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Wladimir Pomeranzew . In zaristischen und stalinistischen Gefängnissen

Ein richtiges Mittagessen

Aus dem Badehaus wurden wir in die Kantine geführt. Sie befand sich, genau wie das Bad, gleich im Hof, in einem separaten einstöckigen Bau. Die zuvor im Hof ihren Spaziergang gemacht hatten, waren schon nicht mehr da. Wir betraten einen nicht gerade großen Vorraum, wo wir die Mäntel ausziehen und unsere Sachen lassen konnten. Während wir uns auszogen, gelang es uns, uns untereinander ein wenig im Flüsterton zu unterhalten:

- Aber wie ist das mit dem Brot, das wir am Morgen im städtischen Gefängnis bekommen haben? Worin habt ihr es aufbewahrt?

- In einem Tuch ...

- Na, ich auch. Nehmen wir doch das Brot mit in die Kantine.

Die Türen wurden geöffnet, und als erstes strömte uns der Geruch von richtigem menschlichen Essen entgegen. So einen Essensgeruch hatten wir seit unserem Fortgang nicht mehr wahrgenommen – oder, genauer gesagt, seit dem man uns von zu Hause weggebracht hatte. All diese ganzen Monate des Herumirrens in den Gefängnissen, auf den Eisenbahnetappen von Leningrad nach Mariinsk und von Mariinsk nach Tomsk, war der Gestank des Arrestanten-Essens schlimmer geworden, der von den verfaulenden „Fischen“ ausströmte, nach Erdöl oder fauligem Wasser im Zug roch, und dann die schmierigen Kohlblätter – „alles Strünke“, die Balanda - eine trübe Brühe, die flüssige Grütze aus schlecht gewaschenen Graupen – all das hatte uns auf unserem leidvollen Weg begleitet. Bei den abgestumpften und völlig erschöpften Häftlingen rief jede Verschlechterung bei der Versorgung mit Nahrung nicht Protest hervor, sondern vielmehr das Verlangen, große Mengen davon zu essen sowie auch die Erinnerung an bessere Wassersuppen oder schmackhafteren Brei. In dem verplombten Zug dachten wir mit Rührung an das Essen im Leningrader Untersuchungsgefängnis zurück. Eben dieselbe Balanda, die ich schon eine Woche nach der Verhaftung nicht mehr in den Mund nehmen konnte, trugen wir jetzt beinahe wie eine Delikatesse in unserem Gedächtnis. Und von der Leningrader Grütze konnte man einfach nur träumen. Und in diesen Träumen schworen wir uns gegenseitig, das Häftlingsessen zeitlebens nicht aus unserem Gedächtnis zu vergessen. Nach der Freilassung – und daran glaubte jeder der Inhaftierten ganz fest – werden wir zum Gedenken an den Tag unserer Verhaftung unsere Ehefrauen bitten, uns eine Gefängnissuppe und –grütze zu kochen.

Von der tödlichen Hungerration wurden die Häftlinge durch eine Ration Brot gerettet. Wie auch immer die Häftlinge ihre Brotration nannten, aber Brot, einfaches Roggenbrot natürlich, Gott weiß mit welchen Beimischungen, blieb doch ein Brotlein. Sehr verschieden war es, sowohl in seiner Zusammensetzung als auch was den Geschmack betraf, aber es blieb immer unser Hauptnahrungsmittel, unsere Rettung vor dem Tod und unsere Verbindung zu unserem Bauernvolk.

In dem großen, geräumigen Zimmer, welches wir betraten, befanden sich zwanzig mit Wachstüchern bedeckte Tische. An jedem Tisch standen vier Stühle. In den Gewürzständern gab es Salz, Senf und Pfeffer. Der Eßsaal war von der Kantine durch eine Zwischenwand mit einem breiten Fenster zur Essensausgabe abgetrennt. Durch das Fenster konnte man sehen, daß die Küche sich in einem sauberen Zustand befand. Dort arbeiteten Frauen. Anhand ihrer Gesichte konnte man sofort erkennen, daß sie freie Angestellte waren und keine Gefangenen.

Wir setzten uns an den ersten Tisch neben der Tür, wurden jedoch gebeten, uns näher an das Ausgabefenster zu setzen.

- Hier ist es wärmer, - sagte eine der Frauen lachend.

