Die Beschreibungen der Häftlingsinteressen für handwerkliche Tätigkeiten, Blumenzucht, Politik, Geschichte und sogar Philosophie könnten den Eindruck erwecken, daß den Gefangenen zum Nachdenken, für Unterhaltungen und persönliche Beschäftigungen ein beträchtliches Maß an Zeit zur Verfügung stand. Nein, so war es nicht, und so hätte es nach den Absichten der Organisatoren des „Arrestanten-Paradieses“ oder „goldenen Käfigs“, wie das Sonder-Gefängnis manchmal genannt wurde, auch gar nicht sein dürfen. Ein Häftling sollte sich vor allem ununterbrochen der Tatsache bewußt sein und am eigenen Leib erfahren, daß er sich in einer rechtlosen und isolierten Lage befand. Auf dem Hintergrund dieses Sklavenzustandes war ihm die Möglichkeit gegeben, sein Schicksal bei der Arbeit durch seine speziellen beruflichen Fähigkeiten oder zumindest solche, die dieser Qualifikation nahe kamen, etwas leichter zu machen. Von der Idee her beabsichtigte man damit, daß der Grad des Arbeitseifers eines Arrestanten von dem Maß der Erleichterungen abhing, jedoch nicht von einer etwaigen Entlassung. Diejenigen, die in den „goldenen Käfig“ geraten waren, sollten wissen oder wenigstens erraten können, daß es aus dem Käfig kein Entrinnen gab. Selbst wenn sie für ihren großen Fleiß in die Freiheit entlassen worden wären, hätte diese Freiheit nur lebenslange Verbannung oder das "Annieten" an den „goldenen Käfig“ sein können, aber bereits von seiner anderen Seite. Der Häftling hatte für immer die Freiheit verloren, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Dieser ununterbrochene Zustand wurde vor allen Dingen durch das Regime des Arbeitstages unterstützt. Zu Kriegszeiten betrug die Arbeitszeit im Büro, ohne Berücksichtigung der Pausen für die Essenseinnahme, 11 Stunden. Nach Kriegsende wurde die abendliche Arbeit abgeschafft, und ein Arbeitstag umfaßte nur noch neun Stunden. An Sonntagen wurde in der Regel im Büro nicht gearbeitet. Und so nutzten die Inhaftierten sonntags oder während der täglichen Spaziergänge – morgens, zur Mittagszeit und abends – auch ihre handwerklichen und geistigen Fähigkeiten für die Beschäftigung mit persönlichen Dingen. Natürlich gelang es mitunter auch, das eine oder andere Stündchen von der offiziellen Arbeitszeit für seine eigenen Angelegenheiten abzuzweigen, aber dafür mußte man die Kunst des „Verdunkelns“ beherrschen und wissen, wie man es anstellt, den Eindruck zu erwecken, als ob man arbeitete und auch tatsächlich die von der Leitung erwarteten Resultate fristgerecht zustande brachte.
Die Arbeitsdisziplin wurde durch die Gefängnisaufseher aufrechterhalten, die ein wachsames Auge darauf warfen, daß die tägliche Arbeitsordnung eingehalten wurde, und im Büro selbst – durch Offiziere der Staatssicherheit und einem System von Leitern aus den Reihen der Arrestanten. Die Offiziere hatten das Amt von Abteilungsleitern inne, die den stellvertretenden Leitern und den Leitern der Büros unterstellt waren, welche den Rang von Offizieren und Unteroffizieren innehatten. Jede Abteilung bestand aus mehreren Gruppen, die sich wiederum in Brigaden aufteilten. An der Spitze standen Arrestanten, die eine gewisse Qualifikation besaßen..
Solche Sonderbüro-Haftanstalten, die Sonderkonstruktions- oder Sondertechnische Büros genannt wurden, standen unter der Leitung einer speziellen NKWD-Abteilung oder des MWD. Für jedes Büro wurde ein bestimmter Produktionsplan festgesetzt, der dann in den Abteilungen, Gruppen und Brigaden umgesetzt wurde. Mit einem Wort, von den betriebswirtschaftlichen Aktivitäten her unterschieden sich diese Büros von der Form her in keiner Weise von denen in der Industrie oder bei den Militätbehörden.
Worum ging es? Welche Ansprüche konnte man sowohl in Bezug auf die Dauer eines Arbeitstages, als vor allem auch an die Organisation der Arbeit an sich stellen? Man darf nicht vergessen, daß Krieg herrschte. Und zu Kriegszeiten war auch im Hinterland das Leben und die Versorgung mit Nahrung um ein Vielfaches schlechter, als bei den Häftlingen. Und auch der Arbeitsalltag war nicht kürzer: viele kamen dort im Hinterland wochenlang nicht aus den Fabriken heraus – sie arbeiteten, aßen und schliefen dort. Ich habe bereits von Fällen erzählt, als die „Halbtoten“, die ins Gefängnis geraten waren, anfingen zu genesen und wieder ein menschliches Aussehen annahmen. Und viele in Freiheit Lebende, wenn man ihre häuslichen Sorgen, die Quälereien mit dem Transport zur Arbeit und von dort wieder nach Hause, den Hunger, die kräftezehrende Arbeit, die Todesangst vor Bombardierungen – wenn man das alles mit der Lage der Arrestanten vergleicht, die von den Wachen versorgt wurden, mit dem Essen (selbst wenn es schlecht war, aber es gab wenigstens ständig etwas), mit der Möglichkeit, „frei von Kriegsängsten“ zu leben, dann wurde nicht ohne Grund gesagt: „ihr habt euch versteckt, wartet in Sicherheit den Krieg ab“, und vielleicht haben sie die Gefangenen sogar beneidet.
Aber es reichte schon, daß die "Freien" sich unter Haftandrohung befanden oder nur über die bloße Möglichkeit eines Arrestes nachdachten, zum Beispiel, wenn bereits der Ehemann oder der Bruder verhaftet worden waren, so daß jeglicher Neid auf das Häftlingsleben sofort verschwand und außer dem Schrecken vor einer solchen Möglichkeit in den Seelen der „Freien“ nichts anderes zurückblieb. Alles andere – schwere Arbeit, Hunger, Tod an der Front oder durch Bomben im Hinterland, aber bloß nichts in Gefängnis! Das hieß, es ging nicht um die Regelmäßigkeit der Verpflegung und das Arbeitsregime, nicht um die Organisation der Arbeit und festgesetzte Aufgaben und auch nicht um das Gefühl von Sicherheit.
Es ging vielmehr um den Übergang des Menschen in einen neuen psychologischen Zustand. Man darf nicht nur an die völlige Gleichheit der Lebensbedingungen, der Verpflegung und der Arbeit denken, sondern sollte auch die Vorrechte im Vergleich mit der „Freiheit“ wiederfinden, und dann wird sich die Psychologie des „Freien“ prinzipiell von der des Häftlings unterscheiden. Ein OKB-Gefangener wird niemals zum Gegenstand des Neides eines „Freien“, selbst wenn erstgenannter Restaurant-Verpflegung erhält und der zweite
nur die erbärmlichen Eßwaren, die ein Beamter auf Lebensmittel-Marken bekommt. Dieser Unterschied kann mit einem Wort erklärt und definiert werden: Sklave.
Und im freien Leben gibt es für den sowjetischen Bürger nicht sehr viele Stufen der Freiheit. Man müßte wenigstens anfangen, vom Zustand her ein Bürger zu sein. Die bürgerlichen Rechte des Menschen sind gesetzlich gebunden. Aber der Mensch selbst kann und, was viel häufiger der Fall ist, weiß auch gar nicht, wie er die ihm gewährten Rechte nutzen soll. Nicht so groß ist die Bewegungsfreiheit beim „freien“ Bürger: innerhalb der Stadt oder des Dorfes geht es gerade noch, aber wenn man in eine andere Stadt oder erst recht vom Dorf in eine Stadt umziehen will – das ist praktisch nicht nur aus Mangel an materiellen Mitteln unmöglich, sondern für den Kolchosbauern auch strafrechtlich verboten. Die ganz kleine Freiheit der Arbeitsplatzwahl - aber denjenigen, die gerade die Schule beendet haben, wird diese Freiheit direkt entzogen – fahr dorthin, wohin sie dich schicken. Bei der niedrigen materiellen Sicherstellung und der allgemeinen Standardmäßigkeit bezüglich Verpflegung, Wohnstätten, Freizeit- und Erholungsorten gibt es auch fast keine Möglichkeit einer freien Wahl.
