Alexander Kornejewitsch Wibe wurde 1935 in der Ukraine, im Dserschinsker Bezirk, Dorf Nikolajewka geboren. Unweit des Dorfes lag die Stadt Stalin.
Alexander Kornejewitschs Vater, Kornej Petrowitsch Wibe (geb. 1895), diente während des I. Weltkriegs als Sanitäter und arbeitete zu Friedenszeiten als Müller; die Mutter, Jelisaweta (Elisabeth) Nikolajewna Falkenstern (geb. 1897) war Hausfrau. In der Familie gab es drei Kinder: Mina (geb. 1925), Olga (geb. 1927), Alexander (geb. 1935).
Die Wibes besaßen ein Haus und hielten eine Kuh. Sie lebten, arbeiteten friedlich auf ihrem Stückchen Land, wie es in der damaligen Zeit alle taten. Aber das gleichmäßige Leben währte nicht lange: es kam das schreckliche Jahr 1937. Eines Abends kamen Leute und brachten das Familienoberhaupt fort, ohne zu sagen wohin. Die arme Elisabeth Nikolajewna lief zum Gefängnis, brachte sogar Päckchen mit, aber man ließ sie noch nicht einmal über die Schwelle treten – und das Mitgebrachte warfen sie einfach weg. Drei Monate später wurde Kornej Petrowitsch erschossen; man hatte ihn beschuldigt, ein Volksfeind zu sein und ihm unterstellt, dass er die Mühle hatte sprengen wollen. Erst 50 Jahre später kam ein Schriftstück aus der Ukraine, in dem es hieß, dass er überhaupt nicht schuldig gewesen war, sie ihn posthum rehabilitiert hätten, man aber nicht wüsste, wo er begraben liege.
Das Leben ohne Vater wurde immer schwieriger, aber auch dieses Elend sollte für die Familie noch nicht das letzte sein. Unmittelbar vor Kriegsausbruch, im Jahre 1941, wurde Alexander Kornejewitschs Mutter, Elisabeth Nikolajewna, nach § 58 verurteilt, weil abends immer Freundinnen zu ihr gekommen waren und sie gemeinsam die Bibel gelesen und gebetet hatten. Diese Aktivitäten der Frauen wurden als gegen die Sowjetmacht gerichtete Propaganda gewertet, und alle wurden zu 8 Jahren verurteilt. Die Behörden interessierte es damals nicht, ob damit drei Kinder ohne Eltern zurückblieben ….. Wie viele Erschwernisse und Schicksalserprobungen lagen zu Beginn des Krieges auf den Schultern von Alexander Kornejewitschs ältester Schwester Mina, die gerade 16 Jahre alt war. Sie war nun gezwungen, besonders schnell erwachsen zu werden, denn es galt, die kleineren Geschwister großzuziehen.
Als der Krieg ausbrach, wurden alle Deutschen aus dem Dorf Nikolajewka nach Kasachstan geschickt. Über die beschwerliche Fahrt erzählt Alexander Kornejewitsch folgendes: „Sie trieben uns in Viehwaggons, es gab keine Toiletten; es war schrecklich mit ansehen zu müssen, wie sie die Toten einfach aus dem Zug warfen und dann die Reise fortsetzten…“.
„Im Oktober 1941 brachten sie uns nach Kasachstan, um es genauer zu sagen – in die Ortschaft Tosuak im Ilimsker Bezirk, Akmolinsker Gebiet. Die Ortsbewohner, Kasachen, glaubten, dass wir einäugig wären und ein Horn hätten; es waren gänzlich wilde Menschen; sie hielten ausschließlich Vieh und bauten überhaupt nichts an…“. Solange die Deutschen noch irgendwelche mitgebrachten Sachen besaßen, tauschten sie sie gegen Lebensmittel ein, aber später, als alles zur Neige gegangen war, begann für sie eine schreckliche Hungerzeit. Um die kleinen Kinder irgendwie durchzubringen, mahlte die Mutter Mehl in einer Handmühle, und sie drehte dabei die schweren Mühlsteine tagelang. Als das gemahlene Mehl endlich durchgesiebt war, gab man ihr anstelle von Geld einfach Kleie. Salz konnte man nirgends bekommen. Sie aßen alle möglichen Gräser, fingen sogar Springmäuse und kochten anschließend daraus eine Brühe; sie sah weiß aus und hatte den Geschmack von Seife. Manchmal gelang es mit Stöcken eine Bisamratte zu erschlagen, ihr Fleisch galt als äußerst schmackhaft. Für die verrichteten Tagesarbeitseinheiten bekamen sie sehr wenige Lebensmittel – es reichte nicht einmal für drei Personen. Einmal beschloss Mina, den Vorsitzenden um ein wenig Mehl auf Pump zu bitten; sie sagte ihm, sie würde das später abarbeiten; aber sie bekam nichts, der Vorsitzende schlug ihr ins Gesicht und meinte nur „anständig arbeiten musst du“ und warf sie aus dem Kontor. Sie ging nach Hause, weinend und blutverschmiert.
