zu arbeiten. Es war ein kleines landwirtschaftliches Lager, zu dem man aus CHROMOWO durch das Dorf ALGASY gelangte. Die „Siedlung“ bestand aus zwei separaten Zonen – einer Frauen- und einer Männerzone. Sie befand sich auf flachem Gelände, mitten auf dem Feld.
Vor der Abfahrt gab JOSIFIFI ihm zahlreiche Monographieren über Medizin – um seine Ausbildung abzuschließen.
Über Beginn des Krieges mit Deutschland erfuhr man in der „Siedlung“ nicht sofort etwas, sondern erst um den 25. Juli herum – von den Freien. Zu dieser Zeit waren Zeitungen im Lager verboten, nur die Freien brachten sie heimlich und stückchenweise. Später wurden Zeitungen erlaubt, man konnte sie in der Kultur- und Erziehungsstelle lesen. Aber es gab nirgends ein Radio – weder in der „Siedlung“, noch in AKSCHA, TSCH. KLJUTSCH oder CHROMOWO.
1940-1941 stand den Häftlingen im ILANSKER Sonder-Lagerpunkt alle 10 Tage ein freier Tag zu (aber in Wirklichkeit gab es freie Tage viel seltener).
Anfang Juni 1942 verlegte JOSIFIDI Wadim Michailowitsch zu sich in die Krankenstation und ernannte ihn zum Feldscher der „Todgeweihten“-Baracke, wo die völlig erschöpften lagen, die an Auszehrung litten: Gefangene, die an Pellagra erkrankt oder vollkommen aufgedunsen waren. Dort waren ungefähr 400 Menschen. Es gab auch eine Menge Tuberkulosekranke oder solche, die an Lungenentzündung litten.
In die „Landwirtschaftssiedlung“ verlegten sie aus dem Lagerpunkt WERCH-TUGUSCHA (ebenfalls ILANSKER Sonder-Lagerpunkt) an die Stelle von Wadim Michailowitsch den Feldscher A.A. TOLSTOPJATOW. Er hatte eine Haftstrafe von 10 Jahren nach § 58. Die Haft endete 1947. Nach seiner Freilassung lebte TOLSTOPJATOW in Reschoty und arbeitete in der Krankenstation. Später starb er an Krebs.
Die Krepierer-Baracke war JOSIFIDI unterstellt und nannte sich auch Krankenstation, aber sie befand sich in der Wohnzone. In der Baracke standen gewöhnliche, zweistöckige Pritschen, auf denen die Dahinsiechenden in den üblichen Lagerlumpen lagen. Die Baracke war in vier Sektionen unterteilt, für jeweils 40-50 Kranke. Eine dieser Sektionen stand für die Tuberkulosekranken zur Verfügung, eine andere für Häftlinge, die an Pellagra erkrankt waren.
Die Haupt-Krankenstation, die von JOSIFIDI geleitet wurde – das Zentral-Krankenhaus des ILANSKER Sonder-Lagerpunktes – befand sich in der abgeteilten Krankenzone. Dort lagen die Kranken in Betten, es gab sogar so etwas wie Bettwäsche. Zum Zuständigkeitsbereich von JOSIFIDI gehörte auch das Ambulatorium, das , ebenso wie die Baracke der Unterernährten, in der Haupt-Wohnzone lag. Das Ambulatorium wurde von einer Frau geleitet, einer Ärztin mit Nachnamen BURMATOWA oder BURMAKOWA. Sie war auch nach § 58 verurteilt worden. Die Ärztin Amina Stepanowna (geb. ~1905) aus ALMA-ATA arbeitete in CHROMOWO als Stomatologin. Sie fuhr zwischen den verschiedenen Lagerpunkten des ILANSKER Sonder-Lagepunktes hin und her. Zu der Zeit, als Wadim Michailowitsch in der „Siedlung“ arbeitete, behandelte sie bei einem ihrer dortigen Besuche seine Zähne. Sie hatte eine Haftstrafe von insgesamt drei Jahren (aber auch nach § 58) und wurde in der ersten Hälfte der 1940-er Jahre freigelassen. Nach ihrer Freilassung lebte sie in Kansk.
