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Wladimir Pomeranzew . In zaristischen und stalinistischen Gefängnissen

Was bedeutet das eigentlich – Zwangsarbeit?

Kann es denn eine beliebige Arbeit ohne Zwang geben? Ja, und zwar jede beliebige Arbeit, die unter Zwang geleistet wird. Aber es ist etwas ganz anderes, ob ein Mensch sich selbst aufgrund seines eigenen inneren Antriebs zu etwas zwingt, zum Beispiel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse – oder ob ein Mensch zur Arbeit gezwungen wird, wobei er selbst aber weder den Wunsch nach dieser Zwangsarbeit noch nach deren Resultaten hegt.

Zu einer beliebigen Arbeit wird der Mensch von seinem persönlichen Streben oder den Bestrebungen anderer Leute angetrieben. Im ersten Fall halten wir die Arbeit für frei und unabhängig, obwohl sich eigentlich in ihr auch Elemente eines gewissen Zwanges befinden. Im zweiten Fall, sofern die Bedürfnisse anderer Menschen nicht zumindest indirekt mit dem persönlichen Wunsch oder dem Streben der Person selbst zusammenhängen, nennen wir die Arbeit für andere Zwangsarbeit.

Die wohl absoluteste Form freier Arbeit – das ist die Arbeit, die man unmittelbar für sich selber macht, zum Beispiel, die Feldarbeit, weil man daraus die Feldfrüchte für seinen eigenen Lebensunterhalt erhält. In dieser Form findet sich praktisch keine freie Arbeit oder aber sie besteht zu einem geringfügigen Prozentsatz aus der gemeinsamen Arbeit mehrerer Menschen. Die Kompliziertheit der Wechselbeziehungen zwischen Menschen und Sachen, die mit der Vervollkommnung der menschlichen Zivilisation entstanden ist, hat der heutigen freien Arbeit eine Form der Arbeit für die Befriedigung der eigenen Wünsche durch Arbeit hinzugefügt, und diese Arbeit hängt eben mit der Arbeit anderer Menschen zusammen. Aber das wesentliche Unterscheidungsmerkmal freier Arbeit bleibt auch bei dieser Form, daß die Ergebnisse der Arbeit auf die Befriedigung der Wünsche der Werktätigen ausgerichtet sind. Bei freier Arbeit kann der Mensch die Ergebnisse seiner Arbeit (am häufgsten ist dies das verdiente Geld) nutzen, und zwar nach seinem eigenen Gutdünken – zur Befriedigung irgendwelcher Wünsche oder zur Befriedigung all seiner Wünsche in den von ihm gewünschten Proportionen. Und somit ist freie Arbeit – Arbeit, die man für sich selbst macht.

Zwangsarbeit ist jeglicher Elemente von persönlicher Interessiertheit des Menschen an den Resultaten der Arbeit beraubt - oder zumindest fast. Er müht sich nicht für sich selbst ab, sondern für andere. Mehr noch, er ist gezwungen eben für andere zu arbeiten und kann diese Zwangssituation nicht durch seinen eigenen Willen abändern. Einen solchen Zustand nimmt der Mensch als Sklavendasein wahr.

Beliebige Formen der Arbeit bringen materielle oder geistige Ergebnisse. Dies Ergebnisse machen sich entweder Einzelpersonen für ihre persönichen Ziele oder die Gesellschaft für öffentliche Zwecke zunutze. Die Resultate einer freien Arbeit sind immer positiv. sowohl für die Einzelperson als auch für die Gesellschaft. Die Ergebnisse von Zwangsarbeit können für die Zwangsarbeit leistende Person nicht positiv sein. Für die Gesellschaft mag sie vielleicht positiv bewertet werden, aber auch nur ihre materiellen Ergebnisse. Positive, öffentliche, geistige Resultate finden sich bei der Zwangsarbeit außerordentlich selten. Allgemein bekannte Ergebnisse von Zwangsarbeit - das sind Denkmäler der Sklavenhalter-Gesellschaft. In unserer Zeit sind das - Denkmäler der Arbeit von Kriegsgefangenen und Häftlingen, bei uns - all diese Weißmeer-Kanäle, Wasserkraftwerke, Hauptverkehrslinien für den Auto- und Bahntransport und ähnliches mehr. Die positive Seite der Ergebnisse von Sklavenarbeit für die Gesellschaft liegt auf der Hand: die Gesellschaft entwickelt in Form dieser Resultate die Produktivkräfte des Landes, festigt ihren materiellen Wohlstand und erhöht durch diesen Zuwachs an gesellschaftlichen Wohlstand auch den Wohlstand der Einzelpersonen. In dem Zeitraum der Schaffung dieser Ergebnisse von Zwangsarbeit wird die amoralische Seite dieser Ergebnisse nicht nur für die schuftenden Gefangenen offensichtlich, sondern für alle bewußt lebenden Bürger des Landes. Aber sobald eine gewisse Zeit vergangen ist, dann vergessen die Leute, und sogar ehemalige Gefangene, wieder, durch welche Schwerstarbeit sie die erhabenen, großartigen Gebäude und Anlagen geschaffen haben und fangen an, darüber in Entzücken zu geratenund sogar stolz darauf zu sein. Darin liegt die ganze Tragik der Zwangsarbeit - sie wird nur von jenen verflucht, die sie ausführen müssen, und auch nur während des Zeitraumes, in dem sie sie leisten. Aber allein das macht die Zwangsarbeit nicht anziehend und darf weder von den Menschen noch von der Geschichte gerechtfertigt werden.