Uns wurde eine volle Schüssel Kohlsuppe gebracht – nicht mit „Kohlstrünken“, sondern mit echtem Kohl, Kartoffeln und sogar einem Stückchen Fleisch. Die Kohlsuppe war mit einer guten hausgemachten Fettschicht überzogen. Dazu gab es ein Stückchen Brot, fast genauso groß, wie die Tagesration der Inhaftierten. Wie konnte das angehen? Wir hatten doch schließlich schon am Morgen unsere tägliche Ration erhalten. Höchstwahrscheinlich wissen die das hier nicht ... Ob man es einfach so nehmen konnte? Nachher nehmen wir es, und dann erfahren sie, daß wir schon etwas erhalten haben und beschuldigen uns des Diebstahls? Wir hatten ja noch zwei Drittel von der Morgenration übrigbehalten. Der Gefängnisaufseher saß weit von uns entfernt, und wir schielten zu ihm hinüber, flüsterten miteinander und entschieden das moralische Problem hinsichtlich der Zulässigkeit eines Brotdiebstahls. Wir saßen vor den dampfenden Schüsseln mit der Kohlsuppe und litten seelische Qualen.

- Was ist das denn? Ihr eßt ja gar nicht, - sprach mit einem erneuten Lachen die liebenswürdige Serviererin durch das Ausgabefenster. Wir sahen uns an: wir hätten ja ganz ehrlich sagen können: „Wir haben fälschlicherweise eine zweite Brotration erhalten“. Aber nein! Der Hunger war stärker als das Gefühl der Ehrlichkeit. Wir sagten nur:

- Die Kohlsuppe ist heiß! – Und dann fingen wir an zu essen. Mein Gott, in meinem Leben habe ich niemals etwas Schmackhafteres gegessen! Wir schlürften die Suppe, bissen kleine Stückchen von dem Brot ab – nein, nicht unseres, das wir in einem Tuch zusammengeschnürt hatten, das noch feucht vom Waschen war, sondern von dem "klammheimlich geklauten". Wir bissen kleine Stückchen davon ab, damit mehr Brot übrigblieb, falls sie es zurückfordern sollten. Das hieß, daß das Gewissen in einem proportionalen Verhältnis zu dem "fremden" Brot stand!

Wir hatten die Kohlsuppe aufgegessen. Mit der Brotkruste putzten sie die Schüsseln so sauber, daß man sie nicht einmal mehr hätte abwaschen müssen. Und dann aßen sie die Brotkanten. Nach dem Bad, schlapp geworden, aufgewärmt von der fetten ECHTEN Kohlsuppe, schwelgten wir nun in Glückseligkeit und mochten uns nirgendwohin bewegen. Aber was war das? Wir bekamen jeder noch zwei Schüsseln voll Hirsegrütze! Offensichtlich blickten wir so fassungslos drein, daß die Serviererin lächelte und ermutigend sagte:

- Eßt, eßt! Wenn nötig gebe ich euch - noch einen Nachschlag! Hirsegrütze mit richtigem Rindfleisch oben auf der Vertiefung. Wir sahen einander an, und ich glaube, ich fing an zu weinen ...

Mit ruhigem Gewissen aßen wir alles auf und leckten sowohl die Schüsseln wie auch unsere Löffel sauber. Um einen weiteren Nachschlag baten wir nicht. Gegen Ende des Mittagessens schoß mir ein Gedanke durch den Kopf: wir haben uns überfuttert, das wird schlecht ausgehen ... Na, und das Brot? Das übriggebliebene Brot nehmen wir mit, und falls sie es bis zum nächsten Morgen nicht zurückverlangen, werden wir es morgen essen. Jetzt müßte man etwas zum Rauchen haben. Der Aufseher trat heran:

- Aufgegessen?

- Ja ... etwas zum Rauchen müßte man haben ... – erdreistete ich mich zu sagen. Und wie ich mich danach wegen dieses elenden - „zum Rauchen müßte man etwas haben“! –verfluchte.

- Gleich gehen wir „in den Block“, dort könnt ihr bei den „Euren“ auch rauchen, sowohl Zigaretten wie auch Papirossi; na los, gehen wir!

Wir sprachen der aus dem Ausgabefenster schauenden lächelnden Serviererin unseren wärmsten Dank aus, suchten unsere Habseligkeiten zusammen und schlichen dem Aufseher hinterher.

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