Von diesen Stufen der Freiheit gibt es bei jedem Freien ein paar kleine Stückchen, aber sie sind wenigstens real vorhanden, und er weiß ganz genau, daß er sich diese Krümelchen immer und in jeder Minute zunutze machen kann, selbst wenn er sich damit schadet. Man kann frei um die Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz bitten, eine bessere Wohnung (besser gesagt - ein Zimmer) gegen ein schlechteres eintauschen, was dafür aber näher an der Arbeitsstelle gelegen ist; man kann nach freiem Ermessen drei Tage hungern und dann drei ganze Brotrationen auf einmal essen ... In Freiheit gehört er in all diesen Dingen sich selbst. Diese Zugehörigkeit zu sich selbst fehlt dem Häftling. In der Zelle oder im Büro hat er sogleich für gute Beziehungen mit den anderen Arrestanten gesorgt, in der Zelle einen Platz am Fenster oder auf einer der unteren „Wagonki“ (Pritschen; Anm. d. Übers.) erhalten – und plötzlich ertönt es:
- Buchstabe P? Wie ist der Nachname? Rauskommen und die Sachen mitnehmen ...
Wohin? Was? Weshalb? Unnütze Fragen. Er ist – ein Sklave, auch ihn behandelt man wie eine Sache, und er und seine Habseligkeiten werden von einem Gefängnis ins andere transportiert, zum Ermittlungsverfahren oder zum Neuaufrollen des Falles oder an einen neuen Arbeitsplatz, den irgend jemand braucht - nur er selbst nicht.
Das Bewußtsein über sein Sklavendasein verläßt den Gefangenen nicht für eine einzige Minute. Dieses unheilbringende Bewußtsein nagt von Tag zu Tag mehr an seinen körperlichen, aber was noch viel schlimmer ist, an seinen seelischen Kräften. Es entwickelt sich eine maßlose Empfindlichkeit, Mißtrauen, Argwohn oder, für ihn selbst ganz unerwartet, eine naive und übermäßige Leichtgläubigkeit; Wutausbrüche und Aufregungen wechseln sich ab mit Anfällen von Melancholie. Und allen muß das bloße Bewußtsein genügen: ich bin ein Sklave, ein Sklave, ein Sklave.
Qualvoll möchte er im Schlaf, bei der Arbeit, bei seiner handwerklichen Beschäftigung Vergessen suchen, damit er dem Gefühl der Unwirklichkeit und Phantasterei des Realen entgehen und an die Realität der unwirklichen Welt glauben kann. Und eben daraus ergibt sich sein Verlangen zu arbeiten. Und so kommt es auch, daß die körperliche Erschöpfung von mechanischen Tätigkeiten in den Besserungsarbeitslagern eine gewisse Erleichterung für die Arrestanten mit sich bringt, besonders bei den Angehörigen der Intelligenzia. Die geistige Arbeit in den Sonder-Gefängnissen ist sauberer, leichter und natürlicher für die Intelligenten, aber diese Art von Tätigkeit birgt größere seelische Foltern in sich als körperliche Arbeit. Dort, in der Holzfällerei, sofern der Häftlinge nicht irgendwelche organischen Unzulänglichkeiten hat und sich nicht durch die Ermittlungsverfahren und die Etappen im Zustand eines „Halbverhungerten“ befindet, dann kann sogar eine Intelligenzler sowohl seinen Körper als auch seine Seele festigen. Auf jedenfalls existiert eine solche Chance. Und im Sonder-Gefängnis versinkt er nach und nach in einen Zustand der Unterdrückung, Furcht vor seinem eigenen Schatten, Geistesabwesenheit.
Während des Freigangs unterhalten sich zwei aufgrund ihres Alters verdiente und ehrwürdige Arrestanten-Professoren mit Begeisterung und Leidenschaft über die höchste Materie aus dem Gebiet der Zahlentheorien. Wie angenehm ist es, ein wenig abseits zu stehen und ihre gewichtigen Gestalten, die bedächtigen Gesten der Überzeugung anzusehen, welche die Wichtigkeit der Neigung eines Gebäudes bei einem Aufstand von Gegnern unterstreichen sollen. Und da kommt ihnen hinter einer Biegung des Gefängnis-Gebäudes ein Aufseher entgegen, nun - einfach ein ganz gewöhnlicher „Sirik“ - in der Sprache der OKB-Insassen
Und durch die Körperhaltungen der hochgelobten Professoren entsteht eine augenblickliche Metamorphose. Beide treten eilig zur Seite, verneigen sich in kriecherischer Art und Weise – und die Geschmeichelten lächeln. Pfui! Was ist das für eine Niederträchtigkeit! Und wenn man sie vor dieser Begegnung reden hört, tun sie sich wichtig und aufgeblasen! Einen der beiden kannte ich noch aus dem Institut: ein hervorragender Pädagoge, begeisterter Lektor und sogar mit einer ganz zivilen Note bei der Darstellung ... der Mengenlehre.
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