Die Gechichte kann nur die unvermeidliche Entstehung von Zwangsarbeit erklären. Besonders offensichtlich ist diese Erklärung für die Geschichte Rußlands. Der russische Nationalcharakter formierte sich im Verlaufe vieler hundert Jahre unter den Bedingungen von militärischen Lagern, kriegerischen Feldzügen und Kriegen. Ständig wurden wir vom Osten oder Westen bedroht, und auch wir bedrohten unaufhörlich mal unsere Nachbarn im Osten, mal die im Westen. Die russische Gesellschaft war stets den Erfordernissen von kriegerischen Auseinandersetzungen angepaßt, und das Heer ist auch die am weitesten verbreitete Form der Zwangsarbeit. Wenn die Truppen nicht gerade zu ihrer ureigensten Bestimmung benötigt wurden, dann hat man sie in der Regel für öffentliche Zwangsarbeiten verwendet: auf diese Weise wurde der Moskauer Kreml und Grenzstädte errichtet, so entstanden Petersburg und Odessa, Smolensk und Krasnojarsk, despotisch-diktatorisch gelenkte Militärsiedlungen, Paläste, Klöster und sogar Tempel ... Daher war es historisch gesehen vollkommen natürlich, im Jahre 1929 eine umfassende Kollektivisierung durchzuführen, welche von einigen Leuten "die zweite sozialistische Revolution", "das Jahr des großen Umbruchs" genannt wurde, um das Volk tatsächlich mit Hilfe von Zwangsarbeit zu zerbrechen und zugrunde zu richten. Das war insofern um so natürlicher, als sich die theoretische Idee von der permanenten Revolution bestätigte und auch deswegen, weil gerade ein erbitterter Klasenkampf im Gange war. Die Klassenfeinde waren "legale" Kriegsgefangene, die man zunächst einmal für ihre eigene Verpflegung zur Arbeit zwingen mußte. Nun, und die letzten Ausbrüche oder "Aufschwünge" des Klassenkampfes in den Jahren 1934, 1937, 1941 und 1949 stellten die naturgemäße Fortsetzung der permanenten Revolution, die praktische Begründung der Stalinschen Theorie der Zunahme des Klassenkampfes in der Periode des Aufbaus der klassenlosen Gesellschaft dar. So entstand das ausgedehnte Imperium des NKWD-KGB-MWD mit einem riesigen Netz von Gefängnissen und Lagern, unter denen sich Orte und Sonder-Gefängnisse zur Ausnutzung der Zwangsarbeit von Angehörigen der Intelligenz (Wissenschaftler und Ingenieure) befanden.

Und was ist mit diesen "goldenen Käfigen"? Lassen sie sich rechtfertigen? Vom Standpunkt der materiellen Ergebnisse gesehen haben sie sich zweifellos gelohnt. Die Sonder-Gefängnisse militärischer Bestimmung haben der Rüstung nicht nur eine "Maschine" geliefert, wie man die Erzeugnise der Sonder-Büros zu nennen pflegte. Und um den Erfindergeist der Arrestanten zu stimulieren, wurde ein System der anspornende Belohnungen oder "Mohrrüben" eingeführt, wie die OKB-ler es ausdrückten. Dies nach § 58 verurteilten Häftlinge waren auf Befehl typische Kaninchen, na ja, und für Kaninchen ist doch eine Mohrrübe die größte Belohnung. Für diese Art vo Ansporn wurden zusätzliche Verpflegungs-gutscheine, differenzierte Mittagsgerichte je nach Dienstrang, das Recht auf zusätzliche Briefe oder Wiedersehen mit Verwandten, die Anrechnung von Arbeitstagen, welche die Haftdauer verkürzten und schließlich die vorzeitige Entlassung eingeführt.

In diesen anspornenden Belohnungen gab es kein System, keine Reglementierungen, keine Ordnung. Die Inhaftierten wußten zumindest nicht, weshalb, wie und nach welcher Norm oder aufgrund welcher Verhältnisse sie wieder eine "Mohrrübe" erhielten. Alles gründete sich auf Willkür: die Belohnungen bekamen sowohl Lieberdiener als auch offensichtliche "Klopfer" (Informanten; Anm. d. Übers.), aber auch hochqualifizierte Spezialisten. Es gab Fälle von vorzeitiger Freilassung bei den Leitern der "Maschinen"-Projekte, den wahren Neuerern moderner Kriegstechnik; aber es gab auch Arrestanten mit großen wissenschaftlichen Kenntnissen, die keine geringe Mühe und viel Herz in diese prämierten "Maschinen" eingebracht hatten, die jedoch nicht freigelassen wurden, sondern sogar noch eine Verlängerung ihre Haftzeit erhielten.

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