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Wladimir Pomeranzew. In zaristischen und stalinistischen Gefängnissen

Die Folgen der Zwangsarbeit

Um zu der Frage über die Effektivität von Zwangsarbeit zurückzukehren, ist es unerläßlich, ein interessantes Paradoxon anzumerken: die Effektivität der freien Arbeit im Sonderbüro war niedriger, als der Nutzeffekt, der durch die Zwangsarbeit entstand. Die Abteilungsleiter, die sich aus freien Mitarbeitern zusammensetzten, in der Regel waren es Offiziere, waren schlecht qualifiziert und achteten schlecht auf die Einhaltung der Arbeitsdisziplin; bisweilen waren sie schlechtweg Müßiggänger. Aber als dann die freigelassenen Häftlinge als Freie zum Arbeiten in den Sonder-Büros blieben, da wurde auch in diesem Fall ihre Arbeit weniger effektiv, als sie während ihrer Häftlingszeit gewesen war. Woran lag das? Die Zwangsarbeit der Häftlinge verdarb die freie Mitarbeiterschaft. Die sogenannten "Freien" aus den Reihen der ehemaligen Häftlinge kamen in eine Lage, ähnlich der eines Gefängnisaufsehers, der seine früheren Kollegen beaufsichtigt. Er erwarb sich das ungeschriebene Gesetz, die ihm unterstellten Häftlinge dazu zu zwingen, für ihn zu arbeiten, und er konnte die Arbei der Unfreien für die seine ausgeben. Und dergestalt sahen die demoralisierenden Folgen der Zwangsarbeit aus.

Nach den Arrestanten selbst werden als nächstes ihre in Freiheit lebenden Angehörigen zu den Leidtragenden: Eltern, Ehefrauen, Kinder und andere nahestehende Verwandte. Ihr Seelenleben wird nicht nur durch die Erinnerungen an das unmittelbar Durchgemachte niedergedrückt, sondern auch durch die Angst um sich selbst und andere Familienangehörige.

Sie leben unter der ständigen Androhung von Repressalien. Wenn sich in der Stalin-Epoche die Zahl der Inhaftierten, nehmen wir mal an, auf eine Million belief, so wurden mindestens fünf Millionen in die Sphäre der psychischen Depressionen hineingerissen. Der gedrückte Seelenzustand, die Furcht vor Denunziationen, Verhaftung, Mißtrauen gegenüber den Menschen in der näheren Umgebung – all das konnte weder zum Wohlergehen im ganz persönlichen, noch im familiären oder Arbeitsleben beitragen. Und diese Ängste waren nicht gekünstelt, sondern ganz natürlich, begründet und gerechtfertigt durch die alltäglichen Repressionen: heute holen sie in der Nacht den Nachbarn von zuhause fort, einen Monat später die Ehefrau, nach einer Woche bringen sie die hinterbliebenen und verwahrlosten Kinder ins Kinderheim. In den Gefängnissen und während der Gefangenentransporte begegnete ich jenen, die nun unter ihren sogenannten „Freunden“, Arbeitskollegen und sogar Ehefrauen leiden mußten. Ein Geschichtslehrer erfuhr während des Ermittlungsverfahrens, daß seine Ehefrau, von Beruf Journalistin, ihn schon fast von der Hochzeitsnacht an denunziert hatte.

Die negativen Folgen von Zwangsarbeit und Repressalien zeigten sich nicht nur im Familienkreis, sondern auch im Berufsleben. Erst gestern noch haben sie irgendeine Persönlichkeit auf dem Gebiet des öffentlichen Lebens als Musterbeispiel hingestellt und die Auszeichnung durch die Regierung gefeiert, und heute erfahren alle, daß er als Volksfeind verhaftet worden ist. Es wird eine allgemeine Sondersitzung der Mitarbeiter der Behörde einberufen, bei der der Verhaftete gearbeitet hat, vereidigte Redner werfen den Opfern

schreckliche Beschuldigungen an den Kopf, in der Regel Verrat an Vaterland und Revolution. Auf ähnlichen Versammlungen waren alle gezwungen zu erscheinen; bei Nichterscheinen wurde strenge Rechenschaft von ihnen gefordert und äußerst ausführliche Erklärungen für die Gründe der Abwesenheit verlangt. Die Anwesenden stimmten auf den Sitzungen einstimmig für eine bereits vorher vorbereitete Resolution ab, welche den Volksfeind verfluchte und zu erhöhter Wachsamkeit aufrief. Alle, die das Repressionsopfer näher gekannt hatten, befragten sich nach und nach heimlich über die Gründe der Katastrophe, fanden jedoch keine glaubwürdige Antwort. Für den Gipfel der bürgerlichen Tapferkeit konnte es gehalten werden, wenn in solch einer Unterhaltung die Gesprächspartner schweigend die Hände über dem Kopf zusammenschlugen und eilig auseinanderliefen.

Besonders fiel einem auch ins Auge, wie zielgerichtet die Repressalien waren – nämlich die ihr ausgelieferten Menschen in allen Bereichen des Lebens zu vernichten: in der Politik, in der Gewerkschaftsbewegung, in der Industrie, den höheren Schulen, der Wissenschaft. So ein Aderlaß verursachte zweifellos, einen riesigen Schaden in der gesamten Volkswirtschaft und beim Volk im allgemeinen. Die Folgen des Terrors waren breiter und tiefer, als die, die aus dem einmaligen Schlag des äußeren Feindes entstanden sind. Er zerstörte im Volk den gesamten gewohnten Gang des gesellschaftlichen Lebens, führte das widernatürliche System

aufgezwungener Produktionsaktivitäten ein, und damit war der Niedergang der Arbeitsproduktivität im ganzen Lande vorherbestimmt. Der systematische Rückgang des Wachstumstempos beim gesamten Sozialprodukt und beim Volkseinkommen, wie es sich ab den 1930er Jahren beobachten läßt, ist eine direkte Folge der Zwangsarbeit und der mit ihr verbundenen Maßnahmen.

