Emma Genrichowna Gabduraschitowa (Mädchenname Wingert) wurde 1936 geboren. Der Vater, Heinrich Friedrichowitsch (geb. 1909) war ein gebildeter Mann. Er absolvierte das Institut und arbeitete als Verkäufer in allen drei Dorfläden – den Geschäften für Industriewaren, Lebensmittel und Haushaltswaren. Die Mutter, Sophia Christianowna Richter (geb. 1911), war Hausfrau. Die Familie war groß, es gab 10 Kinder. Sonja starb noch in Alt-Urbach. Bei ihnen lebte auch noch Großmama Julia, Vaters Mutter; sie arbeitete bis zur Deportation in Kinderkrippen als Kindermädchen.
Die Ortschaft Alt-Urbach war groß; dort wohnten nur Deutsche. Sie sprachen in ihrer Muttersprache. Es gab dort eine Kinderkrippe bzw. einen Kindergarten, eine Kirche und insgesamt drei Geschäfte, in denen der Vater tätig war. Die Bewohner besaßen große Gärten. Die Straßen waren breit und machten einen freundlichen Eindruck.
Die Familie bewohnte ein großes Haus aus ungebrannten Lehmziegeln, von außen mit weißem Lehm verputzt, mit kleinen Fensterchen, die mit Spitzenvorhängen geschmückt waren. Ein großer Garten, eine gesunde Hofwirtschaft. Emma Genrichowna erinnert sich, dass sie auch eine Kuh besaßen. Aus dieser Zeit hat Emma noch die schönsten Kindheitserinnerungen, aber an die Zeit die wenig später in ihre Kindheit hereinbrach, kann sie nur mit Schaudern zurückdenken.
„Großmama arbeitete im Kinderhort….. Sie kochte einen ganzen Topf voll Eier hart, verteilte an jedes Kind eines und sagte dazu: esst nur, Kindchen, esst…“. Überhaupt erzählt sie mit warmen, herzlichen Worten von ihrer Großmutter, und dabei liegt viel Zärtlichkeit in ihrer Stimme. „Unser Dorf lag am Flussufer, und wir, die Kinder, liefen oft von Zuhause weg, um zu baden; das Wasser war so wohltemperiert, wie kuhwarme Milch, wir konnten von diesem Fluss einfach nicht genug bekommen, so dass Großmama uns oft suchen musste… Im Dorf gab es große Gärten, wo Apfel-, Birnen- und Kirschbäume standen, und wir, die Kleinen, klauten die Früchte; der Wächter jagte uns fort und wir sprangen vor seinen Augen in den Fluss…“
Die Familie lebte einträchtig miteinander; alle waren religiös, hielten die Fastentage ein und begingen die kirchlichen Feiertage. Das kindliche Gedächtnis hat sich Erinnerungen an diese Festtage bewahrt: „Zu Ostern brachte Papa immer ein großes Bündel Weidenruten mit, das in die Diele gestellt wurde; wir bemalten immer Ostereier, buken Pfefferkuchen, denn die Kinder wollten stets etwas Süßes haben, und Konfekt war teuer…. Papa besaß ein Fahrrad, und er nahm uns mit ins Geschäft zur Arbeit. Damals gab es Konfekt der Marke „Dunkas Freude“, und wir wollten doch immer so gern Süßes essen. Manchmal setzte Papa uns auf sein Fahrrad und nahm uns mit zum Laden; und dann meinte er: Kinder, stopft euch schnell die Taschen voll und dann seht zu, dass ihr hier wegkommt….Er nimmt Konfekt, überschüttet uns damit – und wir rennen mit vollen Taschen auf und davon…“. Von so sorglosen und fröhlichen Momenten ihrer Kindheit erzählte mir also Emma Genrichowna. So hätte die Familie Wingert auch noch lange Zeit in Alt-Urbach gelebt, wenn da nicht der Befehl vom 28. August 1941 gewesen wäre, als man ihnen verkündete, dass sie ausgesiedelt werden sollten.
