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Wladimir Worobjew. Späte Rehabilitation

Im Krankenhaus

Ich kam in die Abteilung, wo die an nicht offener Tuberkulose Erkrankten lagen. Behandeln taten sie einen damals im allgemeinen nicht, die Hauptsache war – Ruhe. Wie man damals sagte: „Ein Tag Nichtstun – ein Monat Leben“. Die Verpflegung unterschied sich von der allgemeinen Lagerverpflegung weder in der Qualität, noch in der Quantität. Genau dieselbe Suppe oder Kohlsuppe mit dem Geruch von Fleisch. Wenn sich darin zufällig ein Schnipsel Fleisch befand, dann sagten wir: „Der Sack ist aufgerissen“. Es galt als Witz, daß Fleisch in einem Sack gekocht wurde - die Fettaugen für die Arbeitenden, das Fleisch für die, die nicht körperlich arbeiten mußten. An Fisch gab es hauptsächlich Dorsch, Hering, Makrele, manchmal sogar Omul (ein lachsähnlicher Speisefisch – Anm. d. Übers.). Die Grütze war auch nicht ungewöhnlich – entweder aus Hirse oder Gerste. Erstere wurde im allgemeinen „die Lederne“ genannt, und zwar hauptsächlich von den Häftlingen aus dem Baltikum, die an Gerstengrütze (Perlgraupen) gewöhnt waren. Die Russen nannten sie nicht „die Lederne“, sondern „Gerstenhäcksel“. Abwechslung stand uns hier nicht zu. In den Gesprächen ging es am häufigsten um das Essen. Der eine erinnerte sich an hausgemachten Speck, die Häftlinge aus warmen Regionen dachten an Obst und Gemüse. Für den einen war der Krieg längst vorbei, für andere hatte er niemals angefangen, und für uns hatte er nie geendet – der Krieg ums tägliche Überleben, der von den Straftätern in grober Weise mit dem kurzen Aphorismus „Du stirbst heute und ich – morgen“ zum Ausdruck gebracht wurde. Uns stahlen sie die Ration nicht, aber wenn es solche Fälle gab – dann konnte es auch passieren, daß sie jemanden umbrachten. Im Gegenteil, die Leute tatensich irgendwie in einzelnen Kameradschaften zusammen und halfen sich gegenseitig. Die Gruppierungen entstanden vor allem aus nationalen Gründen und aufgrund der Glaubensbekenntnisse. Russen bildeten selten Gruppen. Man hörte sogar den Sinnspruch: „Die Russen lieben alle Nationen, außer ihre eigene“. So war es auch mit mir, die Nationalität spielte für mich nur eine geringe Rolle, das wichtigste war – um was für einen Menschen es sich handelte. Von den eigentlichen Russen hielt man Abstand, weil es sehr viele unter ihnen gab, die den Kriminellen zugetan waren, weil zu uns, wie ich bereits gesagt habe, Menschen gerieten, die aus Straflagern geflüchtet waren, und sie bekamen den §58-14 (Sabotage).

Ukrainisch war für mich im Grunde genommen die zweite Sprache. Bei uns im Dorf hatte es viele Ukrainer gegeben, mit denen sich sowohl meine Eltern wie auch ich selbst angefreundet hatten. Wir sangen gleichermaßen russische wie ukrainische Lieder. Damals hatte ich eine schöne Stimme, und ich schloß mich häufig ukrainischen Chören an. Die Mehrheit der Ukrainer waren ehemalige Bandera-Anhänger und sie mochten mich. Die Verständigung mit ihnen war anfangs ziemlich schwierig, denn ich kannte hauptsächlich die ostukrainische Mundart – aber diese stammten größtenteils aus der West-Ukraine. Am häufigsten sangen wir „Sapowit“ von Schtschewtschenko, das Lied „Ich sehe in den Himmel und denke nach....“ von Karmeljuk, „Ach, eine Wiese, eine Wiese, eine grüne Wiese ...“. Besonders freundete ich mich mit einem an, den sie „Fürst“ nannten, offensichtlich einer der Anführer der Bandera-Leute.