In der Kolchose erkrankte das Vieh, Die Ochsen verendeten, und die Tierärzte, die ins Dorf gekommen waren, sagten, dass niemand deren Fleisch essen sollte – das sei sehr gefährlich. „Die kranken Ochsen gingen ein, man brachte sie zum Bestattungsplatz, und dort warteten bereits all unsere Deutschen: sie schnitten die Kadaver auf und zogen ihm das Fell ab, und das Fleisch kochten sie; die Veterinäre warnten sie, dass sie es nicht essen sollten, sonst würden sie alle sterben, aber sie blieben am Leben …“. In Kasachstan gab es viele Wölfe; sie waren furchtlos und rissen sowohl Menschen als auch Tiere. Nachts streunten sie um die Hauseingänge herum und man konnte den Eindruck gewinnen, als seien sie die uneingeschränkten Herren des Dorfes bei Nacht. Einmal rissen sie 40 Hammel – und nach kasachischem Glauben, darf der Mensch das, was ein Wolf getötet hat, nicht essen; deswegen gaben sie das Fleisch den Deutschen. Es war schmackhaft und fett, aber es gab kein Brot. Sie mussten es so essen, aßen zu viel davon und wurden magenkrank …
Um die Kleidung war es sehr schlecht bestellt; die alten Sachen, die sie schon mit hierher gebracht hatten, waren schnell abgetragen und zerfetzt, Schuhwerk gab es überhaupt nicht; deswegen gingen sie barfuß. Und es gab auch keine Unterwäsche. Alexander Kornejewitsch erinnert sich: „Als ich acht Jahre alt war, nähten sie mir doppelt gelegte Unterhosen aus Mull; ich freute mich sehr darüber und stolzierte glücklich mit ihnen herum…“. Und dieses Problem gab es nicht nur in ihrer Familie, sondern in vielen anderen verhielt es sich ebenso. „….. Ein schon erwachsener Bursche von 18 Jahren, er hieß Rendol, war Traktorfahrer, aber seine Kleidung war schon so schlecht, dass er nichts mehr zum Anziehen hatte. Deswegen lag er nackt auf seinem Bett, nur mit einer leichten Decke zugedeckt. Vertreter der Leitung kamen zu ihm nach Hause, schimpften mit ihm, dass er dort tatenlos herumläge; sie sagen zu ihm: geh raus – an die Arbeit, sieh zu, dass du den Acker pflügst…. Aber er hatte doch nichts zum Anziehen! Da nähten sie ihm eine Hose aus Wildleder; sie war weich und dick, und damit lief er dann herum. Aber sie veränderte ziemlich schnell die Farbe – aus der ursprünglich weißen wurde bald eine braun-schwarze….“. Es gab auch noch einen weiteren widrigen Umstand: obwohl sie ihre Kleidungsstücke reinigten und wuschen – fraßen die Läuse sie auf; vielleicht aus Hunger. „ ….Wenn man bei der mittleren Schwester Olga die Haare anhob, sah man, wie es vor Läusen nur so wimmelte; sie liefen wie die Ameisen. Es gab keine Kämme, um sie auszukämmen. Deswegen rieb man ihr den Kopf mit Dieselöl ein und band ihr anschließend ein Kopftuch um. Die Läuse erstickten. Es gab viele durch Hunger und Schmutz verursachte Krankheiten…..“
Abends heizte die älteste Schwester Mina den Ofen ein. Alexander Kornejewitsch erinnert sich: „Einmal sah ich meine Schwester Mina vor dem Ofen; sie rührte sich nicht und sah unentwegt ins Feuer. Damals war ich noch ein Kind und begriff die Situation nicht; aber ein paar Jahre später verstand ich ihren Anblick: ihre Augen waren voller Schmerz gewesen, verängstigt durch all das Unbekannte, Durchgemachte und verzweifelt von der Frage: werden wir überleben, werden wir die Mutter wiedersehen..:::?“
Aber die Kinder blieben nicht mehr lange zusammen: genau ein Jahr später holten sie die älteste Schwester Mina zur Arbeitsarmee in den Ural; Olga, die mittlere Schwester, blieb und arbeitete weiter in der Kolchose, während Alexander zu Oma Kaschlaj zog. Er hütete ihre Ziegen, reinigte die Ställe, und dafür gab sie ihm zu essen. Nach dem Krieg war das Leben in der Kolchose ganz schlecht. Man schickte Tschetschenen in die Ortschaft Tosuak; anfangs ging es ihnen noch gut, denn sie hatten viele Vorräte mitgebracht, sogar Mais. Aber als bei ihnen dann alles zur Neige gegangen war, fingen sie an zu sterben; in der Folgezeit waren es sehr viele von ihnen, die nicht überlebten.