Die normale Produktionsaktivität des Volkes vollzieht sich ungefähr nach folgendem Schema:

eine beliebige Produktion ensteht aus den Quellen der Gesellschaft – in den unteren Formierungen des Handwerks, der Industrie, der Landwirtschaft. Nachdem diese niedere Grundtätigkeit integriert worden ist, bildet sich ein Überbau in der Art einer Vereinigung heraus – Kooperativ-Genossenschaften, Trusts, Syndikate, Industriezweige, Ministerien und schließlich die Regierung mit ihnen Planungsorganen. Das normale Ziel der Tätigkeit dieser Vereinigungen ist es, eine gleichförmige, nicht krisenanfälligen Entwicklung bei den niederen Produktionsaktivitäten zu unterstützen. Diese Unterstützung kommt durch

Maßnahmen in Form von Empfehlungen, und in unabdingbaren Fällen, durch Direktiven zustande, die folglich von oben nach unten gehen. Nachdem die Direktiven bis nach unten durchgedrungen sind, machen sie Veränderungen durch, in ihr Leben werden Verbesserungsvorschläge eingebracht, aber ebenso ändern sich auch die Aktivitäten auf der niederen Ebene unter der Einwirkung vernünftiger Direktiven und Empfehlungen. Die veränderte Tätigkeit auf niedriger Ebene wird erneut integriert, bringt erneut Präzisierungen in den Aktivitäten des Überbaus zustande, und der ganze Zyklus wiederholt sich noch einmal. So soll der natürliche Prozeß der Produktionsaktivitäten des Volkes verlaufen, der ihm eine vollwertige und optimale Arbeitsproduktivität garantiert, die wiederum mit ihren Resultaten die lebhafte Entwicklung des Volkes sicherstellt, in dem es seine Hauptbedürfnisse befriedigt – die Entwicklung der Art und des Individuums. Bei der weitverbreiteten Zwangsarbeit wird das beschriebene Schema zerstört, vor allem, an der Basis und beim Lenken der Produktionstätigkeit: sie entsteht nicht in den unteren Formierungen des Volkes, sondern in den bürokratischen oberen Etagen, die sich das Recht herausgenommen haben, für das Volk Richtung, Inhalt, Umfang und Qualität seiner Aktivitäten zu entscheiden. Das Recht, ohne Mitwirkung des Volkes über dessen Schicksal zu entscheiden, beinhaltet auch die Idee von der Zwangsarbeit. Obwohl bei uns viele nach einer Initiative der Massen, nach Planmaßnahmen von unten, u.ä. schreien, sind dies tatsächlich alles nur leere Worte, um die unkontrollierte, bürokratische Eigenmächtigkeit von oben zu verdecken, d.h. eine noch schlimmere Form der Zwangsarbeit, die sich auf Willkür gründet.

Als beste Illustration erweisen sich die ununterbrochenen Umorganisationen der Verwaltung durch die Volkswirtschaft, die sie aufrüttelten und auflockerten. Es entsteht keine wissenschaftliche (nach der die dummen „klugen Köpfe“ am meisten schreien) Integration der Volksinitiativen, sondern vielmehr ihre Unterdrückung durch bloße Amtsstuben-Schemen, die zur Verwirklichung lebensfremder und lebloser Ideen entstanden sind. Auf allen Stufen der Wirtschaftshierarchie wird sich vor allem um die Befriedigung der Anforderungen von oben gesorgt, d.h. vor allen Dingen wird die Zwangserfüllung von Direktiven verwirklicht. Unten angekommen, befruchten diese lebensfremden, bürokratischen Direktiven die Initiative nicht, sondern verunstalten sie und machen sie ungültig. Dieses so entstandene Durcheinander aus Leben und Direktiven ganz minimal nach oben zu dringen. Aber auch auf diesem Weg formt sich die Information von unten mit allen Kräften, vielfach sogar gezwungenermaßen, und wird, um den „äußeren Schein“ zu wahren, verfälscht. Das oben angekommene verallgemeinerte Material kann natürlich nicht in nützlicher Weise den Ausgangspunkt für die Formierung vernünftiger Empfehlungen dienen. Im Gegenteil, dort oben sehen sie sehr gut das Fehlen einer zuverlässiger Statistik, und dadurch festigen sie auch in erheblichem Maße die Notwendigkeit von Zwangsmaßnahmen zur „Verbesserung“, „mit dem Ziel einer künftigen Verbesserung, künftigen Erhöhung und künftigen Entwicklung“, usw., usf.

So führt die Zwangsarbeit einerseits zu einer ununterbrochenen Zunahme der Bürokratisierung in den volkswirtschaftlichen Aktivitäten, zum anderen – zu einer unaufhörlichen Unterdrückung echter wirtschaftlicher Initiativen an der Basis. Die Bürokratisierung wuchert ungehindert, wie ein Krebsgeschwür, im Volksorganismus, und läßt ihn nicht nur absterben, sondern entzieht ihm auch das Verständnis für diejenigen, die sich das Zwangssystem ausgedacht haben.

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