Die Zeit, der ständige Ernährungsmangel und der tägliche Streß haben viele Vor- und Nachnamen aus dem Gedächtnis gelöscht. Der Stubendienstler aus dem Krankensaal ging auf Gefangenentransport; er brachte mich an seiner Stelle unter. Derjenige, der den Stubendienst versah, war gleichzeitig auch verantwortlich für die Essensausteilung, was einem in der damaligen Zeit große Macht verlieh. Für eine überzählige Schüssel Suppe oder Grütze konnte man sich einen Helfer kaufen und brauchte somit keine schmutzigen Arbeiten, wie zum Beispiel Fußbodenwischen, zu verrichten. Der Boden wurde jeden Tag mit Seife gewaschen und mit einem Ziegelstein gescheuert, denn er war nicht gestrichen. In der Tat war ich nur zehn Tage Stubendienstler. Ich wurde untersucht, für gesund erklärt, im Krankenzimmer abgemeldet und in die Arbeitsbrigade entlassen. Wir gingen zum Zentral-Speicher und luden Lebensmittel und andere Sachen für die an der gesamten Taischetsker Trasse gelegenen Lagerpunkte auf Waggons. Die Brigade bestand aus fünfzehn Mann, und manchmal mußte man zwei Waggons be- oder entladen. Zugegeben, der Lagerarbeiter sparte an uns nicht mit Lebensmitteln, gab uns Makkaroni, Reis, Fisch und Pflanzenöl, und wir selbst verstanden es auch ganz gut, irgendwelche Säcke mit Zucker anzubohren oder wir aßen Grütze, die bereits gesüßt war.

Ich erinnere mich noch, wie ich einmal eine Schachtel Konfekt in den Händen hielt, stolperte, sie fallen ließ und das Konfekt in den Schnee herabprasselte. Die Jungs stürzten los, um die Pralinen aufzusammeln, und der Begleitsoldat schreit: „Schmeißt uns auch was rüber!“ Daraus war erkennbar, daß auch sie kein süßes Leben führten. Die Arbeit war schwer; aufgrund meiner Größe (187 cm) ließ man mich zusammen mit einem Esten Säcke weiterreichen. Du schuftest so sehr, daß du sogar nachts im Schlaf immer noch weiter Säcke schleppst. Was ist das hier schon für eine Erholung! In dieser Briagade war ich etwa einen Monat. Dann rief mich der Bevollmächtigte zu sich und sagte, daß ein Wiederholungstäter mit einer zweiten Vorstrafe in dieser Brigade nichts zu suchen hätte. Dieser ukrainische „Fürst“ brachte mich dann in der Arbeitszone zum Holzhacken in der Bäckerei unter. Ich half Mehl zu transportieren, so daß ich jeden Tag einen Laib frischen Brotes bekam. Neben dem Lebensmittellager, unter dem Vordach, standen Fässer mit eingesalzenen Fischen, vielen von ihnen waren bereits geöffnet. Und so kam es, daß ich damals sogar zunahm. Einmal gehe ich durch die Zone, und da schreit hinte rmir jemand: „He, du Fratze!“ Er holt mich ein und ruft: „Warum antwortest du nicht?“ Und es stellte sich heraus, daß vom Lagerpunkt 033 ein Bekannter hergekommen war. „Sieh mal einer an – dick und rund gefressen hat er sich! Willst du mich nicht wiedererkennen?“ Wir lachten. Eigentlich war ich immer lang und hager gewesen; damals sagten sie: „Dünn, klangvoll und durchsichtig“.

Wie schlecht es auch gewesen sein mag, auch in unserer Straße hielt der Festtag Einzug – Stalin starb. Was war das für ein Jubel! Die Häftlinge lächelten, lachten, freuten sich, die Leitung tobte vor Wut, die Aufseher jagten die Leute, die sich gar zu offensichtlich freuten und steckten sie in den Karzer. Ein Alter, der im Sterben lag freute sich: „Trotzdem habe ich den gemeinen Mistkerl überlebt!“ Alle lebten sie nun in der Erwartung auf irgendwelche Veränderungen. Aber vorerst änderte sich nichts.

Bei meiner Anfahrt aus dem Krankenhaus hatten mich die Jungs gewarnt, daß es besser wäre, nicht zum Lagerounkt 033 zurückzukehren, wo mir die Leitung nicht wohlgesonnen war. Aber es war nicht einfach, an einen anderen Lagerpunkt zu kommen. Vom Krankenhaus wurde man immer dahin zurückgeschickt, wohe rman gekommen war.

 

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