An einem einzigen Tag verlor die Familie alles, was sie sich in vielen Jahren nach und nach angeschafft hatte. Es gelang ihnen, die wunderschöne, frisch gestärkte Bettwäsche, die rote Wanduhr mit dem Pendel, die Ziehharmonika, ein Bündel Kleidung und ein wenig Essen mitzunehmen. Das Packen vollzog sich in aller Eile. „…. Auf dem Dachboden bewahrten wir jede Menge getrockneter Früchte auf, und als wir uns nun zur Abfahrt fertigmachten, da schüttete Mama alle Äpfel und Birnen dem Vieh als Futter hin ….“
Eine Kuh im Dorf – das ist eine wichtige Ernährerin. Es war so schade, dass wir unsere Burenka der Willkür des Schicksals überlassen mussten, und deswegen beschloss Sophia Christoforowna sie an den Leiterwagen zu binden; aber das erlaubte man ihr nicht, und so blieb die wertvolle Ernährerin ohne Hausherren zurück.
Die Kinder weinten. „ Mama setzte uns 5 Kindern (Rosa, Emma, Sascha, Fedja, Andrej) in einen großen geflochtenen Korb, und darin saßen wir während der gesamten Fahrt; es kam aber auch vor, dass wir herausfielen, und dann hoben sie uns auf und setzten uns erneut in den Korb…“. Bis Krasnojarsk fuhren sie mit dem Zug, anschließend mit dem Dampfer bis nach Jenisejsk. „An der Anlegestelle war ein derartiges Gedränge, das wir um ein Haar ins Wasser gefallen wären…“
In Jenisejsk wurden die deportierten Familien verteilt, und die Familie Wingert kam in das Dörfchen Lukjanowo; mit ihnen kamen noch vier weitere Familien dorthin, eine davon waren die Martins. „ … Am ersten Tag wollte niemand uns bei sich aufnehmen, uns ein Zimmer zur Verfügung stellen; wir liegen von Haus zu Haus. Schließlich hatte die Familie Swerew Erbarmen mit uns und ließ uns bei sich unterkommen …“. Lange lebte die Familie Wingert nicht in Lukjanowo: sie wurden noch weiter fortgeschickt, in den Pirowsker Bezirk – das Dorf Tarchowo. Es war recht groß, denn dort lebten 280 Menschen, es gab eine große Farm.
Die Ortseinwohner benahmen sich gegenüber den Neuankömmlingen schlecht. „ ….Sie nannten uns Faschisten, aber das war noch nicht das Schlimmste. Sie töteten unser Schwesterchen Werotschka, damals ein kleiner Säugling, und das kam so: Mama war zum Arbeiten aufs Feld gegangen, und wir halfen ihr dort ebenfalls; wir säten Getreide aus. Nach der Arbeit schickte Mama uns etwas eher nach Hause. Als wir ins Dorf kamen, sahen die anderen Dorfbewohner uns und fingen an uns zu verprügeln und mit Stöcken durchs ganze Dorf zu jagen. Völlig verschreckt rannten wir in unsere kleines Holzhäuschen, kletterten auf den russischen Ofen, damit sie uns mit ihren Stöcken nicht erreichen konnten, schmiegten uns aneinander und weinten und weinten, bis wir dort oben einschliefen; indessen schlief die kleine Werotschka in ihrem Körbchen vor dem Fenster. Einer der Ortsansässigen zerschlug das Fenster mit einem Ziegelstein oder Stock – und dadurch verlor Werotschka ihr Leben … Als Mama nach Hause zurückkam, um das Kindchen zu füttern, sah sie Werotschka tot im Körbchen liegen und fing an zu schreien. … Am nächsten Tag ließ man uns die Kleine noch nicht einmal beerdigen; so ging Mama in der Nacht zusammen mit Martin zum Friedhof und begrub Werotschka in einer kleinen Grube. Ich kann mich noch erinnern, wie Mama die paketähnliche kleine Kiste in ihren Armen trug. Sie nagelten ein Holzkreuz zusammen und banden, um die Stelle immer wiederfinden zu können, einen kleinen weißen Fetzen von einem Bettlaken daran fest.
Um irgendwie zu überleben, tauschten sie alles, was sie mit hierher gebracht hatten, gegen Mehl und Kartoffeln ein, „… 1 kg Mehl kostete 100 Rubel und Kartoffeln ebenfalls…“. Die Kinder konnten sich nie richtig sattessen, sie erkrankten an Rachitis, bekamen Hungerödeme und litten unter Läusebefall. Die Eltern arbeiteten im Dorf Tarchowo. Heinrich Friedrichowitsch arbeitete tagsüber als Verkäufer und nachts als Müller; im Dorf gab es eine Wassermühle. Und Sophia Christianowna war Kolchosbäuerin. Jedes der Kinder war bemüht irgendwie zu helfen, damit die Familie nur keinen Hunger leiden musste. Sie sägten für die ganze Familie Holz mit Hilfe einer Handsäge. Es gab in der Familie viele Kinder. „Später gab man uns aus der Kolchose einen Hand-Milchentrahmer, der mir furchtbar groß vorkam, und der Kolchos-Vorsitzende erlaubte es, dass von der gemolkenen Milch etwas zurückbehalten wurde …“
„ … Ich arbeitete bereits ab dem 12. Lebensjahr, habe dem Koch in der Kolchose geholfen und verschiedene ungelernte Arbeiten erledigt: ich habe Heu gemäht, Garben gebunden und das Unkraut auf dem Feld gejätet, so dass die Hände anschwollen und die Haut aufplatzte – alles habe ich gemacht …“. Mit 13 Jahren arbeitete Rosa als Kälberhirtin, Emma als Köchin, Hirtin, Melkerin … ich hatte 5 Kühe, meine Händchen waren noch klein, manchmal schaffte ich es die Kühe fertig zu melken, manchmal nicht; und essen wollten wir so gerne. Da haben wir die Milch ganz schnell ungefiltert ausgetrunken, damit niemand es sieht. Ich habe auch mit Pferden Wasser vom Fluss transportiert. Im Winter sollte ich Löcher ins Eis hacken und dann das Wasser in Fässer schöpfen, obwohl 40-45 Grad minus herrschten; eingehüllt in löchrige Lumpen mussten man trotzdem losgehen; du kommst an den Fluss und siehst – die Eislöcher sind schon wieder zugefroren…“.
Die Kinder sammelten häufig verfaulte Kartoffeln vom Feld auf und brieten dann daraus Fladen auf dem Ofen; anschließend wurden sie gegessen, wobei die Reihenfolge der Esser streng beachtet wurde. „ …Im Herbst, wenn sie das Getreide in Säcken transportierten, rieselte immer ein wenig des Inhalts auf den Boden, und wenn dann im Frühjahr der Weg auftaute, zogen wir los und sammelten die Körnchen in unsere Handschuhe. Wir bringen sie nach Hause, Mama schüttet die Ausbeute in einen gusseisernen Topf, füllt ihn mit Wasser auf, spült die Körnchen sauber und kocht uns dann daraus Suppe und Brei…“ Der ältere Bruder Andrjuscha stellte runde Henkelgefäße aus Birkenrinde her, fertigte Löffel an und flocht Körbchen und Schalen; außerdem konnte er gut die Portraits von Stalin und Lenin zeichnen. Aber es gelang ihm nicht, ein richtiger Künstler zu werden; man schickte ihn in die Nähe von Krasnojarsk, wo er eine Mechanisatoren-Lehre absolvieren sollte. Der Vater baute selber ein Boot, und damit fuhren sie jeden Sommer zur Jagd und zum Beerensammeln.
Bald darauf holten sie Emmas Vater in die Trudarmee; sie weiß noch, wie er erzählte, dass es dort nichts zu essen gab, dass sie Ledergürtel kochten und Stiefel aus grobem Schweineleder trugen; der Vater wurde dort schwerkrank, und als sie ihn schließlich entließen, hatte er kaum noch Kraft zum Gehen; mit allerletzter Kraft schleppte er sich nach Hause, und als er sich schon dem Dorf Tarchowo näherte, brach er zusammen. Wie durch ein Wunder wurde er von der Nachbarin, Tante Dusja, gerettet. Sie half ihm wieder auf die Beine, in dem sie ihn mit Volksheilmitteln behandelte. So blieb der Familie der Ernährer erhalten.
In die Stadt Jenisejsk, zu Bruder Sascha in der Bograder Straße, zog die ganze Familie 1962 um.
O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken