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Wladimir Worobjew. Späte Rehabilitation

Mein pädagogisches Poem

Zu dieser Zeit befand ich mich zuhause und wirkte häufig in Laienspielgruppen mit, an der Aufführung von Theaterstücken, im Chor; ich sang neue Lieder, die man im Dorf nicht kannte und die aus der Stadt mitgebracht worden waren. Ich gefiel den jungen Leuten, besonders den Kindern aus dem Kinderheim, von denen mich viele schon seit den Zeiten kannten, als mein Vater dort gearbeitet hatte. Mein Vater hatte mir vorgeschlagen Erzieher zu werden. Ich fuhr in die Kreisstadt und erhielt die Ernennung. Als ich Laschkewitsch die Dokumente zeigte, wurde er wütend, rief in der Kreisstadt an und verlangte, daß man mich in ein anderes Kinderheim schicken sollte. Ich war gezwungen, erneut in die Kreisstadt zu fahren, Erklärungen abzugeben und wurde erneut zu Laschkewitsch geschickt. Zähneknirschend willigte er ein mich einzustellen, aber nicht als Gruppenerzieher, sondern als Leiter der Laienzirkel. Und so begannen bei uns die Zirkel zu arbeiten: ein Dramaturgiekreis, Chorgesang, Turnen, ein Nähkurs, Jugend-Naturforschung und künstlerische Kreise. Zu jener Zeit lebten die Kinderheim-Bewohner in materieller Hinsicht nicht schlecht, sie waren wesentlich besser gekleidet als die anderen Kinder im Dorf, was man besonders während der Schulstunden bemerken konnte, denn sie wurden gemeinsam unterrichtet. Auch die Verpflegung war nicht schlecht, obwohl die Kindchen nicht genug zu essen bekamen und deswegen im Sommer häufig in den dörflichen Gemüsegärten herumkletterten. Im großen und ganzen gab es überhaupt keine Disziplin. Die Älteren versorgten die Jüngeren. Der Direktor steckte die, die sich irgendeiner Sache schuldig gemacht hatten, in den Karzer, bestrafte sie mit Arbeitsmaßnahmen, zum Beispiel mit dem Reinigen der Toiletten. Gelegentlich waren unter den Neuzugängen auch schon ganz verdorbene Kinder, sie waren es auch, die im wesentlichen die ganze Disziplin demoralisierten. Die Kinder waren zwischen 7 und 18 Jahre alt , manchmal auch bis 20. Den besten Kindern gestattete man, die 10. Klasse zu beenden, die übrigen bemühten sich um Arbeit, viele wurden zur FSU (Betriebsfachschule; Anm. d. Übers.) geschickt.

Ich begeisterte mich damals sehr für die Pädagogik Makarenkos. Mir gefiel das System der administrativen Zwangsmaßnahmen an den Zöglingen nicht. Aber das Wesen der pädagogischen Lehrer Makarenkos bestand in – Selbstverwaltung, Selbsterziehung, Selbstdisziplin. Ich beaufsichtigte die Zöglinge und bemühte mich, die autoritärsten und zu jenem Zeitpunkt noch nicht verdorbenen Kinder unter ihnen auszusondern. Einer der „ältesten“ Erzieher – er war sogar älter als ich – war Mitja Medwedew. Mit ihm beschloß ich anzufangen. Ich beratschlagte mich mit ihm, und einmal versammelten wir 15 Zöglinge und organisierten mit ihnen die Disziplinargruppe „Jugendliche Leninisten“. Wir führten die Aktion zur Stärkung der Disziplin in der Art von Kriegsspielen durch. Es wurde ein Kommandostab organisiert, in den alle Mitglieder der Truppe aufgenommen wurden. Tagsüber wurden Wachen aufgestellt, und niemand durfte sich ohne Erlaubnis weiter als das Territorium des Kinderheims entfernen. Wenn irgendwo ein Konflikt aufkam oder wenn irgendeines der verdorbenen Kinder begann „an der Wahrheit zu rütteln“, kamen sofort ein paar von der Truppe heran und stellten die Ordnung wieder her. Die körperlichen Strafen und Arbeitsstrafmaßnahmen wurden aufgehoben. Im Gegenteil, wer für schuldig befunden wurde, den bestrafte man mit Untätigkeit. Einen Monat später konnte man das Kinderheim gar nicht wiedererkennen, es war zu einem eng zusammengeschweißten Kollektiv geworden. Die Kinder taten alles von selbst. Der Vorsitzende des Kollektivrates war Mitja Medwedew.