Zu Wadim Michailowitsch in die Baracke wurden Dahinsiechende aus allen Lagerpunkten des ILANSKER Sonder-Lagerpunktes gebracht. Formell wurde die Baracke von einem Labor-Arzt namens OSINOWSKIJ (geb. ~1895) geleitet (d.h. einem Spzialisten für medizinische Analysen), aber er befaßte sich weder mit Diagnostik, noch der Behandlung von Kranken, sondern schaute lediglich jeden Tag einmal in die Baracke hinein, buchstäblich für 5 Minuten, und ging dann sofort wieder. Er hatte eine Haftstrafe von 10 Jahren nach § 58. Im Jahre 1947 wurde er freigelassen und lebte später in Kansk.
Ständig gab es zu wenig Medizin, es gab überhaupt nichts, um die Tubekulosekranken zu behandeln. In den Jahren 1942-1943 verstarb am ILANSKER Sonder-Lagerpunkt nicht weniger als die Hälfte der Lagerinsassen. Dennoch konnten viele gerettet werden. Lungenentzündungen heilte man durch die verabreichung von Injektionen mit Sulfamin.
Besonders viele Dahinsiechende wurden vom Lagerpunkt MAMONTOW LOG nach CHROMOWO gebracht. Dort herrschte auch während des Krieges die höchste Sterblichkeitsrate. MAMONTOW LOG zählte zu den unheimlichsten Orten des gesamten ILANSKER Sonder-Lagerpunktes. Die Leitung wandte stets eine Standarddrohung an: ich werde dich nach Mamontow schicken!
Im Sommer gingen die Unterernährten, jedenfalls die, die noch aufstehen konnten, am frühen Morgen bis zum Weckruf nach draußen und pflückten alle Kräuter, die während der Nacht aus dem Boden herausgewachsen waren: “sie grasten dort“. Wadim Michailowitsch erinnert sich an einen dieser Entkräfteten, der nicht seine Verlegenheit darüber verbergen konnte, dass auch er so „graste“. Es war Professor KAMINSKIJ, ebenfalls Leningrader.
Wadim Michailowitsch befaßte sich in der Krankenstation sowohl mit Diagnostik, als auch mit der Behandlung der Kranken, und außerdem mit dem Sanitätswesen und der Autopsie von Leichen. Gleichzeitig setzte er seine Studien anhand der Monographien und mit Hilfe von G.D. JOSIFIDI fort.
In der Krankenzone, d.h. im Zentral-Krankenhaus des Sonder-Lagerpunktes, war JOSIFIDI der einzige Arzt. Bei ihm arbeiteten zwei Feldscher: ein hochgewachsener, hagerer,ältlicher Ukrainer namens GETMAN und der armenische Sozialdemokrat (Menschewik) Abbas Georgiewitsch ISAAKJAN (geb. ~1900).
Sie hatten ihn ungefähr 1924 eingesperrt und seit der Zeit nicht ein einziges Mal in die Freiheit entlassen. Als seine nächste Haftstrafe dem Ende zuging, schickten sie ihn auf Etappe nach Jeriwan und verpaßte ihm dort eine neue Haftstrafe. Er war der leibliche Neffe des Poeten Awetik Isaakjan, der seit 1911 in der Emigration lebte, sich jedoch 1936 besann und nach Armenien zurückkehrte, d.h. damals schon in die UdSSR (noch in der Emigration hatte er nachdrücklich Lenin und Stalin gerühmt).
Nachdem er zurückgekehrt war, erfuhr er, dass sein Neffe im Gefängnis saß. Gern wollte er ihn wiedersehen. Um den Neffen abzuholen schickten sie einen Sonderbeauftragten, aber als er bei A.G. ISAAKJAN im Lager erschien und erklärte, dass er zu dem Poeten gebracht werden sollte, da antwortete Abbas Georgiewitsch: „Ich wünsche nicht ihn zu sehen, er hat sein Volk verraten!“ Der Beauftragte konnte ihn nicht zwingen, dem Wunsch nachzukommen, und so fuhr er unverrichteter Dinge wieder ab.
Die Worte des Neffen wurden Awetik Isaakjan jedoch offenbar ausgerichtet.
Es war ein bemerkenswerter, sehr sauberer und ehrbarer Mann. Die Jahrzehnte in Unfreiheit hatten ihn nicht zerbrechen können. Er war bereit den Menschen in allem zu helfen, was in seinen Kräften stand: er setzte sich für die Schwachen ein, verteidigte sie vor Ungerechtigkeiten, teilte seine Ration mit den Hungrigen. Erst Mitte der 1950-er Jahre wurde er in die Freiheit entlassen und kehrte nach Jeriwan zurück. Sein Onkel, bereits Preisträger der Stalin-Prämie von 1946, war schwer krank (er starb 1957). Abbas Georgiewitsch ging zu ihm und sagte: „Verzeih,dass ich mich damals geweigert habe, zu dir zu kommen!“
Der sterbende Poet schüttelte den Kopf: „Weshalb denn verzeihen? Du hast ja recht gehabt!“
Von dieser Begegnung erfuhr Wadim Michailowitsch von A.G. ISAAKJAN selbst, als er 1962 geschäftlich nach Jeriwan kam. Kurz darauf, noch unter Chruschtschow, wurde ISAAKJAN aus Jeriwan nach Leninakan ausgesiedelt. Dort starb er Ende der 1960-er Jahre oder Anfang der 1970-er, ohne jemals seine Rehabilitation erhalten zu haben. 32 Jahre seines Lebens hatte er in Lagern verbracht.
In der Krankenstation in CHROMOWO gab es in den 1940-er Jahren fast überhaupt keine Läuse. Wenn auch nur eine einzige gefunden wurde – dann war das schon ein „AE“ – ein außergewöhnliches Ereignis! Die Lagerleitung, darunter auch CHIMOWSKAJA, achteten äußerst streng darauf.
Damals war MAKAROW der Leiter des ILANSKER Sonder-Lagerpunktes. 1941 schickten sie DUDA an seinen Platz, der hunderte von Häftlingen in AGUL ins Grab gebracht hatte, wofür er sich 1938 drei Jahre Lagerhaft einbrachte, - siehe Verbannungs- / Lagerhaftbericht von F.D. Toroptschenko, - aber er saß gar nicht so lange ein, sondern kam erneut in die Reihen der Leitung. Anfang 1942 beseitigte man ihn allerdings und setzte erneut MAKAROW auf seinen Platz. 1944-1945 war SURNIN Leiter des Sonder-Lagerpunktes (siehe Verbannungs- / Lagerhaftbericht von W.K. Mattern).
Im September 1942 schickten sie Wadim Michailowitsch als Feldscher nach AKSCHA, aber nicht in jene Zone, in der er früher gesessen hatte, sondern zur Spiritusfabrik. Das war ein Regimelager, in dem ausschließlich Kriminelle untergebracht waren, vor allem Rezidivisten – „Schwergewichtige“.
Dort gab es in der Wohnzone nur eine einzige Baracke. Im November 1942 wurden die Spiritusfabrik und die Lagerzone geschlossen und Wadim Michailowitsch nach AKSCHA (zum Haupt-Lagerpunkt) versetzt. Von dort kam er zum Holzabflößen in eine Lageraußenstelle am Fluß Pojma. Diese Lageraußenstelle (POJMA) war das ganze Jahr in Betrieb – im Winter stapelten die Häftlinge dort Holz, das sie über den vereisten Weg von AKSCHA herantransportierten.
1943-1944 war MAKARENKO Leiter des Lagerpunktes AKSCHA.
Im Mai 1943 schickten sie Wadim Michailowitsch (ebenfalls als Heilgehilfen) nach TSCHEREMSCHANYJ KLJUTSCH in die Holzabflößerei. Im Herbst 1943 gelangte er zusammen mit den Häftlingen, die am Fluß ungeordnete Holzstämme zerlegten und die Stämme flußabwärts stießen (dafür waren am Fluß Wehre eingerichtet worden, aus denen, wenn nötig, das Wasser abgelassen werden konnte, um die Strömung zu verstärken), den Pojma hinunter – bis nach NISCHNIJ INGASCH. In CHROMOWO waren mitten in der Zone, am Pojma, ebenfalls ein Wehr und auch eine Schleuse für den Durchlaß des Holzes gebaut worden, damit es nicht auf den Sandbänken festhing.
Nachdem er mit den Holzflößern INGASCH erreicht hatte, hörte Wadim Michailowitsch zum ersten Mal seit mehreren Jahren Schiffssirenen. Er blieb dort nicht lange. Sie schickten ihn zurück nach AKSCHA, und im Winter saß er in WERCHNJAJA POJMA, wo sich ebenfalls eine Holzfäller-Lageraußenstelle befand.
Im Herbst 1944 fuhr er noch einmal mit den Flößern bis nach NISCHNIJ INGASCH (Kreisstadt), wo sich der INGASCHSKER Sonder-Lagerpunkt befand (der damals auch zum Bestand des KRASLAG gehörte). Zu dieser Zeit war JOSIFIDI bereits Oberarzt im INGSCHSKER Sonder-Lagerpunkt. Er ließ Wadim Michailowitsch in INGASCH, um das Ambulaorium zu leiten.
Die dortige Apotheke führte AMRAMOWITSCH, in der Krankenstation arbeitete eine Deutsche namens MILLER geb. ~1905) als Sanitäterin; sie war nach § 58 zu 10 Jahren verurteilt worden.
Im Ambulatorium des INGASCHSKER Sonder-Lagerpunktes gab es ein Radio.Wadim Michailowitsch wohnte in einem Zimmer beim Ambulatorium. Zusammen mit ihm wurde es von dem Stomatologen und Zahnprothetiker Anatolij Georgiewitsch OSTROWSKIJ (1898-1968) bewohnt. Man hatte ihn in MOSKAU festgenommen, - zuerst wegen eines harmlosen Alltagsvergehens. Dann gaben sie im 10 Jahre nach § 58. Dort, im Ambulatorium, befand sich auch sein Arbeitszimmer. Ungefähr 1947 ließen sie ihn frei. Nach seiner Entlassung lebte er zuerst in Kansk, später in Reschoty. Dort blieb er bis an sein Lebensende.
Bei Wadim Michailowitsch arbeitete der Litauer Mikolos Nikolajus DANISEVITSCHUS, geb. 1881) als Sanitäter. (Von Beruf war er eigentlich Eisenbahner; verhaftet am 14.06.1941 in KEDAJNJAI, und am 02.01.1943 von einer „Sonder-Sitzung“ zu 10 Jahren verurteilt).
Im INGASCHSKER Sonder-Lagerpunkt gab es ziemlich viele Litauer. Dort waren auch Letten, allerdings erheblich weniger. STULGINSKIS war Brigadier der Wirtschaftsbrigade (für Innenarbeiten in der Zone). Nach Auffassung der nicht-litauischen Häftlinge war er Litauens Premierminister (Aleksandras Domininko STULGINSKIS, 1895-1969 – erster Präsident Litauens von 1920 bis 1922). Er wurde am 14.06.1941 auf seinem Landgut im KRETINGSKER Amtsbezirk festgenommen – 10 Jahre Haft. 1952 wurde er erneut verhaftet, ab 1954 befand er sich in KOMI (zusammen mit seiner Familie) in der Verbannung. 1956 kehrte er nach Litauen zurück.
Die meisten Lagerinsassen freuten sich über das Ende des Krieges, denn es gab die starke Hoffnung auf eine allgemeine Amnestie. Die Litauer und Letten äußerten keine Freude.
Außer JOSIFIDI saßen noch einige Griechen in NISCHNIJ INGASCH ein. Einer von ihnen war TAKSIDI (geb. ~1915). Er war nach § 58 zu 10 Jahren verurteilt worden. Er arbeitete als Kommandant (oder Gehilfe des Kommandanten). Freigelassen wurde er etwa 1947. Später begab er sich nach Italien (wahrscheinlich war es ihm gelungen, die ausländische Staatsbürgerschaft zu behalten).
In der Lagerzone in N. INGASCH saßen mehr als tausend Häftlinge. Unter ihnen waren Nichtpolitische und Diebe. Die Krankenstation befand sich ebenfalls in der Wohnzone und nicht, wie in CHROMOWO, von ihr getrennt.
Operationen führte G.D. JOSIFIDI selbst durch. Ihm assistierten entweder Wadim Michailowitsch oder die Leiterin der Krankenstation WALOWA.
1945 mußte sich Wadim Michailowitsch eine Zeit lang in KANSK aufhalten, in der Kraslag-Zone. Es war ein großes Lager, das als Durchgangslager diente. Es befand sich im Süden der Eisenbahnlinie (die Stadt selbst grenzte im Norden daran an). Dort arbeitete an der Brotschneidemaschine der Bulgare POPOW, Kominternmitglied, der in Deutschland zusammen mit Georgij Dimitrowitsch verurteilt worden war.
Im INGASCHSKER Sonder-Lagerpunkt saß wegen § 58 ein gewisser POLJAK (Betonung auf O, geb. ~1890). Er beherrschte die deutsche Sprache ziemlich gut und erlernte innerhalb weniger Monate auch Wadim Michailowitschs Sprache.
G.D. Josifidi wurde am 16.06.1946 aus dem INGASCHSKER Sonder-Lagerpunkt freigelassen (sie hatten ihm entweder ein Jahr angerechnet oder es einfach wegfallen lassen). Er lebte in Reschoty und arbeitete dort als Oberarzt. Später ernannte man ihn zum Direktor des Tuberkulose-Sanatoriums in KANSK. Später begab er sich nach Kaluga.
Einen Monat nach JOSIFIDI, am 20.07.1946, wurde auch Wadim Michailowitsch freigelassen. Und das sah so aus: alle, deren Haftstrafe beendet war, wurden unter Wachbegleitung nach KANSK gebracht; dort wurde die Freilassung formell erledigt und die Leute am nächsten Morgen entlassen. Die ersten Tage in Freiheit verbrachte er in Kansk. Nicht lange vor ihm, bereits im Sommer 1946, war aus dem KRASLAG ein gewisser PAWLOW, ehemaliger Mitarbeiter der OGPU und des NKWD, entlassen worden. Man hatte ihn damals im Ural oder im Wolgagebiet festgenommen.
Nach seiner Freilassung arbeitete Wadim Michailowitsch als Feldscher im Nischneingaschsker Kreis: zuerst an der Feldscher-Station in dem Dörfchen Ilinka (am Fluß Pojma), später in dem Dorf Kutscherowo, in Tuguscha (südlich der Eisenbahnlinie, man gelangte über Kasjanowo dorthin), und Ende dr 1940-er Jahre an der Bahnstation Tinskaja. 1948-1949 wurden dort Züge mit verbannten Litauern abgeladen.
1946, als er in Ilinka arbeitete, lernte er einen betagten Arzt mit Nachnamen WELIKANEZ (oder WELKANEZ) kennen, einen Polen aus der Gegend von Wilnius, der nach seiner Entlassung aus dem Lager in dem Dorf Lebjasche (existiert heute nicht mehr), ca. 5 km von Ilinka entfernt, arbeitete.
1954 schrieb sich Wadim Michailowitsch ins Krasnojarsker Medizin-Institut ein. 1955 erhielt er seine Rehabilitation. 1960 beendete er das Institut und arbeitete in der kardiologischen Abteilung des Gebietskrankenhauses Nr. 1. Seit 1966 lebt er in Nowosibirsk.
05.08.1994 Aufgezeichnet von W.S. Birger, „Memorial“-Gesellschaft, Krasnojarsk