„ …Und meine Schwester und ich beschlossen in ein anderes Dorf zu fliehen, in dem Deutsche und Russen wohnten. Es lag etwa 100 km von unserer Ortschaft entfernt und hieß Dobroljubowka. Am frühen Morgen machten wir uns auf den Weg, gingen 5 Stunden zu Fuß; zu essen hatten wir nichts. Unterwegs kamen wir auch durch andere Dörfchen, in denen wir um Almosen baten … Dann brach die Nacht über uns herein, wir hörten die Wölfe, und so versteckten wir uns in einem Sarg auf dem Friedhof. Dort stach meine Schwester sich irgendetwas in den Fuß. Irgendwie verbrachten wir die Nacht; die Wunde im Fuß entzündete sich und begann zu eitern. Schließlich konnte sie nicht mehr laufen, aber dann – nach sechs Tagen Fußmarsch – kam uns plötzlich ein Reiter entgegen, der sich als Freund meines Vaters erwies. Er erkannte uns, setzte uns auf sein Pferd und brachte uns nach Dobroljubowka. Dort sorgten sie dafür, dass wir uns satt aßen und uns ein wenig erholen konnten. Etwas später schickte uns die älteste Schwester Mina eine Einladung, zu ihr in den Ural zu kommen – das war 1946. Man sammelte Geld für uns, damit wir Fahrkarten kaufen konnten, und dann fuhren wir los …“. Im Ural ließ es sich auch ganz gut leben. Und hier war es dann auch, wo der elfjährige Alexander Kornejewitsch zur Schule, in die erste Klasse, kam. Seine Schwester Olga heiratete. 1950 kam aus der weit entfernten Verbannten-Stadt Jenisejsk ein Brief, in dem ihre Mutter Elisabeth Nikolajewna, über deren Schicksal lange Zeit nichts bekannt gewesen war, ihre Kinder zu sich rief. Ohne lange nachzudenken machte A.K. sich zusammen mit seiner ältesten Schwester auf den weiten Weg zur Mutter. Zunächst fuhren sie bis Krasnojarsk, dann schwammen sie drei Tage lang mit dem Motorschiff „Majakowskij“ bis nach Jenisejsk. Die ersten Eindrücke von Jenisejsk waren folgende: „Um 7 Uhr morgens trafen wir in Jenisejsk ein, es war ein sonniger Tag; wir gingen von Bord und traten auf die Lenin-Straße hinaus. Der Weg war ganz aus Schotter, und mir kam es wie ein Wunder vor: eine Stadt, die wie ein Dorf aussieht. Kühe liefen auf den Wegen herum, Asphalt gab es nicht. Es gab einen großen Park, dort liefen die Menschen auf Bürgersteigen spazieren, hörten Musik – und neben dem alten Museum waren Marktstände aufgebaut; dort wurde Fisch verkauft – dick und fettig …“.
Alexander und Mina gingen den Weg entlang, und da kam ihnen Tante Susanna entgegen; sie war eine Freundin Elisabeth Nikolajewnas und befand sich zusammen mit ihr in der Verbannung. Von der Begegnung mit Tante Susanna und der Mama erzählt A.K.: …“ Wir umarmten uns, begannen zu weinen, und Tante Susanna brachte uns in die Wohnung. Und Mama wäre beinahe in Ohnmacht gefallen …“.
Elisabeth Nikolajewna nahm sich ein Zimmer in der Leninstraße N° 12. Sie verdiente ein wenig Geld dazu, indem sie auf dem Basar Sachen verkaufte, welche die Leute ihr brachten. Wenn es erforderlich war, ein Mäntelchen für 15 Rubel zu veräußern, durfte sie es für 20 Rubel weggeben; der ursprünglichen Besitzerin gab sie die verlangten 15 Rubel, und den Rest durfte sie behalten. Das war ihr Verdienst. Tante Susanna arbeitete in der Schneiderei und unterstützte damit ihre Familie. Mina begann als Krankenpflegerin im städtischen Krankenhaus zu arbeiten. Und Alexander ging weiter zur Schule, aber sobald er 16 Jahre alt geworden war, kamen unerwartete Besucher in die Schule: „Ich war erst einen Tag zuvor 16 Jahre alt geworden, da tauchten auch schon NKWD-Leute in der Schule auf, betraten die Kasse und sagten: „Du bist der Sohn von irgend so einem Volksfeind – dadurch bist du selber ein Feind des Volkes; du wirst dich in Zukunft regelmäßig melden und registrieren lassen; und entferne dich ja nicht mehr als 20 km von der Stadt – das gilt als Fluchtversuch…“. Das verkündeten sie mir also vor der gesamten Klasse; alle schwiegen, aber es hatte schlimme Auswirkungen auf die Kinder. Tatsächlich fingen sie an mich als Feind anzusehen. Ich konnte das nicht ertragen – es war zu viel für mich. Nach dem Unterricht begab ich mich unter die Brücke und war bereit mich zu ertränken …. Ich saß dort und saß – und dachte nach….“. Von dem Zeitpunkt an begab sich Alexander Kornejewitsch dann in regelmäßigen Abständen wegen der Meldepflicht in die Kommandantur. An einem solcher Meldetage rief Kommandant Sigotschenko ihn zu sich und machte ihm folgenden Vorschlag:
- Bist du Komsomolze?