Allerdings entstanden oft Konflikte mit dem Direktor; es kam vor, daß der Kollektivrat diese Entscheidung traf – der Direktor jene. Von Zeit zu Zeit kam es zu einem eigentümlichen Referendum, als nämlich Mitja beide Entscheidungen vor der versammelten Mannschaft zur Entscheidung vortrug und dann in einer gemeinsamen Abstimmung jene Entscheidung angenommen wurde, die nicht der Direktor, sondern das Kollektiv gefällt hatte. All das gefiel Laschkewitsch natürlich ganz und gar nicht. Zu jener Zeit lebte er mit Hilda zusammen, einem der Zöglinge des Kinderheims, und stahl Lebensmittel. Das Erzieher-Kollektiv wollte sogar aus diesem Anlaß einen Brief an den Staatsanwalt schreiben. Aber Laschkewitsch trat rechtzeitig den Rückzug an.

Nachdem er ständig etwas daran auszusetzen hatte, daß die Zöglinge nur mir gehorchten, rief er den pädagogischen Rat zusamme; dort legte man mir die Beschuldigung vor, daß ich mich dem Kollektiv widersetzte, daß ich angeblich alle Erfolge, die im Kinderhaus in der Verbesserung der Lebensumstände erreicht worden waren, einzig und allein mir selbst zuschrieb und daß die Zöglinge nicht die Forderungen der Verwaltung erfüllten, d.h. ihres - Direktors.

Als Anlaß dienten dem Pädagogischen Rat die vorausgegangenen Ereignisse. Wir hatten eine geheime Sitzung der Gruppe in einem der Kombinate, die an das Pionier-Kombinat angrenzten, durchgeführt. Es stellte sich heraus, daß Laschkewitsch sich ebenfalls in diesem Kombinat befand und alles belauschte, was wir sagten. Und natürlich sprachen wir nicht sehr schmeichelhaft über ihn. Fast ganz am Ende unserer Versammlung kam er zu uns herein, bat die Zöglinge den Raum zu verlassen; er blieb mit mir unter vier Augen zurück und erklärte unvermittelt, daß ich offenbar die Sowjetmacht derart liebte, daß ich im Kinderheim eine antisowjetische Organisation gegründet hatte und daß er Maßnahmen ergreifen würde, um meine Aktivitäten gegen den Staat zu unterbinden.

Beim Pädagogischen Rat wurde ich vom Dienst suspendiert, worüber ich sehr empört war, in der Kreisstadt anrief und darum bat, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Aber zu jener Zeit waren andere Kräfte in Bewegung gesetzt worden, und man verdächtigte mich, deren Urheber zu sein. Ich saß fast den ganzen Oktober ohne Arbeit zuhause herum. Währenddessen hetzte Laschkewitsch die Zöglinge gegen mich auf, von denen einige mich auf verschiedenste Weise beschimpften, wenn sie mir begegneten, oder mich verhöhnten. Natürlich nicht jene, die in der Gruppe gewesen waren – sie bedauerten meinen Weggang, sondern hauptsächlich diejenigen, denen unsere Ordnung nicht gefallen hatte.

Und dann, Ende Oktober, nachdem ich mit der Kreisverwaltung telefoniert hatte, sagte man mir, ich sollte in die Kreisstadt kommen, wo man mir Arbeit geben würde. All das war offensichtlich bereits mit dem Einverständnis der MGB-Organe (Organe des Ministeriums für Staatssicherheit; Anm. d. Übers.) geschehen. Ich machte mich zufuß auf den Weg zum Kreiszentrum und war schon bis zum Dorf Lugowoje gelangt, als mir zwei Milizsoldaten auf Pferden entgegenkamen. Sie fragten nach meinem Nachnamen. Nachdem ich geantwortet hatte, schlugen sie vor, mich zu ihnen zu setzen und sagten, daß sie extra hinausgefahren waren, um meinen Konflikt mit dem Direktor zu klären, und sie mich, wenn die Sache geklärt war, auf dem Pferd in die Kreistadt bringen wollten. Ich setzte mich zu ihnen, und wir fuhren nach Kortus. Dort brachten sie mich bis zum Dorfsowjet und legten mir im Arbeitszimmer des Vorsitzenden meinen Haftbefehl vor. Sie nahmen auch noch zwei Zeugen mit, fuhren zu mir nach Hause, führten eine Durchsuchung durch und nahmen mich fest.

Die Mutter begleitete mich bis zur Dorfumzäunung. Sie weinte, ich beruhigte sie und sagte, daß sich alles aufklären würde. Lange winkte sie mir noch hinterher, ich blickte mich nach ihr um und wußte nicht, ob ich sie vielleicht zum letzten Mal sah.

 

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