- Nein.
- Na, macht nichts. Ich nenne dir drei Häuser, dort wohnen Verbannte. Ich möchte, dass du dort hingehst und dich mal umhörst, worüber sie sich so unterhalten. Und dann erstattest du mir Bericht …. Aber trotz aller Überredungsversuche willigte Alexander Kornejewitsch nicht ein.
Sein Lieblingsfach in der Schule war Zeichnen; den Unterricht leitete der bemerkenswerte Jenisejsker Künstler Aleksander Iwanowitsch Darwin, Absolvent der Stroganow-Fachschule. Dieser Mann bemerkte Alexander Kornejewitschs Talent und Bemühungen und bot ihm an, zu ihm nach Hause zu kommen und dort gesonderten Unterricht zu nehmen – und Alexander Kornejewitsch nahm den Vorschlag an. Das Erste, was ihm ins der kleinen Wohnung des Künstlers ins Auge fiel, war die Vielzahl von Bildern. „ … Ich stand da, wie zu einer Säule erstarrt, mit geöffnetem Mund – so schön sahen sie aus…“. Aleksander Iwanowitschs Ehefrau Pana versorgte den Jungen mit Essen; und so fing Alexander Kornejewitsch, zusammen mit seinem Kameraden Wladimir Tschernow, an, sich mit der Malerei zu beschäftigen. Die angenehmsten Momente seines Lebens überhaupt stehen mit diesem Malunterricht in Verbindung. Alexander Kornejewitsch sagt: „Bis heute male ich, auch wenn aus mir nie ein richtiger Künstler geworden ist, aus der Laune heraus – immer dann, wenn mir der Sinn danach steht …“.
Im Jahre 1953, nachdem der die 7-Klassen-Schule absolviert hatte, fand Alexander Kornejewitsch Arbeit in einer Tischlerwerkstatt. Sein gesamtes Arbeitsleben umfasst 48 Jahre. Anfangs war Alexander Kornejewitsch unter er Anleitung seines Meisters, Lew Jakowlewitsch Golbfata, einem Verbannten, tätig, der mit ihm in demselben Haus wohnte; er hatte vor der Verbannung in Petersburg gelebt und war Redakteur der Zeitung „Medizinische Wahrheit“. Alexander Kornejewitsch erinnert sich an ihn und erzählt, dass er ein sehr guter Mensch war, gerecht und aufrichtig, aber dass er trotz dieser guten Eigenschaften keine Ahnung vom Tischler-Handwerk gehabt hätte. Und so kam es, dass Alexander Kornejewitsch seinen Lehrmeister schon sehr bald eingeholt hatte. Lew Jakowlewitsch bekam Zuschläge zu seinem Lohn, und er gab einen Teil des Geldes immer an Alexander Kornejewitsch ab. Als Leo Jakowlewitsch rehabilitiert wurde, fuhr er nach Petersburg und später zu seiner Tochter nach Weißrussland, wo er auch starb. Alexander Kornejewitsch erhielt einen Arbeitslohn in Höhe von 50 Rubel; davon konnte man in der damaligen Zeit 10 Eimer Kartoffeln kaufen; trotzdem hatte die Familie ein schweres Leben. Ihre Rettung waren Hilfspakete aus der Ukraine, welche die leibliche Schwester der Mutter ihnen gelegentlich schickte.
Später heiratete Alexander Kornejewitsch Vera Aleksandrowna Baschenowaja; die beiden haben drei Kinder und wie A.K. sagt, sind sie alle gut geraten. Nachdem nun all diese schrecklichen Ereignisse, die mit der Familie und dem ganzen Volk geschehen sind, so viele Jahre zurückliegen, meint Alexander Kornejewitsch: „ …Ich weiß nicht, warum sie uns damals dermaßen eingeschränkt und niedergedrückt haben; wir sind doch schließlich schon in Russland geboren, haben hier friedlich und gut gelebt …“.
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken